Impfen – Ausweg aus der Pandemie?

In frühen Phasen der Impfstoffstudien wurden gezielt Menschen eingeschlossen, die bereits eine Infektion durchgemacht hatten. Es hat sich herausgestellt, dass es keinerlei schädliche Wirkung hat, wenn ehemals Infizierte den Impfstoff bekommen, sagt Michael Hölscher, Leiter der Abteilung für Infektions- und Tropenmedizin an der Universität München. Eine andere Frage ist, ob es angesichts der Impfstoff-Knappheit sinnvoll ist, diese Menschen zu impfen. Deutschlands Impfstrategie sieht derzeit nicht vor, den Infektionsstatus vor der Immunisierung zu erfassen; dies würde die Verabreichung der Spritzen aufwendiger und komplizierter machen. Hölscher rät jedoch: Menschen, die sicher wissen, dass sie sich schon einmal mit Sars-CoV-2 angesteckt haben, können sich freiwillig weiter hinten auf die Prioritätenliste setzen lassen. Ihr natürlicher Schutz sollte im ersten Jahr nach der Infektion so gut sein, dass eine Impfung noch nicht nötig ist. 

Es ist mittlerweile gut belegt, dass die meisten Kinder sehr viel mildere Covid-Verläufe haben als Erwachsene. Dies ist sicher einer der Gründe, warum Kinder in der Impfstoffentwicklung keinen Vorrang haben, sagt Johannes Hübner, stellvertretender Klinikdirektor am Haunerschen Kinderspital der Universität München. Hinzu kommt, dass neue Medikamente und Impfstoffe in der Regel zuerst an Erwachsenen getestet und für diese zugelassen werden. Dies dient der Sicherheit, hat aber auch praktische Gründe. Kinder gewinnt man schwerer für die Teilnahme an klinischen Studien – vor allem, wenn noch wenig über das zu testende Produkt bekannt ist. Mittlerweile aber haben Studien begonnen, die auch Kinder einschließen. Biontech und sein Partner Pfizer testen zum Beispiel ihren Impfstoff an jungen Menschen ab dem zwölften Lebensjahr. „Wir sind also auf einem guten Weg“, sagt Hübner. Denn es gibt eben auch Kinder, die den Schutz vor einer Covid-Erkrankung dringend benötigen; dazu gehören beispielsweise kleine Patienten mit angeborenen Lungenerkrankungen oder neurologischen Leiden.

Die Covid-Impfung wird bislang nicht für Schwangere empfohlen. Wie für Kinder gilt auch für werdende Mütter, dass die Impfstoffe an ihnen bisher nicht ausreichend untersucht sind. „Frauen mit Kinderwunsch haben dagegen keinen Grund, auf die Impfung zu verzichten“, sagt Ulrike Protzer, Direktorin des Instituts für Virologie an der TU München. Es gebe keine Hinweise, dass die Vakzine später einmal Probleme während der Schwangerschaft bereiten könnten. Sorgen hatten Berichte ausgelöst, wonach sich die nach der Impfung gebildeten Antikörper nicht nur gegen das Stacheleiweiß des Coronavirus richten könnten, sondern auch gegen ein Protein in der Plazenta, da beide Proteine entfernte Ähnlichkeit haben. Die Virologin aber hält dieses Szenario nicht für biologisch plausibel; die beiden Proteine unterscheiden sich zu sehr. Auch epidemiologische Daten sprechen nicht für spätere Schwangerschaftsprobleme. Denn nach einer natürlichen Infektion werden die gleichen Antikörper gebildet wie nach einer Impfung. Und es gibt keine Hinweise darauf, dass ehemals infizierte Frauen Komplikationen während der Schwangerschaft erlitten. 

Ulrike Protzer sagt: „Der Impfstoff taugt auch für Menschen mit Allergien.“ Schwere allergische Reaktionen sieht man bisher bei einer von 100 000 Impfungen. Sie sind also selten. Bislang waren diese Reaktionen gut in den Griff zu bekommen. Auch Autoimmunerkrankungen wie Rheuma oder Multiple Sklerose sprechen nicht gegen die Impfung. „Im Gegenteil“, sagt die Virologin: Die Fachgesellschaften empfehlen sie sogar explizit. Menschen mit einer Autoimmunerkrankung gehören zudem zur Gruppe mit erhöhter Priorität nach der Impfverordnung des Gesundheitsministers. Denn die Erkrankten tragen auch ein höheres Risiko für schwere Covid-Verläufe. Es ist allerdings möglich, dass die Impfung bei den Betroffenen nicht ganz so gut wirkt. 

In die Empfehlungen, die die Reihenfolge der Impflinge festlegt, sind sowohl rechtliche, ethische und medizinische Aspekte eingeflossen, erläutert Alena Buyx, die als Vorsitzende des Deutschen Ethikrats den rechtsethischen Rahmen mit ausgearbeitet hat. Ein wesentliches Ziel ist dabei die Verhinderung schwerer Verläufe und Todesfälle. Daraus ergab sich, dass diejenigen Vorrang haben, „die aus sich selbst heraus besonders gefährdet sind, schwer zu erkranken oder zu sterben“. Dies sind in erster Linie Menschen in sehr hohem Alter, in Langzeitpflege und mit bestimmten Vorerkrankungen. Hohe Priorität haben aber auch Menschen, „die sich für uns alle hohen Ansteckungsrisiken aussetzen und gleichzeitig andere in besonderem Maße anstecken und gefährden können“. Zu ihnen zählen vor allem Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im medizinischen und Pflegesektor, aber auch in bestimmten anderen Berufen.

Es mag intuitiv nicht gerecht erscheinen, dass die zweifache Mutter oder der junge Mann mit Rheuma, der noch viele Lebensjahre vor sich hat, zunächst zurückstehen muss. Doch verbleibende Lebenszeit als solche ist ethisch wie rechtlich kein zulässiges Kriterium bei der Priorisierung von potenziell lebensrettenden Maßnahmen. „Jemanden, der noch 30 Jahre zu leben hat, als wichtiger zu erachten, als jemanden, der noch drei Jahre vor sich hat, ist schon mit Blick auf unsere Verfassung problematisch“, sagt Alena Buyx. Auch die soziale Rolle, etwa die Mutterschaft, verleiht einem Menschen nicht mehr Wert als anderen.

Die Impfempfehlung berücksichtigt allerdings mittlerweile, dass auch jüngere Menschen – zum Beispiel jene mit schweren seltenen Erkrankungen – ein sehr hohes Risiko für komplikationsreiche Covid-Verläufe haben können. Da es nicht möglich ist, all diese Erkrankungen explizit in der Empfehlung aufzulisten, dürfen Ärztinnen und Ärzte diese Patienten individuell höher priorisieren. Diese Einzelfallentscheidungen ermöglicht die überarbeitete Version der Impfempfehlung, die am 29. Januar erschienen ist. „Es ist aber nicht selten“, so sagt die Ethikerin, „dass Menschen ihr eigenes Risiko überschätzen.“ 

Meldungen, dass Menschen unmittelbar nach der Impfung gestorben sind, lösen verständlicherweise Sorgen aus; das kennt man auch von anderen Vakzinen. Oliver Keppler, Virologe am Max-von-Pettenkofer-Institut der Universität München, verweist auf das Beispiel des plötzlichen Kindstods. Stirbt ein Säugling nach einer Impfung, halten die Eltern bisweilen die Immunisierung für die Ursache. Doch großen Studien an Hunderttausenden Kindern zufolge sterben geimpfte Kinder nicht häufiger als ungeimpfte. Ähnlich verhält es sich wohl bei den Corona-Impfungen. Ältere Menschen, die jetzt in großer Zahl geimpft werden, haben ohnehin ein hohes Sterberisiko. Dass der Tod in einigen Fällen kurz nach Verabreichung der Spritze auftrat, sei höchstwahrscheinlich eine Koinzidenz, sagt Keppler: „Es gibt keinen Hinweis, dass die Todesfälle ursächlich auf Impfungen zurückgehen.“ Er verweist zudem darauf, dass potenzielle Impfnebenwirkungen in vielen Ländern sorgfältig beobachtet und untersucht werden: „Die Welt schaut mit großer Aufmerksamkeit auf alles, was die Impfungen betrifft. Falls es größere Probleme gäbe, würde man das sehen.“

Die Covid-Impfstoffe wurden im Rekordtempo entwickelt. Daher fragen sich viele Menschen, ob mögliche Langzeitfolgen zu überblicken seien. Auch wenn unerwartete Entwicklungen nie zu 100 Prozent ausgeschlossen werden können, stellt der Pädiater Hübner klar, dass man aus der Erfahrung mit Impfungen weiß: „Spätfolgen entstehen meist nicht Jahre nach der Impfung, sondern Tage oder Wochen danach.“ Das Vakzin von Biontech etwa haben erste Studienteilnehmer schon vor einem Dreivierteljahr bekommen. Etwaige Langzeitfolgen hätten sich damit längst zeigen müssen. Auch ist das Verfahren, mRNA von Krankheitserregern zu verwenden, nicht ganz neu. Schon seit 2014 werden Vakzine in klinischen Studien getestet, die auf diese Technologie setzen. Mindestens 1000 Menschen haben sie im Rahmen dieser Studien erhalten, schätzt Hübner. Größere Probleme seien nicht erfasst worden. Oliver Keppler dämpft zugleich Sorgen, dass die mRNA in das menschliche Erbgut eingebaut werden könnte: „Die mRNA, die in eine Zelle reinkommt, ist wie Benzin, das man in einen Verbrennungsmotor gibt. Nach wenigen Stunden ist das Benzin verbrannt. Analog dazu ist die mRNA in ein Eiweißmolekül verwandelt worden. Der ursprüngliche Stoff ist verschwunden.“

Diese Frage ist Alena Buyx zufolge nachvollziehbar. Dennoch sollte gerade in der derzeitigen Situation kein Präparat ausgeschlagen werden. Wenn ein Vakzin in Deutschland zugelassen ist, hat es eine ausreichend hohe Wirksamkeit. Solange Knappheit herrscht, können besondere Wünsche kaum berücksichtigt werden. Später könne man immer noch mit einem anderen Produkt nachimpfen. 

Michael Hölscher geht davon aus, dass der Schutz durch die Impfung mindestens ein Jahr, wahrscheinlich auch anderthalb bis zwei Jahre lang anhalten wird. Der Infektionsmediziner hat untersucht, wie sich die Menge jener Antikörper verändert, die von Infizierten gebildet wurden. Diese Daten geben Anhaltspunkte für die Länge des Impfschutzes. Mittlerweile liegen Proben von Menschen vor, die sich vor etwas mehr als neun Monaten angesteckt hatten. Bei ihnen ist ein leichter Abfall der Immunantwort zu sehen. „Allerdings haben wir noch keine Menschen beobachtet, die ihren Schutz komplett verloren haben.“ Hölscher ergänzt: „Unser Immunsystem ist in der Lage, bei Kontakt mit einem Erreger seine Antworten schnell wieder aufzufrischen. Da der Zeitraum zwischen Infektion und Erkrankung bei Sars-CoV-2 in der Regel einige Tage beträgt, hat unser Immunsystem genug Zeit, sich wieder zu erinnern.“

„Die Impfung ist eine, vielleicht die wichtigste Maßnahme zur Eindämmung der Pandemie. Aber sie ist nicht die einzige“, betont Hölscher. Bis ausreichend Menschen geimpft sind, werden weiterhin Masken und andere Maßnahmen benötigt, um die Zahl der Erkrankungen zu senken: „Dann wird es auch wieder leichter werden.“ Längerfristig hält der Infektionsmediziner es für möglich, dass die Menschen sich – wie gegen die Grippe – jedes Jahr neu schützen müssen. „Wir werden wahrscheinlich noch für Jahrzehnte mit dem Virus leben“, sagt er. „Aber die Epidemie wird in den nächsten Jahren an Dramatik verlieren.“