Rainer Dulgers Amtszeit ist von Krisen geprägt. Im November 2020 wurde er Arbeitgeberpräsident, erst ging es um Corona, dann begann Russlands Invasion der Ukraine und die Preise stiegen steil an. Es gab heftige Tarifkonflikte, zuletzt im öffentlichen Dienst. Der Tarifstreit endete am Wochenende mit einer Einigung, die die höchsten Lohnerhöhungen seit vielen Jahren vorsieht. Dulger will die Einigung selbst nicht kommentieren, aber er kritisiert, wie Tarifkonflikte mittlerweile ablaufen.
SZ: Herr Dulger, Sie sagen, die Tarifpartnerschaft habe sich in der Krise bewährt. Im öffentlichen Dienst haben die Gewerkschaften zuletzt mit „Fridays for Future“ zusammen gestreikt, weshalb die Ersten schon politische Streiks in Deutschland fürchten – also Arbeitskämpfe für ein politisches Ziel, nicht nur für ein tarifliches.
Rainer Dulger: Sorge um die Tarifpartnerschaft habe ich nicht. Aber die Gewerkschaften starten Arbeitskämpfe, die das halbe Land in Geiselhaft nehmen. Das ist unverhältnismäßig. Hier ist etwas aus der Balance geraten. Mir gefällt die Massivität des Vorgehens nicht – und auch nicht das gemeinsame Agieren mit den Klimaaktivisten. Diese Grenzüberschreitungen untergraben mittelfristig die Legitimität von Arbeitskämpfen. Ich appelliere deshalb an die Gewerkschaften, die grundsätzliche Akzeptanz von Arbeitskämpfen nicht zu gefährden. Es geht darum, gemeinsam mit den Arbeitgebern nach Lösungen zu suchen.
Sorge um die Tarifpartnerschaft habe ich nicht. Aber die Gewerkschaften starten Arbeitskämpfe, die das halbe Land in Geiselhaft nehmen.
Welche Streiks lassen Sie zu diesem Schluss kommen?
Alle, bei denen eine ganz kleine Minderheit eine ganz große Mehrheit blockiert und ihr ihren Willen aufzwingen will.
Da fordern sie Einschränkungen?
Das Streikrecht ist ein hohes Gut, ohne eine funktionierende Interessenvertretung der abhängig Beschäftigten kann unsere Demokratie nicht funktionieren. Durch die massiven Streiks werden aber weite Teile des öffentlichen Lebens zum Erliegen gebracht: Wenn Beschäftigte der Luftsicherheit streiken, werden ganze Flughäfen lahmgelegt, in anderen Fällen werden Operationen kurzfristig abgesagt, oder die Menschen kommen durch die Bestreikung des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs nicht mehr nach Hause oder zur Arbeit. Das hat alles nichts mit den aktuell verhandelten Tarifverträgen zu tun, sondern ist politische Drohkulisse. Das zeigt doch, dass wir beim Arbeitskampfrecht bessere Spielregeln brauchen. Wir Arbeitgeber setzen uns dafür ein, dass die Regeln klar festgelegt werden. Dabei geht es um die Verhältnismäßigkeit, vor allem in Fällen, in denen der Schaden für diejenigen zu groß wird, die mit dem Tarifkonflikt gar nichts zu tun haben.
Die Energiepreise bleiben hoch, die Zahl der Insolvenzen ist deutlich gestiegen, manche sprechen vom Ende des Geschäftsmodells Deutschland. Müssen wir uns Sorgen machen um die Zukunft der deutschen Unternehmen?
Deutschland war bisher ein sehr leistungsfähiger Standort. Aber die Weichenstellungen, die wir jetzt vornehmen, werden über unsere Wettbewerbsfähigkeit in den nächsten Jahrzehnten entscheiden. Deshalb geht es um die Frage: Wie wettbewerbsfähig sind wir in den nächsten zehn oder zwanzig Jahren? Dafür braucht es eine Strategie, die das Geschäftsmodell Deutschland neu denkt, um wirtschaftlichen Erfolg, soziale Sicherheit und ökologische Nachhaltigkeit auch in Zukunft zu ermöglichen. Und da stellen wir leider fest: Wir sind überall in der Spitzengruppe. Bei den Strompreisen, bei den Sozialabgaben und bei den Lohnkosten. Unsere Ausgangslage ist also nicht die einfachste. Deutschland muss wieder schneller werden, wir müssen wieder einfacher werden, wir müssen wieder mehr darüber nachdenken, was uns so erfolgreich gemacht hat.
Wie spüren Sie die veränderte Lage in ihrem Maschinenbau-Unternehmen?
In meinem eigenen Unternehmen zeichnet sich eine Seitwärtsbewegung ab, wir wachsen nicht mehr so wie früher. Wir haben es mit multiplen Belastungen zu tun. Zu den hohen Energiepreisen und den Lieferengpässen sind nun auch noch höhere Zinsen gekommen.
Was wiegt am schwersten?
Das ist von Unternehmen zu Unternehmen und von Branche zu Branche sehr unterschiedlich. Löhne sind immer nur dann kritisch, wenn sie einen hohen Lohnkostenanteil haben. In meinem Unternehmen in Heidelberg liegt der Lohnkostenanteil nur bei etwas über 36 Prozent. Aber bei einem Werkzeugmacher beispielsweise kann er leicht bei 76 Prozent liegen. In meinem Unternehmen spielt Energie derzeit keine allzu große Rolle. Aber wenn sie eine Großbäckerei haben, dann ist das tödlich. Das Entscheidende ist: Für alle Unternehmen sind in den letzten zwei Jahren Belastungen dazugekommen, bei jedem Unternehmen können das andere Faktoren sein.
Für Energiekosten ist federführend Wirtschaftsminister Habeck zuständig. Vergangenes Jahr hatten Sie ihn ausdrücklich gelobt. Er halte nicht nur Reden, sondern höre zu und tue Schritt für Schritt die richtigen Dinge. Sind Sie immer noch so zufrieden?
Dazu stehe ich auch heute noch. Aber leider ist sein Ministerium gerade dabei, einiges von dem, was es sich in den jüngsten Krisen erarbeitet hat an Erfolg und Vertrauen, wieder zu verlieren. Durch Maßnahmen, die teils unsinnig sind. Nehmen Sie den geplanten Heizungstausch. Wenn Sie ein altes Haus mit einer Wärmepumpe und Solaranlage ausstatten wollen, dann kostet das schnell 50 000 Euro. Der Wirtschaftsminister sagt: Jeder, der Hilfe braucht, wird Hilfe bekommen. Da wird aber dann wirklich jeder Hilfe brauchen.
Und der Staat zahlt es.
Ja, aber der Staat kann doch nicht alles zahlen. Wir müssen aufpassen, dass wir unsere Zukunft nicht weiter auf eine allumfassende Schutzschirmwirtschaft aufbauen. Gesetze, durch die jeder Hilfe vom Staat braucht, sind nicht zielführend.
Werden die Zeiten ungemütlicher für Arbeitgeber? Arbeitskräfte sind knapp, und Tarifkonflikte werden selbst in der Krise hart geführt, weil die Arbeitnehmer sich am längeren Hebel wissen.
Einige Unternehmen müssen in der aktuellen Situation jeden Tag kämpfen. Nicht nur die Beschäftigten sehen sich durch die Inflation und die gestiegenen Energiekosten mit explodierenden Preisen konfrontiert. Auch wir Arbeitgeber müssen die hohen Kosten stemmen. Wir brauchen deshalb eine verantwortungsvolle Tariflohnpolitik, die sich auch an der wirtschaftlichen Lage der Betriebe orientiert und dadurch vor allem Beschäftigung sichert. In den letzten Jahren hatten wir eine andere Ausgangslage: die Auftragsbücher der Unternehmer waren voll. Allein die Löhne in der Metall- und Elektroindustrie sind in den vergangenen zehn Jahren um fast 30 Prozent gestiegen, die Produktivität aber nur um drei. Wir haben in den wichtigen Industriebereichen wie der Metall- und Elektroindustrie und der chemischen Industrie aber zuletzt flexible Lösungen gefunden: lange Laufzeiten und Entlastungsmöglichkeiten für die Betriebe.
Angesichts der hohen Inflation bedeuten die jüngsten Abschlüsse aber Reallohnverluste für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Das kann man so nicht sagen. Die letzten Preissteigerungen beziehen sich nur auf die Zeit seit Beginn des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine. Bis dahin lag der Preisanstieg zehn Jahre lang stets deutlich unter zwei Prozent, oft sogar unter einem Prozent. In dieser ganzen Zeit haben die Beschäftigten deutliche Reallohnzuwächse erfahren.
Seit 2019 aber nicht mehr.
Das finde ich jetzt ein bisschen unfair, den Reallohnverlust so lange zu suchen und den Zeitraum dafür so lange zu verkürzen, bis man ihn endlich gefunden hat. In den zehn Jahren zuvor hat es deutliche Reallohnzuwächse gegeben.
Sie rufen nach dem Staat, wenn es um Tarifpolitik und Industriestrompreise geht, und Sie rufen die Gewerkschaften zur Mäßigung auf. Gleichzeitig haben die Dax-Konzerne im vergangenen Jahr etwa 120 Milliarden Euro Gewinne gemacht, die zweithöchsten der deutschen Wirtschaftsgeschichte.
Das ist ein Bild, das täuscht. Viele Unternehmen haben im Krisenjahr 2022 ihre Preise erhöht, weil sie mit ihren Kosten nicht mehr hinkamen. Digitalisierung, Dekarbonisierung und der demografische Wandel haben die Unternehmen schon länger belastet, dann hat Corona die Lieferketten abreißen lassen. Und dann kam noch die Ukraine-Krise. Die Gewinne im Jahr 2022 sind ein einmaliger Effekt, und wir brauchen diese hohen Gewinne auch, um die nächsten Jahre zu überstehen, uns zukunftsfit zu machen und Investitionen tätigen zu können. Ich möchte dafür werben: Gewinne sichern auch die Zukunft der Beschäftigten.
Haben Sie in ihrem Betrieb eigentlich die 3000-Euro-Inflationsprämie gezahlt?
Ja, voll und für alle Mitarbeiter. Auf der Weihnachtsfeier habe ich nur glückliche Gesichter gesehen.
Die CDU arbeitet an einem Konzept für eine Steuerreform und will auch die Erbschaftsteuer reformieren. Weil die bisherige Regelung zu kompliziert und zu anfällig ist für Steuergestaltung, soll es eine Flat Tax geben: Zehn Prozent Erbschaftsteuer für alle, also für Privatleute genauso wie für Unternehmen und ihr Betriebsvermögen. Eine gute Idee?
In den Betrieben ist häufig so viel Kapital gebunden, dass sie im Erbfall gar nicht in der Lage wären, so viel Geld aufzubringen, um die Erbschaftsteuer zu bezahlen. Der CDU-Vorschlag sieht wohl jetzt ein Stundungsmodell vor, das es Unternehmen ermöglicht, die Erbschaftsteuer zehn Jahre lang abzubezahlen. Die Stundung, damit keiner seinen Betrieb verkaufen muss oder zehn Jahre lang nicht mehr investitionsfähig ist, ist diskussionswürdig, wenn wir auch über die Bewertung des Betriebsvermögens reden können. Dass wir aktuell kein vernünftiges Stundungsmodell für größere Betriebsgesellschaften für die Erbschaftsteuer haben, ist total verrückt. Für große Aktiengesellschaften gibt es keine Erbschaftsteuer – das verzerrt den Wettbewerb.
Dass wir aktuell kein vernünftiges Stundungsmodell für größere Betriebsgesellschaften für die Erbschaftsteuer haben, ist total verrückt.
Sie haben von hohen Sozialabgaben gesprochen. Was muss im Sozialsystem passieren?
Beim Rentensystem, in der Krankenversicherung und in der Pflege sehen wir überall mittelfristig leere Kassen und Riesenprobleme auf uns zukommen. Wir haben nicht mehr genügend qualifizierte Arbeitskräfte. Mitte der nächsten Dekade werden dem Arbeitsmarkt rund sieben Millionen weniger Personen zur Verfügung stehen, wenn wir nicht gegensteuern. Wenn die Koalition so weitermacht, steigen die Beitragssätze auf mindestens 42 Prozent, noch bevor die Legislaturperiode vorbei ist. Die Ampel muss jetzt Strukturreformen auf den Weg bringen. Jeder hier in Berlin kennt die Zahlen, aber keiner traut sich, darüber zu reden, weil alle Politiker Angst haben, nicht wiedergewählt zu werden.
Sie spielen auf die Macht der Rentner als Wählergruppe an. Was schlagen Sie vor?
Das Renteneintrittsalter muss weiter steigen. Angesichts zunehmender Lebenserwartung und immer weniger Jüngeren muss allen klar sein, dass wir länger arbeiten müssen. Die Pläne der Ampel, das Rentenniveau auf mindestens 48 Prozent festzuschreiben, sind langfristig nicht finanzierbar. Ein Einfrieren des Rentenniveaus bei immer weiter steigenden Beiträgen hieße, allein die junge Generation mit den Kosten des demografischen Wandels zu belasten. Bei einer alternativen Finanzierung durch Steuermittel müssten wir deutlich über 40 Prozent unseres Bundeshaushalts allein für sozialpolitische Aufgaben aufwenden. Was bleibt uns dann noch, um in die Zukunft dieses Landes zu investieren?