#RussianCensorFiles

Datenleck im Herzen der russischen Zensur

1,5 Terabyte, mehr als 2 Millionen interne Dokumente: Das Datenleck der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor gibt einen einmaligen Einblick in einen modernen digitalen Zensurapparat – samt Stärken und Schwächen.

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Datenleck im Herzen der russischen Zensur

1,5 Terabyte, mehr als 2 Millionen interne Dokumente: Das Datenleck der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor gibt einen einmaligen Einblick in einen modernen digitalen Zensurapparat – samt Stärken und Schwächen.

Am 18. November 2022 läuft der russische Angriff auf die Ukraine seit 268 Tagen. In Kiew fällt der erste Schnee des Winters, Russland überzieht die Ukraine mit Raketen- und Drohnenangriffen. Eine Woche zuvor hat die ukrainische Armee die strategisch wichtige Stadt Cherson im Osten zurückerobert. Der Krieg wird aber nicht nur mit Raketen und Artillerie geführt. Zeitgleich tobt eine Propagandaschlacht im Internet und in den Medien. Die russische Regierung will ihre Bürgerinnen und Bürger davon überzeugen, dass die „militärische Spezialoperation“ rechtens ist und nach Plan verläuft. Ein entscheidendes Werkzeug dafür ist die Behörde Roskomnadsor, kurz RKN, der föderale Dienst für die Aufsicht im Bereich der Kommunikation, Informationstechnologie und Massenkommunikation. Oder anders gesagt: die Zentrale staatlicher Zensur.

An jenem 268. Kriegstag erbeuten Hackeraktivisten des Kollektivs Belarusian Cyber-Partisans 1,5 Terabyte Daten, mehr als zwei Millionen interne Dokumente, unter anderem ganze E-Mail-Postfächer, Verträge, Berichte und Softwarepläne. Bereits Monate zuvor waren sie in das System von RKN eingedrungen, hatten mehrere Sicherheitslücken ausgenutzt. Als sie im November auf Twitter verkünden, RKN erfolgreich gehackt zu haben, sind sie noch immer im System und lesen mit, wie unter den Mitarbeitern Panik ausbricht.

Es ist das größte Datenleck in der Geschichte von RKN – aber nicht das erste. Seit Beginn des Angriffskriegs trifft Behörden und Unternehmen in Russland eine Welle von Hackerangriffen. Ein Dutzend Datenlecks zählte die AktivistengruppeDDoSecrets“, die ähnlich wie Wikileaks eine Veröffentlichungsplattform für solche Informationen bietet, im vergangenen Jahr. Darunter Daten des Ölpipeline-Betreibers Transneft, E-Mails der russisch-orthodoxen Kirche und Dokumente, die Einblicke in die Geschäfte von Gazprom geben. Auch eine regionale Zweigstelle von RKN in der russischen Region Baschkortostan wird im März 2022 zum Ziel. Hacker erbeuten und leaken rund 160 000 Dokumente.

Von der Zulassungsstelle zum Zensur-Giganten

Die Hacker wollten „Russland schwächen und der Ukraine helfen“, sagen sie der Süddeutschen Zeitung. Die Medienaufsichtsbehörde RKN sei ein entscheidendes Element im Unterdrückungsapparat und deshalb ein legitimes Ziel gewesen. Von so zentraler Bedeutung ist die Behörde nicht immer gewesen. Viele Jahre ist RKN nur eine kleine Zulassungsstelle, eine Unterabteilung des russischen Kulturministeriums. Unter Präsident Medwedjew wächst RKN innerhalb weniger Jahre zu einer gigantischen Zensurbehörde, deren Aufgabe es ist, alle Informationswege der russischen Gesellschaft zu kontrollieren: Websites, soziale Netzwerke, Onlinemedien und Zeitungen, Radio, Fernsehen, Messenger, Suchmaschinen. Die Behörde unterhält 71 regionale Zweigstellen und verfügte 2022 über ein Jahresbudget von umgerechnet 433 Millionen Euro, eine Verdoppelung im Vergleich zum Vorjahr.

RKN soll das russische Volk vor illegalen Inhalten schützen, vor Gewaltdarstellungen oder Pornografie. Aber auch Inhalte, die nicht das „traditionelle“, heterosexuelle Familienbild darstellen, sind in Russland verboten. Verstößt ein Medium, ein Youtuber oder eine Nutzerin sozialer Medien gegen die Regeln, kann RKN saftige Geldstrafen verhängen, Lizenzen entziehen, einzelne Posts oder ganze Accounts löschen lassen und Websites blockieren. Dafür arbeitet die Behörde eng mit dem Inlandsgeheimdienst FSB und dem Justizministerium zusammen, die RKN auch mit Namen und Informationen von Regimekritikern versorgen. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs nutzt RKN seine Macht vor allem, um systematisch die Verbreitung von Kritik und unabhängigen Informationen zum Kriegsgeschehen zu verhindern.

Im Maschinenraum der russischen Zensur

Die Süddeutsche Zeitung hat das Leak gemeinsam mit Datenjournalistinnen des russischen Mediums „iStories“ untersucht. Die Dokumente geben einen einmaligen Einblick in einen modernen digitalen Zensurapparat, seine Stärken und Schwächen. Automatisiert erstellte Social-Media-Berichte belegen, dass die russische Zensur keine geografischen Grenzen kennt: Überprüft werden auch Posts aus Deutschland.

Team
Redaktion Jannis Brühl, Thomas Gröbner, Markus Hametner
Collage Stefan Dimitrov