Emotionen im Job

Es menschelt

Gefühle zeigen am Arbeitsplatz, das war lange Zeit verpönt. Privates sollte gefälligst privat bleiben. Die Zeiten sind vorbei. Doch wie spricht man im Büro über seine Hoffnungen, Sorgen und Ängste?

20. August 2022 - 6 Min. Lesezeit

Manchmal bereut Jörg Arnold, dass er nicht Psychologie studiert hat, sondern „ein ganz schlichter Betriebswirt“ geworden ist. Er liebt es, über Menschen nachzudenken, was sie ausmacht und warum sie sind, wie sie sind. Immerhin hat er sein Hobby quasi zum Beruf gemacht und ist Chef geworden. Mitarbeiterführung ist ja gelebte Psychologie, zumindest wenn man sie richtig macht, findet er. „Eine Führungskraft ist da, um sich um das Team zu kümmern“, sagt der 58-Jährige. „Wenn du von deiner Führungskraft als Mensch gesehen wirst, fühlst du dich verbunden. Dann fühlst du dich eher in der Kraft.“

Arnold ist Deutschlandchef des Versicherungsunternehmens Swiss Life. Und da ist es ihm wichtig, die Lektionen, die er durch die jahrelange Beschäftigung mit Psychologie gelernt hat, auch umzusetzen. Eine Erkenntnis: Der Mensch hat viele Gefühle und er kann sie nicht abstellen, auch an den Arbeitsplatz bringt er sie mit. „Es ist wichtig, dass wir die Menschen nicht nur als Produktivitätsfaktor sehen“, sagt Arnold. „Und je besser ich die Menschen kenne, desto besser kann ich mich als Führungskraft auf sie einstellen.“

Arnold hat deshalb sogenannte Kultur-Feedbacks eingeführt. Zweimal im Jahr spricht jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter eine gute Stunde mit dem oder der Vorgesetzten über Gefühle. Auch Arnold selbst führt etliche solcher Gespräche. Es geht darin nicht um fachliches Feedback – wie gut arbeitet man, was muss man besser machen, wohin soll es mit der Karriere gehen? Im Mittelpunkt stehen explizit die Zusammenarbeit und das persönliche Miteinander. Es geht um Gefühle, Ängste und alle Themen, die eine Person gerade beschäftigen.

Gefühle am Arbeitsplatz – lange Zeit war das Thema verpönt. Bei der Arbeit sollte es um die dienstliche Sache gehen, alle Sorgen, Nöte, Ängste galten als Privatthemen. Und noch immer gibt es viele Betriebe, in denen es als schwach gilt, Gefühle zu zeigen. Einer Studie des sozialen Netzwerks Linkedin zufolge glauben 41 Prozent der Befragten in Deutschland, dass das Zeigen von Gefühlen im Job noch immer mit einem Stigma verbunden ist. Doch in den vergangenen Jahren beschäftigen sich mehr und mehr Führungskräfte mit Emotionen, Coaches bieten spezielle Workshops an, die Managern Sensibilität beibringen sollen.

Sheryl Sandberg, die bald als Co-Chefin von Meta abtreten wird, dem Konzern hinter Facebook, machte Emotionen am Arbeitsplatz zu ihrem Thema. In ihrem Buch „Lean In“ verriet sie sogar, dass sie manchmal im Büro weint. „Es ist mir schon mehr als einmal passiert. Es wird mir wieder passieren.“ Und damit ist sie nicht allein. In Umfragen gibt die Hälfte der Befragten an, schon bei der Arbeit geweint zu haben. In der Linkedin-Befragung kam heraus, dass sich das Stigma um Gefühle im Job ändern dürfte, denn zwei Drittel der 18- bis 24-Jährigen seien überzeugt, dass es den Zusammenhalt unter Kollegen und die Produktivität fördert, sich zu öffnen. Ähnlich viele glauben, dass man offener für die Perspektive anderer ist, wenn man seine Gefühle zeigt.

Bei Swiss Life in Deutschland finden jährlich rund 3000 Kultur-Feedbacks statt. Einen festen Gesprächsleitfaden gibt es nicht, aber die Personalabteilung hat eine Liste mit Fragen und Themen entwickelt, die den Führungskräften als Anhaltspunkte dienen. Darunter: „Wo stoße ich an meine persönlichen Grenzen?“, „Woraus habe ich Energie gezogen?“ oder „Wie kann ich dich dabei unterstützen, dass du dich wohl fühlst?“ Natürlich sei es eine Frage der Persönlichkeit, was die Mitarbeiter ansprechen und wie sehr sie sich auf ein Gespräch über Gefühle einlassen. „Nicht jeder möchte über Kindheitstraumata sprechen“, sagt Arnold. Aber er arbeitet daran, dass eine Vertrauensbasis da ist. „Es ist wichtig, dass die Menschen wissen, dass nichts, was sie preisgeben, gegen sie verwendet wird.“

Die Gespräche sollen keine Einbahnstraße sein, sie geben auch Raum, die Vorgesetzten zu kritisieren. Ein Mitarbeiter riet Arnold zum Beispiel mal, seine Gefühle in Meetings ein bisschen mehr im Zaum zu halten. Wenn der Chef gleich zu Beginn zu impulsiv Feedback gebe, würde dies die Gesprächsrunden zu sehr in eine bestimmte Richtung drängen. „Ich versuche jetzt, mich weniger in den Mittelpunkt zu stellen“, sagt Arnold, der es gut fand, so ehrliche Kritik zu bekommen. „Ich bin ein sehr offener Typ, habe wenige Berührungsängste“, sagt er. Ein typischer Rheinländer sei er eben. „Ich gebe selbst auch viel von mir preis, erzähle von Verletzungen aus der Kindheit. Dann fällt es den anderen auch leichter, sich zu öffnen.“ Auch über seine Schwächen rede er offen. „Wir müssen davon wegkommen, dass wir vermeintlich alle Superfrauen und Supermänner sind. Wir haben alle unsere Prägungen und unseren Rucksack voller Erfahrungen mitgebracht.“ Arnold ist es aber wichtig, dass die Gespräche vorrangig die positiven Aspekte der Zusammenarbeit beleuchten. Bei ihm selbst mache das Positive rund 70 Prozent der Gespräche aus, er spricht von einer „Wertschätzungsdusche“.

Seit 2018 gibt es die Kultur-Feedbacks bei Swiss Life Deutschland, Arnold hat sie kurz nach seinem Antritt eingeführt. Aber schon vorher hatte sich die Personalabteilung bewusst mehr um die Unternehmenskultur gekümmert und alle 1800 Mitarbeiter zu dreitägigen Kultur-Workshops geschickt, in denen es um Grundmodelle der Psychologie ging, etwa die Eisbergtheorie (viele Handlungen werden aus unbewussten Entscheidungen heraus getroffen) oder den „Circle of Influence“ (sich möglichst keine Gedanken und Sorgen zu machen über Dinge, die man nicht beeinflussen kann). Es sind genau die Themen, für die sich auch Arnold interessiert. Ein Freund hatte ihm einmal zum Geburtstag eine Eintrittskarte zu einem Fachkongress für Psychotherapeuten in Bad Kissingen geschenkt. Da saß er dann und lauschte tagelang den Vorträgen. „Die waren eigentlich für Leute vom Fach, nicht so Psycho-Autodidakten wie mich“, erzählt er. „Aber ich fand es hochspannend.“

Jeder sollte ein bisschen psychologisches Grundwissen und ein ähnliches Vokabular haben, was eine Basis für die Zusammenarbeit im Unternehmen sein sollte, findet er. Und für den Teamzusammenhalt seien die Workshops und Gespräche auch sehr wichtig. „Man kommt sich viel näher“, sagt Arnold. Die Euphorie, die er danach beobachtete, sollte nicht verpuffen, darum die regelmäßigen Kultur-Feedbacks, die an das im Workshop Gelernte anknüpfen. „Am Anfang hat es schon Leute gegeben, die gedacht haben: Was soll das jetzt?“, erzählt er. Aber dann habe sich doch bei den meisten eine Freude entwickelt, die Kolleginnen und Kollegen und Chefs und Chefinnen besser kennenzulernen. Je öfter jemand an solchen Gesprächen teilnimmt, desto leichter werde es.

Auch Jennifer Rosenberg beschäftigt sich viel mit den Gefühlen ihrer gut 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. „Dieses Konzept, dass man morgens um neun Uhr die Gefühle ab- und abends um 17 Uhr wieder einschaltet, halte ich für falsch“, sagt sie. „Leistung und Emotionen sind eng miteinander verbunden.“ Die 33-Jährige hat zusammen mit zwei Männern und mit Unterstützung von McKinsey die Unternehmensberatung Jester gegründet, die sich auf Marketing, Personalthemen und Nachhaltigkeit konzentriert und etliche Großkunden gewonnen hat. „Kreativität gelingt nicht, wenn wir traurig oder verwirrt sind“, sagt sie. „Und als Berater sind wir ja Dienstleister, da werden wir besser, wenn wir mit unseren Gefühlen umgehen, statt grantig durch den Tag zu laufen.“

Anstatt einfach nur mehr über Gefühle zu sprechen, hat sie versucht, diese messbar zu machen. Woche für Woche vergeben ihre Teammitglieder Punkte zwischen eins und zehn dafür, wie gut oder schlecht es ihnen mit einem laufenden Projekt und Kunden geht. Das Ergebnis ist der „Emotional Score“. Fällt er unter fünf, muss man etwas tun. Während die Unternehmensberater und -beraterinnen die Punkte vergeben, reden sie über Gefühle. „Viele Konflikte entstehen so erst gar nicht“, glaubt Rosenberg. Sie selbst gehe mit gutem Beispiel voran und spreche darüber, was in ihr vorgeht. Kürzlich hatte sie Feedbackgespräche im Kalender, war aber schlecht drauf. Sie hat dann angerufen und abgesagt, „weil ein Gespräch bei meinem emotionalen Status respektlos wäre“, erzählt sie. Ihre Leute fanden das gut. Jetzt ist es auch für sie leichter, mal abzusagen, wenn es ihnen nicht gut genug geht.

Bei Swiss Life Deutschland habe sich gerade in Zeiten der Pandemie und den Teil-Lockdowns, die viele Menschen belasteten, das institutionalisierte Feedback-System als hilfreich erwiesen, findet Arnold. Und dass die Teams sich besser persönlich kannten, half dabei, den Zusammenhalt trotz Home-Office nicht zu verlieren. In Mitarbeiterbefragungen der Managementberatung Korn Ferry für Swiss Life Deutschland schneidet das Unternehmen gut ab: 87 Prozent der Mitarbeitenden würden es als Arbeitgeber weiterempfehlen, das sind 20 Prozentpunkte mehr als beim Durchschnitt der Finanzindustrie. 92 Prozent der Mitarbeitenden vertrauen ihrer direkten Führungskraft, sechs Prozentpunkte mehr als 2019. „Die Mitarbeiter goutieren es“, sagt Arnold, „dass es bei uns stärker menschelt.“

Team
Redaktion Valentin Dornis
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