Serie Inklusion auf dem Arbeitsmarkt

„Eher Rückschritt als Fortschritt“

Seit Jahren wird Deutschland für seine zögerlichen Inklusionsanstrengungen gerügt. Gerade auf dem Arbeitsmarkt tun Politik und Unternehmen zu wenig. Wo es hakt und was von der neuen Regierung zu erwarten ist.

17. April 2025 | Lesezeit: 16 Min.
  Politik für Menschen mit Behinderung  

„Deutschland macht Rückschritte bei der Inklusion“

Deutschland tut zu wenig, dass Menschen mit Behinderung überall dabei sein können. Besonders bei der Arbeit gibt es Probleme. Politik und Firmen helfen zu wenig. Was sind die Probleme? Was will die neue Regierung ändern?

17. April 2025 | Lesezeit: 16 Min.

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Hubert Hüppe schüttelt den Kopf, sagt dann einen Satz, der hart klingt, aber für ihn eine bittere Wahrheit ist: „Die wollen Inklusion nicht. Denn Inklusion ist schlecht für das Geschäft.“ Er lehnt sich in seinem Bürostuhl vor, räumt die vor ihm liegenden Bücher zur Seite. Fachliteratur zu Hüppes politischem Spezialgebiet, auf einem steht in dicken Buchstaben: „Sonderwelt und Subkultur behindern die Inklusion“.

Rückblick: November, draußen ist es grau, drinnen politische Endzeitstimmung: Die Ampel steht kurz vor dem Aus.

Der Experte Hubert Hüppe ist verärgert. Er sagt: Die wollen keine Inklusion. Denn mit Inklusion verdienen sie weniger Geld. Dieser Satz klingt hart. Aber für Hüppe ist er wahr. Hubert Hüppe sitzt an seinem Schreibtisch und schiebt einige Bücher zur Seite. Die Bücher handeln von seinem Fachgebiet in der Politik. Auf einem Buch steht in großer Schrift: „Sonderwelt und Subkultur behindern die Inklusion“.

Es ist November. Das Wetter ist grau. Die Regierung aus SPD, Grünen und FDP hat große Probleme. Man nennt diese Regierung auch Ampel-Koalition.

Auch für Hüppe sind es die letzten Wochen als Bundestagsabgeordneter, hier in seinem Büro im Matthias-Erzberger-Haus am Brandenburger Tor. Er setzt sich seit Jahrzehnten für mehr Inklusion ein und zählt in der Politik zu den schärfsten Kritikern von Behindertenwerkstätten.

Hubert Hüppe arbeitet nur noch wenige Wochen als Politiker im Bundestag. Hüppe ist in seinem Büro am Brandenburger Tor. Er kämpft seit vielen Jahren dafür, dass Menschen mit Behinderung überall dabei sein können. Das nennt man Inklusion. Besonders die Werkstätten für Menschen mit Behinderung kritisiert er.

Seine Zeit als Behindertenbeauftragter ist schon länger vorbei, aber das Thema lässt ihn nicht los, auch jetzt nicht, kurz vor Schlusspfiff, das hat persönliche Gründe: Sein Sohn hat eine Behinderung. Und politische: Deutschland bleibt hinter den Ansprüchen der Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zurück. Hüppes Kritik deckt sich mit der Einschätzung vieler anderer Experten, mit der Bilanz, die die UN regelmäßig ziehen, ohnehin: Deutschland baut Sonderstrukturen wie Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) nicht ab und bleibt damit hinter den Ansprüchen der UN-BRK zurück.

Früher war Hüppe der Beauftragte der Bundesregierung für Menschen mit Behinderungen. Auch heute noch ist ihm das Thema sehr wichtig. Das hat zwei Gründe:

• einen persönlichen Grund: sein Sohn hat eine Behinderung;

• einen politischen Grund: Deutschland hilft Menschen mit Behinderung nicht genug.

Diese Serie, die die SZ mit dem inklusiven Magazin andererseits recherchiert hat, geht den Fragen nach, wieso sich Deutschland mit Teilhabe behinderter Menschen gerade auf dem Arbeitsmarkt noch immer so schwertut – und wie Inklusion gelingen kann. Die übrigen Teile der Serie finden Sie hier:

Zu diesem Artikel hier gehören noch andere. Diese Serie hat die Süddeutsche Zeitung (SZ) zusammen mit dem inklusiven Magazin andererseits gemacht.
In der Serie geht darum, warum Arbeiten in Deutschland für Menschen mit Behinderung oft immer noch schwierig ist: Warum viele nur schwer einen Job außerhalb einer Werkstatt finden und sich dort wohlfühlen.
Die Serie zeigt aber auch, wie man das besser machen kann, also wie Inklusion am Arbeitsplatz gelingen kann.
Die anderen Teile der Serie finden Sie hier:

Als Deutschland vor ziemlich genau 16 Jahren gerade die UN-BRK ratifiziert hatte, „da gab es Aufbruch und Inklusion“, erinnert sich der CDU-Politiker. Elterninitiativen und inklusive Schulen seien entstanden. Mit Verweis auf die Konvention konnte man viel erreichen, damit setzte er zu der Zeit etwa die Barrierefreiheit in Fernbussen durch. „Und jetzt muss ich deprimiert feststellen, dass die Strukturen der Sondersysteme sich durchgesetzt und massiv an politischem Einfluss gewonnen haben.“

Wie viel politischer Reformwille da ist, zeigt der neue Koalitionsvertrag. Der liest sich erst mal ambitioniert und kündigt vollmundig den Einsatz für eine inklusive Gesellschaft im Sinne der Behindertenrechtskonvention und Abbau von Barrieren an. Auch Inklusion auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt soll explizit gestärkt werden. Aber überwiegend sind es Absichtserklärungen, die auch nicht auf tiefgreifende Veränderungen zielen. Wo es konkret wird, zeugen die Vorschläge dann doch eher vom Drehen an kleinen Stellschrauben. So ist zwar vom Willen, die WfbM zu reformieren die Rede, beispielsweise soll das Werkstattentgelt der behinderten Beschäftigten erhöht werden, das mit staatlichem Lohnzuschuss im Schnitt bei monatlich 224 Euro liegt.

Im selben Zug wird dann aber die nachrangige Förderung von Werkstätten aus der Ausgleichsabgabe wiedereingeführt, ein Vorschlag der CDU/CSU. Die regelt, dass Werkstätten und Wohnheime über die Ausgleichsabgabe finanziert werden dürfen, was letztlich bedeutet, dass das Geld, das Arbeitgeber weiter fürs Nichteinstellen behinderter Menschen zahlen, in die Werkstätten fließt und diese erhält. Das sei „im Hinblick auf die Förderung der Integration auf den allgemeinen Arbeitsmarkt eindeutig die falsche Richtung“ meint der Inklusionsforscher Stefan Doose von der FH Potsdam. Denn eigentlich soll die Ausgleichsabgabe Menschen mit Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt fördern. Auch Hubert Hüppe sieht das als ein falsches Signal: „Wenn jetzt das Rad zurückgedreht wird, um mehr Geld aus der Ausgleichsabgabe in WfbM und Wohnheime anstatt in den ersten inklusiven Arbeitsmarkt zu stecken, ist das ein absoluter Rückschritt in Sachen Inklusion.“

Die Vereinten Nationen (kurz: UN) haben Regeln für die Rechte von Menschen mit Behinderung aufgeschrieben. Deutschland hält sich nicht gut genug an diese Regeln. Viele Experten sehen das genauso wie Hüppe. Auch die UN sagen regelmäßig: Deutschland muss sich verbessern. Ein Problem sind die Werkstätten für behinderte Menschen (kurz: WfbM). Deutschland baut diese Einrichtungen nicht ab. Die UN sagen: Deutschland müsste das machen.

Vor 16 Jahren, im Jahr 2009, hat Deutschland versprochen: Wir machen mehr für Menschen mit Behinderung. Hubert Hüppe sagt: Damals gab es viel Hoffnung auf Veränderung. Es entstanden zum Beispiel Schulen, wo Kinder mit und ohne Behinderung zusammen lernen. Mit den neuen Regeln konnte man viel erreichen. Zum Beispiel mussten Fernbusse so gebaut werden, dass auch Menschen im Rollstuhl sie nutzen können. Aber heute ist Hüppe enttäuscht. Die alten Einrichtungen nur für Menschen mit Behinderung sind noch stärker geworden.

Die neue Regierung hat einen Plan gemacht. Das nennt man Koalitionsvertrag. Darin steht: Wir wollen, dass Menschen mit Behinderung überall mitmachen können. Zum Beispiel sollen Menschen mit Behinderung bessere Chancen auf normale Arbeitsplätze bekommen. Aber die meisten Versprechen sind sehr allgemein. Wo es genauer wird, sind die geplanten Veränderungen oft klein. 

Ein Beispiel: In Werkstätten für Menschen mit Behinderung verdienen die Beschäftigten sehr wenig – etwa 224 Euro im Monat. Das soll etwas mehr werden. Aber es gibt eine besondere Regel: Wenn Firmen keine Menschen mit Behinderung einstellen, müssen sie Geld zahlen. Dieses Geld soll wieder an die Werkstätten gehen. Der Experte Stefan Doose von der Fachhochschule Potsdam sagt: Das ist falsch. Das Geld sollte Menschen mit Behinderung helfen, normale Arbeitsplätze zu finden. Auch Hüppe findet das schlecht. Er sagt: Das ist ein Schritt zurück. Er erklärt: So werden Menschen mit Behinderung weiter ausgegrenzt. Er glaubt: Dadurch werden noch mehr Menschen mit Behinderung arbeitslos.

700 Millionen, weil nicht genug Behinderte eingestellt werden

Das vermeintlich kleine Beispiel zeigt, dass trotz der Rhetorik von mehr Inklusion und besseren Übergängen in den ersten Arbeitsmarkt die Werkstätten weiterhin gestärkt werden. Als ehemaliger Behindertenbeauftragter übt Hüppe daher insgesamt scharfe Kritik am Koalitionsvertrag und meint: „Das ist kein Papier in Richtung Inklusion und Aufbrechen der Sonderstrukturen, sondern der Bewahrung der Ausgrenzung und eher ein Rückschritt als Fortschritt.“ Der CDU-Politiker ist überzeugt: „Das wird die Situation verschärfen und die Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderungen eher erhöhen.“

Mit der sogenannten Ausgleichsabgabe ist man mittendrin in der Debatte um Inklusion auf dem Arbeitsmarkt. Sie war nicht nur Verhandlungsmasse der Koalitionäre, sondern illustriert, wie Althergebrachtes Veränderungen ausbremst. Ausgleichsabgabe müssen Unternehmen zahlen, wenn sie nicht genügend behinderte Menschen einstellen, gut 700 Millionen Euro kommen dabei Jahr für Jahr zusammen. Eigentlich müssen Unternehmen, gestaffelt nach ihrer Größe, weniger oder mehr Behinderte einstellen.

Ab 20 Mitarbeitern gilt eine Beschäftigungspflicht, ab 60 sollen mindestens fünf Prozent der Arbeitsplätze mit Schwerbehinderten besetzt werden. Die Quote wird seit Jahren von der Mehrheit der Unternehmen, auch vom Süddeutschen Verlag beispielsweise, nicht erreicht. Der Anteil hat in den vergangenen Jahren sogar leicht abgenommen.

Firmen müssen Menschen mit Behinderung einstellen. Die Regeln sind:

• Firmen mit mehr als 20 Mitarbeitern müssen Menschen mit Behinderung einstellen.

• In Firmen mit mehr als 60 Mitarbeitern sollen mindestens 5 von 100 Arbeitsplätzen für Menschen mit Behinderung sein.

Aber die meisten Firmen halten sich nicht daran. In den letzten Jahren wurden sogar weniger Menschen mit Behinderung eingestellt. Wenn Firmen das nicht tun, müssen sie Geld zahlen. Das nennt man Ausgleichsabgabe. Pro Jahr kommen so 700 Millionen Euro zusammen. Die meisten Firmen stellen aber zu wenige Menschen mit Behinderung ein. In den letzten Jahren wurden sogar noch weniger Menschen mit Behinderung eingestellt.

Diese Grafik zeigt, wie gut unterschiedlich große Firmen diese Regeln einhalten:

Nur knapp 40 Prozent aller Arbeitgeber erfüllen die Beschäftigungspflicht vollständig, ein Viertel gar nicht.

Der grüne Balken zeigt: Nur 38 von 100 Arbeitgebern stellen genug Menschen mit Behinderung ein. 25 von 100 Arbeitgebern stellen gar keine Menschen mit Behinderung ein (grauer Balken).

Schaut man nur auf die kleinen Betriebe, zeigt sich, dass fast die Hälfte die Beschäftigungspflicht vollständig erfüllt, allerdings beschäftigen fast ebenso viele gar keine behinderten Menschen.

Bei den kleinen Firmen: Fast die Hälfte stellt genug Menschen mit Behinderung ein (grüner Balken). Aber fast genauso viele kleine Firmen stellen niemanden mit Behinderung ein (grauer Balken).

Bei den mittelgroßen Betrieben bleibt eine große Mehrheit unter der gesetzlichen Vorgabe.

Bei den mittelgroßen Firmen: Die meisten stellen zu wenig Menschen mit Behinderung ein.

Bei den großen Betrieben erfüllt nicht einmal ein Drittel die Vorgabe ganz, aber immerhin zwei Drittel in Teilen.

Bei den großen Firmen: Nur 27 von 100 Firmen erfüllen die Regeln ganz. 65 von 100 stellen zumindest einige Menschen mit Behinderung ein, das zeigt der blaue Balken.

Nur knapp 40 Prozent aller Arbeitgeber erfüllen die Beschäftigungspflicht vollständig, ein Viertel gar nicht.

Der grüne Balken zeigt: Nur 38 von 100 Arbeitgebern stellen genug Menschen mit Behinderung ein. 25 von 100 Arbeitgebern stellen gar keine Menschen mit Behinderung ein (grauer Balken).

Schaut man nur auf die kleinen Betriebe, zeigt sich, dass fast die Hälfte die Beschäftigungspflicht vollständig erfüllt, allerdings beschäftigen fast ebenso viele gar keine behinderten Menschen.

Bei den kleinen Firmen: Fast die Hälfte stellt genug Menschen mit Behinderung ein (grüner Balken). Aber fast genauso viele kleine Firmen stellen niemanden mit Behinderung ein (grauer Balken).

Bei den mittelgroßen Betrieben bleibt eine große Mehrheit unter der gesetzlichen Vorgabe.

Bei den mittelgroßen Firmen: Die meisten stellen zu wenig Menschen mit Behinderung ein.

Bei den großen Betrieben erfüllt nicht einmal ein Drittel die Vorgabe ganz, aber immerhin zwei Drittel in Teilen.

Bei den großen Firmen: Nur 27 von 100 Firmen erfüllen die Regeln ganz. 65 von 100 stellen zumindest einige Menschen mit Behinderung ein, das zeigt der blaue Balken.

Kritiker werfen Politik und Unternehmen vor, dass die Abgabe es letztlich ermöglicht, sich von Inklusion freizukaufen. Hinzu kommt: Die Ausgleichsabgabe fließt in einen Fonds, aus dem beispielsweise Modellvorhaben, Forschung, Leistungen der Arbeitsagenturen für behinderte Menschen finanziert werden. Anders gesagt: Strukturen, die Behinderte eigentlich fördern sollen, profitieren, wenn Firmen ihrer Inklusionspflicht nicht nachkommen. Ob die seit Anfang 2024 geltende deutliche Erhöhung etwas ändert, bezweifeln Experten. Denn sie ist nicht nur steuerlich absetzbar, sondern lässt sich auch noch mit den Aufträgen an die Werkstätten verrechnen, bis zu 50 Prozent. Wer also Behindertenwerkstätten beauftragt, zahlt weniger.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen (BAG WfbM) sieht deswegen in der Ausgleichsabgabe einen wichtigen „Nachteilsausgleich“, durch den es leichter ist, Aufträge zu bekommen. Aber das Sozialministerium widerspricht dem: Die Möglichkeit, mit Aufträgen Ausgleichsabgabe zu sparen, stehe „im Widerspruch zum Ziel, Menschen mit Behinderungen mehr Perspektiven auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu eröffnen“. Der jüngste Teilhabebericht des Arbeits- und Sozialministeriums diagnostiziert dazu passend, dass ein hoher „Marktwiderstand“ bestehe, „eine zu geringe Bereitschaft und Selbstverständlichkeit, passgenaue berufliche Möglichkeiten für beeinträchtigte Menschen herzustellen“.

Berührungsängste bei den Arbeitgebern – oder sogar Ressentiments

Dahinter stecken neben Geldflüssen, die Kritiker für Fehlanreize halten, auch bürokratische Hürden. Viele Unternehmen schrecken vor komplizierten Antragsverfahren und rechtlichen Caveats zurück, die mit der Beschäftigung von Menschen mit Behinderung einhergehen. Eine Kündigung etwa ist nur mit Zustimmung des Integrationsamts möglich, was viele Arbeitgeber als unsicheren Faktor betrachten. Die Statistik legt nahe, dass Arbeitgeber bewusst unter den Schwellenwerten bei der Beschäftigtenzahl bleiben, um das zu vermeiden oder um eben nicht zahlen zu müssen. Und dann gibt es schlicht noch Berührungsängste, schlimmstenfalls Ressentiments. Ein ehemaliger Werkstattbeschäftigter, der anonym bleiben möchte, erzählt, wie er nach etlichen Bewerbungen aufgehört habe zu suchen. Ein Arbeitgeber habe schlicht gesagt: „‚Idioten stellen wir nicht ein.‘ Ja, das gibt es immer noch, deutsche Arbeitgeber, die so was sagen.“ Er hat dann zwölf Jahre in einer Werkstatt gearbeitet, hat unter anderem für einen namhaften Technologiekonzern Monitore repariert.

Zugleich ist die Zahl der Plätze in den Werkstätten für Menschen mit Behinderung höher statt niedriger als noch in den 1990er-Jahren.

Viele Kritiker sagen: Firmen können sich einfach freikaufen. Das bedeutet: Sie zahlen Geld und müssen dann keine Menschen mit Behinderung einstellen. Mit dem Geld werden zum Beispiel:

• neue Projekte bezahlt;

• Forschungen gemacht;

• Arbeitsämter unterstützt, die Menschen mit Behinderung helfen.

Das bedeutet: Die Einrichtungen für Menschen mit Behinderung bekommen mehr Geld, wenn Firmen keine Menschen mit Behinderung einstellen. Seit Anfang 2024 müssen Firmen mehr Geld zahlen. Aber Experten glauben nicht, dass das viel ändert. 

Die Firmen können das Geld nämlich von der Steuer absetzen, müssen also dann weniger Steuern zahlen. Und die Firmen können bis zur Hälfte des Geldes sparen, wenn sie Aufträge an Behindertenwerkstätten geben.

Die Werkstätten für behinderte Menschen finden das gut. Sie sagen: So bekommen wir leichter Aufträge. Aber das Sozialministerium ist dagegen. Es sagt: Diese Regel macht es schwerer, dass Menschen mit Behinderung normale Arbeitsplätze finden.

Das Ministerium sagt auch: Viele Firmen wollen keine Menschen mit Behinderung einstellen. Sie sind nicht bereit, passende Arbeitsplätze zu schaffen. Es gibt noch andere Probleme. Viele Firmen stellen aus verschiedenen Gründen keine Menschen mit Behinderung ein:

• Sie finden die Anträge zu kompliziert.

• Es gibt viele rechtliche Regeln.

• Firmen können Menschen mit Behinderung nur schwer kündigen. Dafür brauchen sie eine besondere Erlaubnis.

• Manche Menschen in den Firmen haben Vorurteile.

Ein Mann, der früher in einer Werkstatt gearbeitet hat, erzählt: Er hat sich oft beworben. Ein Chef hat zu ihm gesagt: „Idioten stellen wir nicht ein.“ Danach arbeitete er 12 Jahre in einer Werkstatt. Dort reparierte er Computer-Bildschirme für eine große Firma.

Das sind alles Gründe, warum es mit der Inklusion nicht so gut klappt. In den Werkstätten für Menschen mit Behinderung gibt es heute sogar mehr Plätze als in den 1990er-Jahren. Das zeigen die Kurven in dieser Grafik: Die blaue Linie zeigt alle Plätze in Werkstätten, die grüne die Zahl der Menschen, die dort arbeiten.

Und das, obwohl laut einer Studie des Bundessozialministeriums zu Behindertenwerkstätten ein Drittel der Beschäftigten lieber auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten würde und Rehabilitation und Berufsvorbereitung zu den zentralen Aufgaben der Werkstätten gehören. Die Studie hält fest: Die Übergangsquote, also der Anteil derer, die aus einer Behindertenwerkstatt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt wechseln, ist „von 0,26 Prozent im Jahr 2015 lediglich auf 0,35 Prozent im Jahr 2019 gestiegen“. Je nach Berechnungsweise sind es knapp vier Prozent, aber viel hat sich nicht geändert, noch immer gelingt der überwiegenden Mehrheit der Wechsel nicht.

Hüppe sieht den gesetzlichen Auftrag der Werkstätten nicht erfüllt und fordert daher Konsequenzen: „Wenn die Übergangsquote so gering ist, muss der Staat auch die Möglichkeit haben zu prüfen und Bedingungen für das Geld stellen.“ Kontrollen gäbe es bislang keine, kritisiert er. Dass es anders geht, zeigt das Beispiel Hamburg, das als einziges Bundesland die Werkstätten nicht vorrangig nach der Zahl der besetzten Plätze finanziert. Stattdessen verhandelt die Behörde alle vier Jahre mit den Werkstattträgern über die Mittelvergabe. Das hat einen entscheidenden Effekt: Wenn die Zahl der in einer Einrichtung betreuten und beschäftigen Menschen sinkt, bedeutet das nicht automatisch weniger Geld für die jeweilige Werkstatt. Das nimmt den Trägern die Angst vor finanziellen Einbußen und schafft einen Anreiz, mehr Menschen in reguläre Anstellung zu bringen. Hamburg gehört zu den wenigen Bundesländern, in denen die Zahl der Werkstattplätze im Schnitt seit zehn Jahren kontinuierlich sinkt.

Bundesweit sieht es oft anders aus. Reformbedarf gebe es laut Hüppe auch bei der Verteilung der finanziellen Mittel, die Menschen mit Behinderung in den Werkstätten zugutekommen, die aber nicht an individuellen Bedürfnissen ausgerichtet sind, sondern gekoppelt an die Werkstätten selbst.

Eine Untersuchung vom Sozialministerium zeigt: Drei von zehn Menschen in den Werkstätten möchten lieber einen normalen Job haben. Und die Werkstätten sollen den Menschen eigentlich helfen, normale Jobs zu finden. Aber nur sehr wenige Menschen schaffen den Wechsel von der Werkstatt in einen normalen Job: weniger als 1 von 100 Menschen. Auch wenn man anders rechnet, sind es höchstens 4 von 100 Menschen.

Der Experte Hubert Hüppe sagt: Die Werkstätten erfüllen ihre Aufgabe nicht. Er erklärt:

• Die Werkstätten sollen nur dann Geld bekommen, wenn sie bestimmte Bedingungen erfüllen.

• Der Staat muss die Werkstätten besser kontrollieren. Bisher gibt es keine Kontrollen.

Hamburg macht es anders als andere Bundesländer:

• Die Werkstätten bekommen ihr Geld nicht nur dafür, dass sie viele Menschen aufnehmen.

• Die Behörde in Hamburg spricht alle 4 Jahre mit den Werkstätten darüber, wofür sie Geld bekommen.

• Wenn weniger Menschen in einer Werkstatt arbeiten, bekommt die Werkstatt nicht automatisch weniger Geld.

• Dadurch haben die Werkstätten keine Angst, Geld zu verlieren.

• Sie helfen den Menschen mehr dabei, normale Arbeitsplätze zu finden.

In Hamburg gibt es deswegen seit 10 Jahren immer weniger Plätze in Werkstätten. Das ist anders als in den meisten anderen Bundesländern.

Hubert Hüppe findet: Das Geld für Menschen mit Behinderung wird oft falsch verteilt:

• Das Geld geht direkt an die Werkstätten.

• Es richtet sich nicht danach, was jeder Mensch wirklich braucht.

Nach seiner Diagnose nutzen die Werkstätten finanzielle Fehlanreize gezielt, um Menschen in den Werkstätten zu halten. „Die Rente ist der größte Vorteil, weil sie weit über dem liegt, was jemand mit Mindestlohn bekommt“, sagt Hüppe. 

Auch das monatliche Arbeitsförderungsgeld (Afög) in Höhe von 52 Euro fällt mit dem Verlassen der Werkstatt weg. Viele schaffen auf dem ersten Arbeitsmarkt meist nur Teilzeit und landen dann oft doch in der Grundsicherung. Jeder Euro weniger tut da weh. Zwar heißt es im Koalitionsvertrag, dass der „Nachteilsausgleich auch bei Übergängen erhalten“ bleiben soll, für Hubert Hüppe ist das nicht konkret genug. „Das bedeutet, dass man aber erst in der Werkstatt gewesen sein muss. Wer erst gar nicht in die Werkstatt will und außerhalb versucht zu arbeiten, bekommt offensichtlich die Nachteilsausgleiche wie Rente und Arbeitsförderungsgeld nicht.“ Er sieht damit die Sondersysteme gestärkt.

6,5 Milliarden Euro Steuergeld fließen laut den Jahresberichten der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe (Bagüs) jährlich in das Werkstattsystem. Also auch in die Förderung der Werkstattbeschäftigten.

Die Werkstätten nutzen Geldvorteile, damit Menschen dort bleiben. Die Rente ist zum Beispiel ein großer Vorteil: Die Menschen bekommen eine gute Rente. Sie ist höher als bei einem normalen Job mit Mindestlohn. Die Menschen in Werkstätten bekommen auch 52 Euro extra im Monat. Das nennt man Arbeitsförderungsgeld.

Wenn Menschen die Werkstatt verlassen:

• Bekommen sie diese Vorteile nicht mehr.

• Arbeiten sie oft nur Teilzeit.

• Haben sie oft so wenig Geld, dass sie Hilfe vom Staat brauchen.

• Jeder Euro weniger ist ein dann ein Problem.

Die neue Regierung verspricht: Menschen sollen diese Vorteile behalten, wenn sie die Werkstatt verlassen. Aber Hüppe sagt: Das reicht nicht. Denn:

• Man muss erst in einer Werkstatt gewesen sein.

• Wer gleich einen normalen Job sucht, bekommt diese Vorteile nicht.

• Das macht die Werkstätten noch stärker.

Die Werkstätten bekommen jedes Jahr 6,5 Milliarden Euro vom Staat. Mit diesem Geld werden die Werkstätten bezahlt und die Menschen in den Werkstätten unterstützt.

In der Grafik sieht man: Die Werkstätten bekommen für jeden Menschen, der dort arbeitet, fast 19.000 Euro. So war das im Jahr 2022 (grüner Balken). Und sie haben in den letzten Jahren immer mehr Geld pro Beschäftigtem bekommen.

Pro Beschäftigten sind es im Schnitt rund 19 000 Euro im Jahr, die die Werkstätten erhalten – oder eben nicht mehr erhalten, wenn jemand auf den ersten Arbeitsmarkt wechselt. Auf Nachfrage widerspricht die BAG WfbM der Kritik, „die Nachteilsausgleiche als ‚Fehlanreiz‘ zu bezeichnen“, und verweist stattdessen auf das individuelle Wahlrecht der Menschen, in der Werkstatt zu bleiben. Fragt man bei den Werkstattvertretern nach, heißt es: Ein Anreiz, Menschen in der Werkstatt zu halten, sei nicht erkennbar. Vielmehr seien es strukturelle Hürden, die den Wechsel auf den ersten Arbeitsmarkt erschweren und man versuche eben „im Rahmen von dem System, was uns vorgegeben ist, das Bestmöglichste zu machen“.

Auch wenn Werkstätten die Kritik von sich weisen, der Rahmen, in dem sie arbeiten, ist kein Zufall. Er ist politisch gewachsen, bestätigt der ehemalige Behindertenbeauftragte Hüppe: „Die Werkstätten haben eine starke Lobby aufgebaut, ein Netzwerk in die Politik hinein und in die Kostenträgerseite.“ Gerade hier zeige sich das Drehtür-Prinzip zwischen Interessenvertretung und Politik besonders deutlich. Ein Beispiel: Im Saarland wurde der Landesgeschäftsführer der WfbM zum Landesbehindertenbeauftragten gewählt. „Interessenkonflikte waren und sind nicht erkenntlich“, erklärt der saarländische Landtag auf Nachfrage. Wenn man jemanden aus einer Sondereinrichtung zum Behindertenbeauftragten mache, dann müsse man sich nicht wundern, wenn die Sondereinrichtungen weiter gediehen, meint Hüppe allerdings.

Vorerst braucht es den Erhalt der Werkstätten, wie es die Koalitionäre festgehalten haben, zumindest bis die Inklusion in Deutschland ein paar Schritte weiter ist. Solange fließt viel Geld in ein System, das von den Vereinten Nationen in seiner jetzigen Form als menschenrechtswidrig eingestuft wird. Es braucht daher Reformen, mehr Rechte, bessere Bezahlung für die, die dort bleiben wollen (mehr dazu in diesem Teil der Serie) und gleichzeitig eine engere Begleitung für die, die gehen wollen, passgenauere Qualifikation und unabhängige, am Menschen orientierte Förderung (mehr dazu in diesem Teil der Serie). „Es braucht die Möglichkeit, dass dieselbe Unterstützung wie in der Werkstatt außerhalb bei einer Anstellung finanziert wird“, sagt etwa Professor Doose. „Ich würde mir wünschen, die Werkstatt nicht als Haus zu denken, sondern als ein Netzwerk für die Teilhabe von Menschen, die höheren Unterstützungsbedarf haben. Darin sehe ich die Zukunft.“

Wenn ein Mensch die Werkstatt verlässt, bekommen sie dieses Geld nicht mehr.

Die Werkstätten sagen:

• Niemand wird gezwungen zu bleiben.

• Jeder Mensch darf selbst entscheiden.

• Es gibt viele Hindernisse für einen normalen Job.

• Sie versuchen, das Beste aus den Regeln zu machen.

Aber Hüppe sagt:

• Die Werkstätten haben viele wichtige Kontakte.

• Sie haben Einfluss auf die Politik.

Ein Beispiel: Im Saarland wurde der Chef einer Werkstatt zum Beauftragten für Menschen mit Behinderung gewählt. Der Landtag sieht darin kein Problem. Der Landtag ist das Parlament in einem Bundesland. Hüppe findet: So bleiben die alten Einrichtungen stark.

Die neue Regierung will die Werkstätten erst mal behalten. Sie sollen bleiben, bis Deutschland besser für Menschen mit Behinderung wird. Aber die Vereinten Nationen sagen: Die Werkstätten verletzen Menschenrechte. Und die Werkstätten kosten viel Geld.

Deshalb muss sich vieles ändern:

• Menschen in Werkstätten brauchen mehr Rechte.

• Sie müssen mehr Geld bekommen (LINK 1).

• Wer einen normalen Job sucht, braucht bessere Hilfe.

• Die Ausbildung muss besser werden.

• Die Unterstützung muss sich mehr nach den Menschen richten (LINK 2).

Professor Doose sagt:

• Menschen sollten außerhalb der Werkstatt die gleiche Unterstützung bekommen wie in der Werkstatt.

• Werkstätten sollten wie ein Netzwerk arbeiten.

• Sie sollten Menschen helfen, überall zu arbeiten – nicht nur in der Werkstatt.

Professor Doose sagt: Das ist die Zukunft.

Den ersten Teil der Recherche zu Werkstätten für behinderte Menschen finden Sie hier:

Text: Sabrina Ebitsch, Natalie Sablowski; Recherche: Sabrina Ebitsch, Natalie Sablowski, Emilia Garbsch (andererseits), Nikolai Prodöhl (andererseits); Infografik: Sabrina Ebitsch; Digitales Design: Stefan Dimitrov; Digitales Storytelling: Natalie Sablowski; Redaktion: Caspar Busse; KI-unterstützte Übersetzung in einfache Sprache: Alessandro Alviani

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