Kartografie

Land in Sicht

Navigieren nur noch per App, niemand entfaltet mehr gedruckte Pläne? Stimmt nicht! Über die Geschichte, Vielfalt und Schönheit analoger Karten.

Kartografie

Land in Sicht

Navigieren nur noch per App, niemand entfaltet mehr gedruckte Pläne? Stimmt nicht! Über die Geschichte, Vielfalt und Schönheit analoger Karten.

5. Mai 2023

Klare Richtung

Man muss weder König noch Popstar sein, damit einem die Welt zu Füßen liegt. Es genügt, eine Landkarte vor sich auszubreiten. Und das Gebiet, das sie darstellt, mit den Augen zu erobern. Dabei dem Finger folgend, der forschend über die Karte fährt. 

Einen solchen Plan auf Papier zu betrachten – welchen Ausschnitt der Welt auch immer er darstellt –, ist etwas vollkommen anderes, als auf ein Display zu blicken. Zwar kommt man mit digitalen Navigationsdiensten längst verlässlich sowohl nach Halbhusten bei Gummersbach als auch auf einen beliebigen Gipfel in den Alpen.

Jedoch kann nur eine analoge Karte das Wichtigste bieten: einen Überblick. Nur sie vermittelt einen Eindruck von den geo- und topografischen Zusammenhängen. Und das sei doch das Wesentliche, sagt Regine Kiepert, wenn man irgendwo unterwegs ist, wo man sich kaum oder gar nicht auskennt. Kiepert leitet in Berlin die Spezialbuchhandlung „Schropp Land und Karte“. Das Unternehmen gibt es seit 1742. Globen, Atlanten, Fahrrad- und Wanderkarten: In Kugelform, gebunden und gefaltet passt die ganze Welt, nach den unterschiedlichsten Maßstäben verkleinert, mehrfach in dieses Ladenlokal in der Knesebeckstraße. Und allein seine Existenz zeigt: Karten auf Papier werden noch gebraucht und gekauft. Selbst die Bundeswehr gehört zu den Kunden. Ein Faible für gedruckte Karten als bloße Nostalgie abzutun, würde übrigens auch deren kommunikative Ebene verkennen: Am meisten Spaß macht es doch, sich gemeinsam über eine Karte zu beugen, um sie zu dechiffrieren.

Entlegenes Gebiet

Wenn Kartografen früherer Jahrhunderte nicht mehr weiterwussten, weil über entlegene Regionen kaum etwas bekannt war, schrieben sie gelegentlich „Hic sunt leones“ oder „Hic sunt dracones“ auf ihre Karten und malten noch irgendwelche schrecklichen Löwen- oder Drachenfiguren daneben. Eine Land- oder Seekarte war eben seit jeher auch dort eine Orientierungshilfe, wo sie keine verlässliche Auskünfte geben konnte über Küstenlinien oder Siedlungen: Bis hierher und nicht weiter! Andererseits war das ja der Ehrgeiz: Diese Linie, hinter der nichts Verbürgtes mehr kommt, immer weiter zu verschieben. Zwangsläufig ist die Geschichte der Kartografie also auch eine der Irrtümer, zudem der Ideengeschichten und Ideologien.

Gerardus Mercator hat Ende des 16. Jahrhunderts die erste Karte gestaltet, auf der der Nordpol im Mittelpunkt stand – als gigantischer magnetischer Felsen, umgeben von vier Ländern, die getrennt wurden von vier mächtigen Strömen, durch die das Wasser des Nordmeeres ins Erdinnere rauschte. Es gibt Karten, die Kalifornien als Insel zeigen und in Afrika ein nicht existierendes Gebirge ausweisen, die Kong-Berge. Im 18. Jahrhundert schwor der schottische Afrikareisende Mungo Park Stein auf Bein, sie gesehen zu haben. Und dann gibt es natürlich noch all die Karten, die keinen Hehl daraus machen, erfundene Welten darzustellen: Mittelerde aus Tolkiens „Herr der Ringe“ etwa oder der fiktive Kontinent Westeros aus „Game Of Thrones“.

Neue Perspektive

Geografische Gegebenheiten maßstabsgetreu darzustellen, ist nur eine Option von Karten. Im Grunde können sie nämlich alles zeigen – und sich dabei auch auf nur eine einzige Sache kaprizieren: Londons U-Bahn-Netz zum Beispiel, die Sehenswürdigkeiten in einer Stadt oder die Standorte einer bestimmten Fast-Food-Kette. Aber auch die Drehorte der wichtigsten New-York-Filme oder das Vorkommen von Rohstoffen.

Die Universität Sheffield hat 2006 eine Weltkarte veröffentlicht, auf der ein Land desto größer eingezeichnet ist, je mehr arme Menschen dort leben. Die USA und Europa sind also Karikaturen ihres Reichtums: magere Striche und Klekse. Indien, Bangladesch und Nigeria hingegen: dralle Gebilde. 

Mittlerweile Klassiker sind die Karten der Britin Katherine Baxter, die aus Straßenplänen von New York, Amsterdam oder Siena prägnante Gebäude und Plätze herausragen lässt: die Piazza del Campo oder einige besonders markante Hochhäuser an der Südspitze Manhattans. 

Vorsicht, weckt beim Anschauen akute Reiselust – nichts wie hin!

Neue Perspektive

Geografische Gegebenheiten maßstabsgetreu darzustellen, ist nur eine Option von Karten. Im Grunde können sie nämlich alles zeigen – und sich dabei auch auf nur eine einzige Sache kaprizieren: Londons U-Bahn-Netz zum Beispiel, die Sehenswürdigkeiten in einer Stadt oder die Standorte einer bestimmten Fast-Food-Kette. Aber auch die Drehorte der wichtigsten New-York-Filme oder das Vorkommen von Rohstoffen.

Die Universität Sheffield hat 2006 eine Weltkarte veröffentlicht, auf der ein Land desto größer eingezeichnet ist, je mehr arme Menschen dort leben. Die USA und Europa sind also Karikaturen ihres Reichtums: magere Striche und Klekse. Indien, Bangladesch und Nigeria hingegen: dralle Gebilde. 

Mittlerweile Klassiker sind die Karten der Britin Katherine Baxter, die aus Straßenplänen von New York, Amsterdam oder Siena prägnante Gebäude und Plätze herausragen lässt: die Piazza del Campo oder einige besonders markante Hochhäuser an der Südspitze Manhattans. 

Vorsicht, weckt beim Anschauen akute Reiselust – nichts wie hin!

Magische Linien

Karten wohnt eine große ästhetische Schönheit inne. Insofern erfüllen sie nicht nur informative, sondern auch dekorative Zwecke. Lange Zeit gehörte in jedes bildungsbürgerliche Bibliothekszimmer ein Globus. Heute gibt es Lampenschirme, Sofabezüge und Wandfliesen mit See- oder Landkartenmotiven oder Papeterie-Artikel wie Briefumschläge aus ausrangierten Atlas-Seiten.

Ein besonders geschmackvolles Tor zur Welt öffnet eine Tapete des italienischen Unternehmens Wallpepper aus Textilfasern mit Motiven einer alten Karte – in Mittelmeerblau natürlich. Wer zum Blau gerne Gelb-, Orange- sowie Rottöne hätte und dazu ein wenig Grün: Kunstdrucke von Jasper Johns berühmtem Gemälde „Map“, das die US-Staaten zeigt, gibt es auch in hoher Qualität. Das Original hängt im Museum of Modern Art in New York. Der Künstler Matthew Cusack wiederum verwendet Karten als Material: In Intarsienarbeiten formt er aus vielen Schnipseln Frauenporträts oder das Bild eines Gewitterhimmels. Eine beeindruckende Sammlung kreativer Karten von Illustratoren, Grafikern und Künstlern versammelt der Band „A Map of the World“ aus dem Gestalten-Verlag.

Geheime Orte

Nicht immer sollen Karten etwas offenbaren. Manchmal besteht ihre Aufgabe auch darin, die Dinge zu verrätseln und nur Eingeweihten zu enthüllen. Die Karte des Rumtreibers aus den Harry-Potter-Geschichten etwa ist nur denen von Nutzen, die die Zaubersprüche kennen, um sie zu aktivieren.

Und wer hat nicht als Kind Schatzkarten gezeichnet, womöglich inspiriert durch Robert Louis Stevensons Abenteuer-Roman „Die Schatzinsel“ oder die „Indiana Jones“-Filme, bei denen es ja gerade darum geht, dass nicht jeder den Schatz findet? Wobei das mit der Kunst des Entzifferns ohnehin so eine Sache ist: Manchen Menschen ist auch eine Straßenkarte nicht mehr als ein Ornament.

Team
Text Stefan Fischer
Bildredaktion Natalie Noemi Isser, Julia Hecht
Digitales Storytelling Christian Tönsmann