


Für die „Berlin Food Week“ inszeniert sich die Hauptstadt jedes Jahr im Herbst als großes kulinarisches Labor. Man versteht sich nicht als irgendein Genussfestival, sondern möchte Trends setzen und ein Bewusstsein für Qualität und Nachhaltigkeit schaffen, ja am liebsten gleich ein neues, planetenfreundliches Essverhalten. In diesem Oktober stand das Auftakt-Dinner unter dem Motto: „Ernährung der Zukunft“. Ein Thema, bei dem viele eher pflanzenbasierte Innovation erwarten würden; Gerichte aus Zuchtalgen oder Urgetreide vielleicht. Doch was servierte Marco Müller, höchstdekorierter Koch der Hauptstadt? Karpfen. Als Tatar mit anfermentiertem Rettich, geeisten Sauerrahm-Kügelchen und Holunderblütenaroma. Außerdem als Rippchen, mariniert mit Fischsauce und auf Holzkohle gegrillt.
Wenn das Raunen nicht nur unter den 60 geladenen Influencern und Journalisten am Berliner Dinner-Tisch groß war, dann auch, weil kaum ein Gericht so mit Vorurteilen behaftet ist wie Karpfen. Ist das nicht dieser große, fettige Fisch, den man vom Weihnachtsessen der Großeltern kannte? Der immer leicht schlammig schmeckte und unangenehm viele Gräten hatte? Ganz genau, und dieser Fisch erlebt gerade sein Comeback.

Sieben Jahre ist es her, dass der Karpfen erste Schlagzeilen machte mit der Nachricht, er sei der einzige Fisch, auf den sich die Umweltorganisationen Greenpeace und WWF in ihren Konsumratgebern noch als „uneingeschränkt empfehlenswert“ einigen konnten. Seitdem ist ein stetiger Imagewandel zu beobachten. Manchem gilt der Karpfen nun als nachhaltigster Fisch überhaupt. Plötzlich geht es auch darum, dass sein Fleisch mehr gesunde Omega-3-Fettsäuren enthält als Lachs. Und war Karpfen bislang eher als bodenständige Spezialität fränkischer Gasthäuser bekannt, so ist er nun in der Spitzenküche angekommen.
Der Nürnberger Sternekoch Felix Schneider etwa serviert feinstes Sashimi vom Karpfen nur mit Salz und geriebenem Rettich oder mit etwas Sojasauce bestrichen. Im österreichischen Restaurant „Triad“ garen sie den fangfrischen Fisch im Rauch über Buchenholzfeuer und bringen ihn als zarte Nocken mit Paprika-Kartoffelschaum. „Die Qualität des Karpfens ist in den letzten Jahren immer weiter gestiegen“, schwärmt Uwe Machreich, Küchenchef im Triad, in Österreichs Karpfenregion Waldviertel haben mittlerweile 70 Prozent der Züchter auf Biobetrieb umgestellt. Und der Berliner Marco Müller hat den Karpfen vor fünf Jahren gleich als ganzes Experimentierfeld entdeckt, auf dem sich viele hochklassige Gerichte entwickeln lassen.

Müller sitzt an einem Dezembernachmittag im „Rutz“, dem einzigen Drei-Sterne-Restaurant der Hauptstadt. Hinter ihm wirbeln Köche und Serviceleute, das Lokal in Berlin-Mitte ist auf Monate ausgebucht. Auch sonst ist hier alles so, wie man sich ein modernes Spitzenrestaurant vorstellt. Graue Wände, dunkles Holz, viel Beton, schwere Keramik. Das fleischlastige Acht-Gänge-Menü ist die gerade angesagte Mischung aus lokalen Zutaten und asiatischen bis skandinavischen Einflüssen. Und es lenkt etwas von Müllers neuer Liebe ab: der zu abgehangenem Fisch. Dieser ist nämlich längst nicht mehr das zweifelhafte Produkt, wie man es aus vielen Asterix-Bänden kennt („Mein Fisch stinkt nicht!“). Heute heißt alter Fisch „dry aged“ und reift nach der Schlachtung in speziellen Schränken. Nach ein paar Tagen hat man dann Fisch mit einem kräftigen, aber sehr unfischigen Aroma.

Der Koch bringt nun ein Tablett mit gereiften Bruststücken vom Karpfen. Sie sind rosig, und wenn es nach Marco Müller geht, ist Karpfen dann auch der neue Thunfisch, „oft sogar besser“. Ein Fisch, der „einen Stellenwert wie in der asiatischen Küche“ haben sollte. Zum Karpfen kam Müller wie die meisten Deutschen. Seine Oma hat ihn zu Weihnachten lebend gekauft und dann „mit einem Kilo Butter rausgebraten“ auf den Tisch gebracht. Den Kopf hat sie schon am Tag vorher abgetrennt und gekocht, das mochte er als Kind noch weniger als den Rest.
Vor fünf Jahren war Müller dann in Spanien zum Angeln und wurde buchstäblich angestupst, Neues zu versuchen. Als er im Wasser stand, streifte ihn ein 35-Kilo-Karpfen und brachte ihn auf die Idee: Aus diesem Fisch muss man mehr machen. Müller tat sich dann mit Fischern von der Müritz zusammen. Von ihnen lernte er, dass die Binnengewässer heute viel sauberer sind, man den Karpfen daraus also wunderbar essen kann. Dass man ihn eher im Winter fängt, weil dann das Wasser klarer ist und sein Fleisch weniger modrige Noten hat. Dass die größeren Karpfen eher fest und kernig schmecken, die kleineren „leicht und elegant“, was sie ideal für Sashimi macht.
Müller lässt die Karpfen nach der Ikejime-Methode schlachten, wie sie von Sushi-Meistern in Japan angewendet wird. Die Fische werden dabei mit gezielten Stichen in Hirn und Rückenmark getötet, das lässt sie stressärmer sterben, sofort ausbluten und ihr Fleisch besser reifen. Wenn Müller die Fische später verarbeitet, dann absolut alles davon. Nose-to-Fin – vom Maul bis zur Flosse.

Marco Müller öffnet ein Glas mit cornflakesfarbenen Crackern, die leicht nussig schmecken. Die erhält er, indem er aus dem Mittelstrang des Karpfens eine Farce macht, sie trocknet und zweimal herausbäckt. In einem anderen Glas ist eine karamellbraune Flüssigkeit – Garum aus Karpfen, also Fischsauce, die über Monate angesetzt wurde und die Müller auch zum Marinieren nutzt. Der Koch verwendet den Fischrogen ebenso wie die Fischmilch, die er in der Pfanne brät und die an Kalbsbries erinnert. Nur an einer Methode, die zähen Schuppen vom Karpfen zu „Crisps“, wie es sie vom Barsch gibt, zu verarbeiten, tüftelt der Koch noch.
Das alles klingt und schmeckt faszinierend, aber ist es nicht auch sehr nischig? Nein, sagt Müller, im Gegenteil. Er wolle „die regionale Muttiküche“, die Berlin ausmache, auf ein neues Level stellen, mit lokalen Produkten, die man kennt.
Nun muss allerdings auch der realistischste Spitzenkoch einräumen, dass die Breitenwirkung des Karpfens in Deutschland immer begrenzt war, was auch daran liegt, dass seine Zucht aufwendig ist. Er ist zwar anspruchslos, doch dafür braucht er, wie viele nachhaltige Produkte, Platz und Zeit. Mainstream war Karpfen höchstens mal in wenigen spezialisierten Regionen wie der Lausitz, der Oberpfalz oder in Franken.

Um mehr zu erfahren, fährt man in die fränkische Karpfenregion Aischgrund, nach Willersdorf, zum Landgasthof Rittmayer. Seit 600 Jahren und 15 Generationen kümmern sich die Rittmayers nun schon um diesen Fisch, um seine Zucht und seine Zubereitung im eigenen Restaurant. Die Römer brachten den Karpfen einst von Asien nach Europa, Karl der Große brachte ihn ins zu trockene Franken. Dort legte man Weiher als Wasserspeicher an, die der Fisch, der mit wenig Sauerstoff auskommt, sauber halten sollte.
Es ist Samstagmittag, Vorweihnachtszeit, im Landgasthof ist jeder der 140 Plätze besetzt. Gäste fahren auch die 50, 60 Kilometer aus Nürnberg oder Bayreuth, um hier zu essen, die meisten wählen ein Gericht von der wohl umfangreichsten Karpfenkarte des Landes. Georg Rittmayer steht ruhig hinter der vertäfelten Theke, delegiert, zapft Bier und muss oft Gäste vertrösten, die spontan um einen Tisch bitten. Zur Begrüßung kann er sich ein süffisantes Grinsen nicht verkneifen. „Schauen Sie sich doch um“, meint das Grinsen, „hier wusste man immer schon, dass der Karpfen gut ist.“ Denn natürlich freut es Rittmayer, wenn „sein“ Fisch nun mehr im Fokus steht, „aber man muss auch klar sagen, dass die Sterneköche den Karpfen immer abgelehnt haben, für die war das nie ein feiner Fisch. Erst seit er als nachhaltig gilt, springen die auf den Trend auf“.

Natürlich hat auch Rittmayer die Empfehlung von Greenpeace und WWF auf der Speisekarte vermerkt. Er bietet Traditionelles an wie Karpfen „blau“, „gebacken“ oder „Müllerin“. Aber es gibt auch ungewöhnlichere Teller wie das „Dreierlei“ aus feiner Karpfen-Mousse, Sülze und geräuchertem Fisch. Und Rittmayers Karpfen-Chips, panierte und knusprig ausgebackene Filetabschnitte mit Knoblauch-Sauerrahm, lassen jeden frittierten Tintenfischring langweilig wirken.
Georg Rittmayer selbst isst am liebsten „Karpfen natur“ vom Grill. Auch weil da zur Geltung komme, „wie gut sein Fleisch ist“, fest und nussig bis grasig. Rittmayer gefällt, dass „man schmecken kann, wo der Karpfen herkommt, ähnlich wie bei Weinlagen“. Ob er aus einem sonnigen, also nährstoffreicheren Weiher stamme oder aus einem schattigen, aus einem mit sandigem oder lehmigem Grund. Für manche Menschen sei das ungewohnt, weil sie nur Fisch aus der Aquakultur kennen. Der Karpfen gründelt viel, er sei „sehr naturnah“, sagt Rittmayer. Doch wenn er tatsächlich mal schlammig schmecke, dann sei der Teich nicht in Ordnung, habe vielleicht Fäulschlämme. Die Angst vor dem Moder-Aroma sei heute unberechtigt, „die stammt aus einer Zeit, in der man Karpfen sogar im Dorfweiher hielt. Was da alles eingeleitet wurde, wollte man lieber nicht wissen“.

Als der Andrang im Restaurant abebbt, schlägt Georg Rittmayer vor, zu den Teichen zu fahren. Zehn Stück hat er, jeder einen Hektar groß, verbunden durch einen Bachlauf, er umrundet sie im Auto. 600 Fische lässt er in jeden Weiher setzen, in der Forellenzucht oder Aquakultur für Lachse ist die Dichte zehnmal so hoch. Bei Raubfischen wie Forelle oder Lachs wird oft Fischmehl zugefüttert, bei Karpfen reicht etwas Getreide. „Der Fisch braucht eigentlich kaum was“, sagt Rittmayer. Er arbeitet nach Biostandards, lässt den Betrieb aber nicht zertifizieren, weil er manchmal Fisch zukaufen muss, damit es fürs Restaurant überhaupt reicht. Drei Jahre wächst der Karpfen bei ihm, bis er anderthalb Kilo hat, 15 Prozent der Jungfische holt sich der Kormoran, am Ende hat Rittmayer dann 750 Kilo Fisch pro Teich. Ein Aufwand, für den „Karpfen eigentlich mehr kosten müsste als Rinderfilet“, sagt der Wirt. Würde hier auf dem Land aber niemand zahlen, ab 11,50 Euro verlangt Rittmayer für den gebackenen Fisch.

Der Karpfen ist Liebhaberei. Und wer neben der Zucht noch ein Gasthaus hat, wie in Franken lange üblich, schafft das nur im Familienbetrieb, anders rechnet es sich kaum. „Das hat auch ein bisschen was von Leibeigenschaft“, witzelt Georg Rittmayer, bevor er sich verabschiedet, um im Gasthaus die Abendschicht vorzubereiten. Vielleicht war es also höchste Zeit, dass der Karpfen wieder mehr Wertschätzung erfährt. Dass manche Züchter ihn nun einfacher auch in der Stadt verkaufen. Es muss ja nicht immer gleich Sternekarpfen sein.