Gleiches gilt für die eben gesehene Kollektion. Es war erst Hearsts zweite für Chloé, die erste vor Publikum. Wenn man nicht wüsste, dass diese so schmale wie drahtige Person (verheiratet tatsächlich mit einem Enkel von „Citizen Kane“ alias William Randolph Hearst) auf einer Ranch in Urugay aufgewachsen ist, Schafe geschoren und Broncos zugeritten hat, so hätte man es hier gesehen: in einem mit Lederbändern gesäumten blauen Wildledermantel, einem wadenlangen Patchwork-Rock, wollenen Ponchos, Fransen, Flechttaschen in den Farben sonnendurchglühter Natur. Dies alles naturellement durch die Brille des Hauses Chloé betrachtet, von dem es heißt, es mache immer noch die chicsten und französischsten Kleider von Paris.
Der Eindruck, dass vieles handgemacht ist, bestätigt sich auf Nachfrage, und nicht nur das. Die Nachhaltigkeit, die Gabriela Hearst bei ihrem eigenen Label verfolgt, hat sie auch Chloé verordnet: Stoffreste wurden verarbeitet, Flipflops zu Schuhsohlen recycelt, Lieferketten reduziert. An den Preis für die gute Sache will man lieber nicht denken (ein Hearst-Poncho aus Kaschmir und Seide kostet bei Chloé aktuell 2990 Euro). Aber manchmal reicht auch Schauen und Anfassen, um ganz ohne Besitz so etwas wie Glück zu empfinden.
Die Pariser Fashion Week für Frühjahr 2022 also, endlich wieder, nach zwei digitalen Saisons. Ausnahmezustand! Es ist ein allumfassendes Quetschen und Quieken, Bodychecken und Busseln, Schubsen und Charmieren. Darwinismus à la mode also: Kampf auf Leben und Tod, aber höflich. Die Battle um den Einlass zu den immer noch wenigen Shows wird mit allen Mitteln ausgetragen, mal fordert eine apokalyptische Lederlady den Türsteher auf, ihr Outfit zu verifizieren („All Rick Owens, don’t you see?!“), mal behauptet eine von Kopf bis Fuß in Dior gehüllte Rothaarige, mit der Tochter des Eigentümers verabredet zu sein („I’m sitting next to Delphine Arnault! Let me in!!!“). So weit, so verzweifelt. Die Laufstege hingegen: Schallallah.
Sollte dereinst die Frage aufgeworfen werden, wie die Mode den Wiederaustritt aus der Pandemie absolvierte, so würde die Antwort lauten: mit einem Strahlen. Die Farben sind wie frisch gewaschen – Blutorange, Zitrusgelb, Feuerrot, Limonengrün zum Anbeißen –, die Silhouetten von überflüssigem Gedöns entschlackt und insgesamt entschlabbert. Es ist die Wiedergeburt dessen, was man in der Mode „Tailoring“ nennt: Stoff, der mit den Mitteln der Schneiderkunst in eine endgültig rigide Form gebracht wurde. Beispiel Dior.
Für den Extra-Punch hat die Designerin noch ein paar Denimteile und Boxershorts mit Trainingsleibchen beigemischt. Wie viele Miniröcke waren eigentlich darunter? Ach, komm – zu viele, sie zu zählen!
Diesen Optimismus, diese fast schon störrische Zukunftsgläubigkeit, den unbedingten Willen, jetzt endlich wieder Spaß zu haben, sieht man in Paris überall. Wie auch nicht? Jetzt, wo wir endlich aus unseren Seuchenhöhlen gekrochen kommen, muss dort draußen doch etwas Köstliches auf uns warten, niemals zuvor waren wir uns mit den Designern einiger!
Luxus, Sex, Hedonismus: Die alten Selbstverständlichkeiten sind die neuen Sehnsüchte der Mode. Nun kann man sich fragen: Hat der Balenciaga-Designer Demna Gvasalia irgendwas nicht mitgekriegt oder gefällt er sich einfach hartnäckig darin, anders zu sein? Die Kleider jedenfalls sind ein Aufguss des Altbekannten, so schwarz, voluminös und glamourös straßenköterhaft wie immer: breiteste Schultern, Hoodies, Trainingsanzüge, Zeltkleider.
Die Kollektion ist es gewiss nicht, die in Erinnerung bleiben wird. Aber die Show. Sie ist ein Meisterwerk der Täuschung. Drinnen im Théâtre du Châtelet sitzen die Modemenschen und schwätzen, während auf der Leinwand das Eintreffen der Gäste auf dem Red Carpet übertragen wird. Irgendwann Applaus von der Empore, da rucken nach und nach die Köpfe hoch. Und schau an: Draußen auf dem roten Teppich läuft längst die Fashion Show mit Models wie Isabelle Huppert, Cardi B und Jürgen Teller, live in der Front Row bejubelt von den Zaungästen am Absperrgitter, während die Branche drinnen auf ihren exklusiven Plätzen verblüfft auf die Leinwand starrt.
Das war es jedoch noch lange nicht. Gvasalia, ein lebenslanger „Simpsons“-Fan, hat in der Pandemie nämlich Matt Groening angeschrieben: Ob er sich vorstellen könne, eine „Simpsons“-Folge zu zeichnen, in der er, Demna, in Springfield nach Models für seine nächste Show suche? Es folgt der lustigste 10-Minuten-Film der Mode: Marge passt in ihrem Balenciaga-Dress nicht durch die Tür, Homer fällt in Ohnmacht, als er das Preisschild sieht (19 000 Dollar), aber am Ende staksen und kullern die Einwohner von Springfield allesamt über den Laufsteg, und in der Front Row vergießt die gelbe Anna Wintour eine Träne, die sogleich zum Parfum „Wintour no. 9“ abgefüllt wird.
Spaßbremsen würden jetzt anmerken, dass dies nicht die stärkste Pariser Saison ist, dafür fehlt ihr der Mut und die Radikalität, die wirklich stilbildende Kollektionen erst möglich machen. Aber es ist gewiss eine der ausgelassensten, und sie bringt ungewöhnliche Show-Formate hervor. Bei Valentino laufen die Models nicht nur durch den Carreau du Temple, sondern auch draußen über die Straße, an den vollbesetzten Cafés des Marais vorbei. Bei Balmain feiert Olivier Rousteing sein zehnjähriges Designerjubiläum mit früheren Supermodels wie Naomi Campbell, Milla Jovovich und der Ex-Première-Dame Carla Bruno-Sarkozy – in einer Konzerthalle vor 6000 ganz normalen Zuschauern.
Ganz so demokratisch geht es bei Chanel nicht zu, im Gegenteil: Mit nur 600 statt wie sonst üblich 2500 geladenen Gästen ist die Show eine fast schon intime Angelegenheit. Es gibt einen kurzen, erhöhten Laufsteg, an dem aufgereiht die Fotografen stehen, vorne schmeißen sich die Models in Pose, machen Drehungen und - lächeln!
Von solch charmanten Einfällen abgesehen, ist nach der Pandemie alles exakt wie vor der Pandemie. Nichts von dem, was gemunkelt wurde, ist eingetroffen. Man wollte weniger und nachhaltigere Kollektionen machen. Man wollte Sommerkleidung im Sommer verkaufen und Winterkleidung im Winter, nicht umgekehrt. Man dachte sogar darüber nach, die Fashion Weeks ganz abzuschaffen – wozu ein paar Tausend Menschen zweimal jährlich kreuz und quer über den Planeten jetten lassen, wenn sie genauso gut auch vor dem Bildschirm sitzen können? Pustekuchen. An dem Live-Erlebnis einer echten Show führt in der Mode kein Weg vorbei, die Pandemie hat es gezeigt. Davon abgesehen ist das Geschäft genauso fiebrig, gierig und totalbeschleunigt wie immer.
Obwohl – am Abend des allerletzten Tages ist es genau dies einmal nicht, denn da schaut die Branche eine Stunde lang zurück auf einen der Ihren. Im April ist in Paris der vielleicht netteste und beliebteste Mensch der Mode, der langjährige Lanvin-Designer Alber Elbaz, an Covid-19 gestorben. Kurz zuvor hatte er noch sein eigenes Label AZ Factory gegründet, das Atelier hat nun eine Show zu seinem Gedenken organisiert. Von A wie Alaia bis Y wie Y/Project hat praktisch jedes namhafte Haus ein Kleid beigesteuert, 45 sind es insgesamt. Man sieht viel Pink und rote Fliegen, die Robe von Jean Paul Gaultier ist ganz aus Herzchen gemacht, auf dem Umhang von Lanvin prangt als Fotoprint das runde, glücklich Alber-Gesicht.
Seine Lebensphilosophie hatte er von seiner Mutter: „Wir müssen geben und bekommen dafür etwas, und wenn wir etwas bekommen, geben wir. Es muss beides sein.“ Das wäre doch mal kein schlechtes Motto für die Mode, also optimistisch gedacht.