„Die Mütter hassen, was wir tun“

Simon Billy, der schnellste Skifahrer der Welt, ist in Vars in den Hautes-Alpes aufgewachsen, dem Zentrum des Speedskiings. Mit 255,5 Stundenkilometern hält er den neuen Rekord – für Schussfahrten ins Risiko.

„Die Mütter hassen, was wir tun“

Simon Billy, der schnellste Skifahrer der Welt, ist in Vars in den Hautes-Alpes aufgewachsen, dem Zentrum des Speedskiings. Mit 255,5 Stundenkilometern hält er den neuen Rekord – für Schussfahrten ins Risiko.

Von Mona Marko
3. April 2023 - 4 Min. Lesezeit

Über eine Stunde hat es gedauert, bis sich Simon Billy in den glänzenden chiliroten Latexanzug gezwängt hat. Und in weniger als 20 Sekunden war dann alles vorbei. Der französische Speedskifahrer hat Ende März bei der Weltmeisterschaft in seiner Heimat Vars mit einer Geschwindigkeit von 255,5 Kilometern pro Stunde den Weltrekord gebrochen. Damit ist er offiziell der schnellste Mensch auf Skiern. 

Das Video von der Fahrt zeigt einen Skifahrer, der in futuristischem Outfit mit windschnittigem Helm, gebogenen Skistöcken, langen, breiten Skiern in tiefer Schussposition pfeilgerade eine Piste in den französischen Alpen hinunterschießt.

Das Video von der Fahrt zeigt einen Skifahrer, der in futuristischem Outfit mit windschnittigem Helm, gebogenen Skistöcken, langen, breiten Skiern in tiefer Schussposition pfeilgerade eine Piste in den französischen Alpen hinunterschießt.

Im Zielauslauf stürzt Billy und kracht ins Netz. Er sieht erst gar nicht, was er gerade geschafft hat, dann vernimmt er den Jubel. „Ich war ganz allein in meinem Helm, habe die dumpfen Schreie gehört und habe mir diese Minute gegeben – für mich“, erzählt Billy im Videotelefonat. Es war „der Run meines Lebens“.

Billy, 31, ist in Vars aufgewachsen. Im Alter von zwei Jahren stand er auf Skiern, mit sechs schoss er erstmals eine Speedski-Strecke hinab. Er ist damit groß geworden, seinem Vater beim Rekordbrechen zuzusehen. Philippe Billy hat 1997 den Weltrekord mit 243 km/h aufgestellt. Auf der selben Strecke, auf der es ihm 26 Jahre später sein Sohn gleichtat. Auch der Bruder war professioneller Speedskifahrer, bis er vor wenigen Jahren stürzte, sich schwer verletzte und seine Karriere beendete.

Simon Billy hat es auch schon erwischt. 2017 ist er bei einer Geschwindigkeit von 245 km/h gestürzt. „Zum Glück ist nichts Schlimmes passiert“, sagt er – was man relativ sehen kann, wenn er die Verletzungen aufzählt, die er sich bei dem Unfall zugezogen hat: „Ich habe mein Knie gebrochen, mein Sprunggelenk, meinen Zeh, meinen Ellbogen hab ich ausgerenkt.“ Acht Monate lang dauerte die Reha. Dann kam die Lust nach der Schnelligkeit zurück: „Wie eine Welle hat mich das gepackt. Ich wollte unbedingt wieder auf die Piste zurück.“ Anfangs hatte er höllisch Angst. Erst mit der Zeit sei die mentale Stärke, die es für die Hochgeschwindigkeit brauche, zurückgekommen.

Im kleinen Wintersportort Vars in den Hautes-Alpes kennt Billy fast jeder, sagt er. „Ich habe immer einen Stift dabei, weil die Kinder Autogramme auf ihren Helmen und Skiern wollen.“ Die Sportart hat hier Tradition. In Vars befindet sich auf über 2700 Höhenmetern die berühmteste Speedskiing-Strecke der Welt. Viele Kinder wachsen mit demselben Traum auf: Einmal die große Speedski-Piste hinunterfahren, einmal Rekorde brechen.

„Die Mütter hassen, was wir tun“, sagt Billy und lacht: „Die sorgen sich unheimlich um uns. Meine Mutter hat noch nie bei einem Rennen zugesehen.“ Dabei dreht sich im Hause Billy alles um Geschwindigkeit. Stunden, Tage, Wochen verbringen die Billy-Männer im Windkanal und arbeiten mit Ingenieuren an der Position und Ausrüstung. Jeder Millimeter zählt. Schon der Helm kann mehrere km/h Unterschied machen. Über 50 Paar Ski reihen sich im Keller der Billys aneinander. „Wir wachsen die Skier, dann testen wir sie, dann wachsen wir sie wieder und testen sie – Speedskiing ist wie eine Wissenschaft“, sagt Simon Billy. Die Extremsportler trainieren hart, um den Geschwindigkeiten standhalten zu können. Besonders der Rumpf und die Beine spielen eine wichtige Rolle und müssen bei den Kräften, die auf den Körper einwirken, Stabilität geben.

Bei den Olympischen Winterspielen 1992 in Albertville war Speedskiing eine Demonstrationssportart. Billys Vater war damals Vorläufer. Doch das Rennen wurde von dem tödlichen Unfall des Schweizers Nicolas Bochatay überschattet, der auf einer öffentlichen Piste mit einer Pistenraupe kollidierte und starb.

Nur Weltrekorde und Stürze bringen Speedskiing in die Schlagzeilen

Außerhalb von Vars wird die Sportart Speedskiing kaum beachtet. Die Szene ist klein. Die selben Menschen treffen sich in den selben Orten, auf den selben Strecken. Billy spricht von „engen Freunden“, wenn er über seine Kontrahenten spricht; er hat im Ziel von Vars in den Armen seines stärksten Konkurrenten Simone Origone vor Freude geweint. „Wir können es uns gar nicht leisten, egoistisch und nur aufs Gewinnen aus zu sein, dafür ist es zu gefährlich.“ Die weltweit wenigen Athleten und Betreuer müssen einander vertrauen können. Der Internationale Ski- und Snowboardverband Fis reglementiert das Geschwindigkeitsskifahren zwar, es werden auch Fis-Weltcups ausgetragen, aber die Organisation liegt bei den Aktiven und ihren Teams. „Wir müssen uns um die Strecken kümmern, um die Sicherheit, um das Training“, sagt Billy.

Geld verdienen die Athleten mit ihrer Sportart kaum. Alle haben normale Jobs. Billy leitet mit seinem Vater ein Immobilienunternehmen. „Speedskiing ist nicht lukrativ, man macht das aus Leidenschaft“, sagt er. Nur wenn ein Weltrekord gebrochen wird oder jemand schwer stürzt, schaffen es die Videos in die sozialen Medien und in die Schlagzeilen. „Deshalb ist mein Rekord auch so wichtig, er bringt Aufmerksamkeit“, sagt Billy.

Das Material hat sich in den vergangenen Jahren erheblich verändert. Seit der US-Amerikaner Steve Mc Kinney 1978 die 200-km/h-Marke überbot, werden alle paar Jahre Weltrekorde gebrochen. „Die alpinen Rennsportler belächeln uns oft und sagen, wir würden uns nur auf die Ski stellen und gerade runterfahren“, sagt Billy. „Doch das sagen sie spätestens dann nicht mehr, wenn sie es mal selbst ausprobiert haben.“ Meist haben die Speedski-Athleten nur ein kleines Zeitfenster im Jahr, in dem die Verhältnisse optimal sind. Am Tag X muss alles stimmen, die Wetterbedingungen und der Schnee. „Der darf nicht zu feucht sein, muss perfekt präpariert sein,“ erklärt Weltrekordler Billy. Beim diesjährigen Rennen in Vars waren es 30 Minuten, in denen alles schnell gehen musste: „Plötzlich stand ich am Start, und aus irgendeinem Grund war ich tiefenentspannt.“

Seit dem Tag läuft sein Handy heiß, das Video der Fahrt ging um die Welt. Billy möchte seinen gefährlichen Sport künftig im Fernsehen und bei den Olympischen Spielen sehen – nicht nur als Demonstrationssportart. „Und ich glaube, das kann funktionieren: Menschen lieben Geschwindigkeit“, sagt Billy. Bis dahin will er weiter Rekorde brechen. Der nächste Plan: „Ich möchte die 260 km/h-Marke knacken.“

Team
Text Mona Marko
Digitales Storytelling Thomas Gröbner