Paralympics

Der Sound von Paris

Auch die Paralympics sind das Fest der schönen Bilder und Kulissen.

Die Triathletin Anja Renner sieht nur noch zehn Prozent.

Sie hat deshalb wie viele Athleten mit Sehbehinderung genau hingehört – und sich die Spiele auf ihre Weise erschlossen.

Paralympics

Der Sound von Paris

Auch die Paralympics sind das Fest der schönen Bilder und Kulissen.

Die Triathletin Anja Renner sieht nur noch zehn Prozent.

Sie hat deshalb wie viele Athleten mit Sehbehinderung genau hingehört – und sich die Spiele auf ihre Weise erschlossen.

6. September 2024 - 7 Min. Lesezeit

Dort, wo Anja Renner eine Bronzemedaille im Triathlon gewonnen hat, an einem der berühmtesten Orte der Spiele von Paris, setzt sie sich auf eine Bank im Schatten.

Zu ihrer Linken, auf dem Pfeiler auf der Brücke der Seine, hat sie eben etwas Goldenes erkannt, könnte ein Engel sein. Zu ihrer Rechten, klar: „Der Eiffelturm müsste auch irgendwo hier rumstehen.“ Sie lächelt.

Ein Nachmittag während der Paralympics, der Triathlon ist zwei Tage her. Wie bei Olympia haben sie das Rennen aufgrund der mindestens gewöhnungsbedürftigen Wasserqualität um einen Tag verschoben und dann durchgezogen, die Bakterienwerte waren wohl okay. Die Bilder waren wieder großartig, vom Start und Ziel am Pont Alexandre III., der Brücke mit den vier vergoldeten Bronzestatuen, von der Schlussgeraden mit dem Invalidendom als Kulisse. Der blaue Teppich, der als Laufbahn diente, liegt noch aus, aber die Brücke ist mit Bauzäunen versperrt. Drum herum der wie immer wuselige Alltag der Stadt, Autos hupen, Radfahrer rasen.

Anja Renner, 38, steht jetzt an der Brücke, streckt ihren Arm aus, zeigt mit dem Daumen nach oben. Den könne sie noch sehen, erklärt sie, wie durch zwei Klopapierrollen. Drumherum sei alles mit einem Grauschleier versehen, als würde man versuchen, durch Frischhaltefolie zu blicken. Sie hat das Usher-Syndrom, eine Hörschädigung in Verbindung mit einer Degeneration der Netzhaut, eine genetische Erkrankung. Sie nutzt ein Hörgerät, ihr Sichtfeld beträgt noch etwa ein Zehntel im Vergleich zu gesunden Augen und wird im Laufe der Jahre immer kleiner, bis es irgendwann womöglich ganz verschwindet. Den Triathlon hat sie mit ihrem Guide, Maria Paulig, zusammen absolviert.

Wenn sie hier steht, ein bisschen von der Brücke sieht, dann fühle sie „Stolz, Freude und Dankbarkeit, dass ich ein Teil von diesem Rennen sein durfte“, bei ihren ersten Paralympics. Sie sagt: „Ich habe es durchweg genossen.“

Die Spiele für Menschen mit Behinderung in Paris, das sind – wie der olympische Vorgänger – die Spiele der Bilder.

Im Grand Palais findet das Rollstuhlfechten statt.

Vor dem Eiffelturm spielen die Blindenfußballer.

Wettkampfstätten verschmelzen mit den grandiosen Bauwerken der Stadt.

Im Grand Palais findet das Rollstuhlfechten statt.

Vor dem Eiffelturm spielen die Blindenfußballer.

Wettkampfstätten verschmelzen mit den grandiosen Bauwerken der Stadt.

Wie üblich bei den an außergewöhnlichen Lebensgeschichten und Lebensleistungen reichen Paralympics sind sie auch ein Sportfest der Botschaften. Das begann schon bei der Eröffnungsfeier, als Andrew Parsons, der Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC), in seiner Rede eine „Revolution der Inklusion“ ausrief. Parsons ist in der speziellen Gattung der Sportfunktionäre eher der Typ Marktschreier, Weltrekorde werden in seiner Diktion „zertrümmert“.

Wie Parsons so dastand und sprach auf der Place de la Concorde, wie sich Botschaft und Bilder vermischten, da drängten sich zumindest für einen naiven Sehenden die Fragen auf:

Wie nehmen all das die vielen paralympischen Athletinnen und Athleten wahr, die mit dem Sehen Schwierigkeiten haben? Wie erschließen sie sich die Besonderheit dieser Spiele?

Wie nehmen all das die vielen paralympischen Athletinnen und Athleten wahr, die mit dem Sehen Schwierigkeiten haben? Wie erschließen sie sich die Besonderheit dieser Spiele?

Anja Renner hat von den Worten des Inklusionsrevolutionärs nichts mitbekommen, sie war nicht bei der Eröffnungsfeier, solche Massenveranstaltungen stellen für sie eine Herausforderung dar; viele Athleten mit Sehbehinderung seien im paralympischen Dorf geblieben, sagt sie. Außerdem musste sie sich auf ihren Wettkampf vorbereiten.

Verena Bentele war da, bei der Feier. Klar, sagt sie, viel beschäftigt, aber gut gelaunt am Telefon, könne sie zu dem Thema etwas sagen, „ich erkläre mein Leben ohne zu sehen ja jeden Tag mehrfach“. Bentele, 42, ist zwölfmalige Winter-Paralympicssiegerin, war Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, ist inzwischen die Präsidentin des Sozialverbands VdK und wohl eine der bekanntesten blinden Frauen in Deutschland.

Sie war schon zu Olympia ein paar Tage in Paris, zu den Paralympics kam sie noch mal hierher. Anders als Anja Renner sieht sie nichts, und das von Geburt an, sie musste sich die Dinge also schon immer beschreiben lassen. Die Eröffnungsfeier, erzählt sie, habe sie mit einem Kopfhörer im Ohr verfolgt, habe hin- und hergewechselt zwischen der Audio-Deskription im ZDF-Livestream und jener, die von den Organisatoren in Paris angeboten wird.

Sie hörte dann unter anderem, wie eine blinde Frau in einem Film, der auf einer Leinwand gegenüber vom Obelisken gezeigt wurde, ihre Leidenschaft für Mode erklärte, die nichts mit dem Aussehen zu tun habe, sondern mit dem Gefühl auf der Haut. Es war eine sehr eindrückliche Schilderung, für Bentele natürlich nichts Neues. Aber sie freute sich über den Facettenreichtum.

Beim Blindenfußball muss Ruhe herrschen – damit die Spieler den klingelnden Ball hören

Was ihr in Paris besonders gefallen hat, waren die für die Spiele auf den großen Plätzen mitten in der Stadt aufgebauten Wettkampfstätten, zwischen Touristenschlangen und Menschen auf dem Weg zur Arbeit, beides erkennt sie am Hören. Dazu keine Wände wie in einem Stadion, kein Widerhall und trotzdem der Lärm vieler Zuschauer: „total beeindruckend“.

Zudem hat sie sich viel von Begleitpersonen schildern lassen. Dabei gehe es dann meist um das Geschehen auf dem Feld, um Tischtennis oder Rollstuhlbasketball, man solle sich das jetzt bitte nicht zu blumig vorstellen. Aber sie habe ihren Freund schon auch um die genaue Beschreibung gebeten, wie nah der Eiffelturm hinter dem olympischen Beachvolleyballstadion stand, wie er aussah, wie die Sonne den Turm anschien, wie ihn die Sportler während des Wettkampfs zwangsläufig ständig anschauten.

Dort, wo bei Olympia Beachvolleyball gespielt wurde, ist auch während der Paralympics ein emotionales Zentrum, die Blindenfußballer sind eingezogen.

Das französische Team spielt meistens abends vor dem erleuchteten Eiffelturm, die Hütte ist voll, und so viel Pathos sei gestattet: Schöner geht’s nicht. Wer den paralympischen Geist sucht, dürfte hier fündig werden.

Die französischen Fans feiern, sie singen „Aux Champs-Elysées“, klar. Sie machen aber während der Spielzeit, wenn beim Blindenfußball Ruhe herrschen muss, damit die Spieler den klingelnden Ball und ihre Kommandos hören, auch mal eine stille La-Ola.

Die Zuschauer lassen sich also auf diesen Sport ein, bei dem die Spieler mit verbundenen Augen manchmal den Ball mit den Fußinnenseiten dribbeln, dass es nach Tanzen aussieht, sich manchmal aber auch über den Haufen rennen.

Die Fans halten wie bei Olympia Plakate mit den Gesichtern der französischen Spieler im Großformat hoch.

Das französische Team spielt meistens abends vor dem erleuchteten Eiffelturm, die Hütte ist voll, und so viel Pathos sei gestattet: Schöner geht’s nicht. Wer den paralympischen Geist sucht, dürfte hier fündig werden.

Die französischen Fans feiern, sie singen „Aux Champs-Elysées“, klar. Sie machen aber während der Spielzeit, wenn beim Blindenfußball Ruhe herrschen muss, damit die Spieler den klingelnden Ball und ihre Kommandos hören, auch mal eine stille La-Ola.

Die Zuschauer lassen sich also auf diesen Sport ein, bei dem die Spieler mit verbundenen Augen manchmal den Ball mit den Fußinnenseiten dribbeln, dass es nach Tanzen aussieht, sich manchmal aber auch über den Haufen rennen.

Die Fans halten wie bei Olympia Plakate mit den Gesichtern der französischen Spieler im Großformat hoch.

Die Triathletin Anja Renner hat sich von der Atmosphäre auch berichten lassen, aber, das sagt sie eingangs des Gesprächs: Noch sieht sie ja schon, und sie nutzt alles davon aus, was geht. Sie kann sich ihr Rennen zum Beispiel auch noch mal in Ruhe auf Video und Fotos anschauen. Aber den Wettkampf hat sie weitaus mehr mit den übrigen Sinnen wahrgenommen als mit der ihr verbliebenen Sehkraft. Beim Schwimmen, erzählt sie, habe sie etwa die anderen Athleten neben sich gespürt, das Band, das sie mit ihrem Guide verbindet, an den Bojen vor der Wende ein Tippen auf ihrem Kopf, das verabredete Signal. Die Kühle, wenn sie unter einer Brücke schwammen. Sie schluckte das Wasser der Seine und zitiert nun einen Teamkollegen, mit dem sie in der Sache übereinstimmt: „Schmeckt besser als das gechlorte Leitungswasser von Paris.“

Im vergangenen Jahr, bei einem Testwettkampf, war sie nach dem Schwimmen in der Seine noch krank geworden, wie einige Olympiasportler in diesem Sommer. Diesmal scheint alles gut gegangen zu sein. Wobei sie für ihr Ziel von einer Paralympics-Medaille selbstverständlich auch eine Magenverstimmung in Kauf genommen hätte. Dafür war sie ihr zu wichtig.

Renner war 25, als sie die Diagnose bekam, dass ihre Erkrankung nicht nur ihr Gehör, sondern auch ihre Sehkraft beeinträchtigen und diese immer weiter verringern wird. Davor hatte sie noch gut gesehen, nun musste sie sich nach und nach von vielem verabschieden, was sie nicht mehr tun konnte, Squash spielen, Auto fahren, ein schmerzhafter Prozess voller Niederschläge. Sie begann mit Triathlon, wollte wie ihr Mann einen Ironman absolvieren, aber bald ging auch das nicht mehr allein.

Anja Renner hat ihre Ersparnisse für das Ziel Paralympics verwendet: „Das war es mir wert.“

„Es ist nicht immer einfach. Es gibt Momente, in denen ich traurig bin“, sagt sie auf der Bank an der Seine. „Aber wenn du ein glückliches Leben haben willst, musst du eine Haltung entwickeln, um damit umzugehen.“

Renner, die mit ihrem Mann in Gmund am Tegernsee wohnt, hat für ihren Umgang mit ihrer Geschichte, die sie geduldig und auch humorvoll erzählt, vorerst den Sport in den Mittelpunkt gestellt. Sie kündigte ihren Job in der Krebsforschung, es sei alles zu viel geworden, sagt sie. Und im vergangenen Jahr erst, sie war topfit, fasste sie den Plan, sich für die Paralympics zu qualifizieren. Für ihr Training, für die Reisen für sich und ihren Guide habe sie ihre Ersparnisse verwendet. „Das war es mir wert.“

Zum Parasport, sagt Renner, habe sie übrigens auch deshalb gefunden, weil sie die Biografie von Verena Bentele gelesen hat und sie bewunderte. Bentele gewann ihre Medaillen im Langlauf und im Biathlon. Wenn sie daran denke, sagt Bentele am Telefon, erinnere sie sich „an die schöne Strecke zum Beispiel in Salt Lake City, wo’s hoch ging, wo Kurven waren“.

Renner erzählt, sie habe auf der Laufstrecke zum Schluss versucht, sich die vielen Zuschauer am Straßenrand anzuschauen, auf der Avenue de Champs Élysées, vor dem Grand Palais. Sie spricht dann von „abrastern“, kleine Bilder Stück für Stück zu einem großen zusammenpuzzeln. Aber es ging nicht, und sie musste sich ja auch aufs Laufen konzentrieren, die Britin war nur eine Minute hinter ihr.

Statt zu sehen, habe sie dann zugehört. Unter den vielen Anfeuerungsrufen der Zuschauer erkannte sie immer wieder einzelne Stimmen von Freunden, von ihrer Familie, von ihrem Vater. Und Anja Renner, die nicht weiß, ob sie irgendwann noch etwas sehen kann, weiß, dass sie das nicht vergessen wird.

Text: Sebastian Fischer; Design & Art Direction: Lina Moreno; Digitales Storytelling: Christian Helten

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