Ein Boxer, der Ballett tanzt, ein menschlicher Eiffelturm und eine Mutter, die in Begleitung ihrer Kinder im Sand spielt.

Die SZ stellt zehn Athletinnen und Athleten vor, die nicht nur bei Olympia besondere Aufmerksamkeit verdient haben.

Ein Boxer, der Ballett tanzt, ein menschlicher Eiffelturm und eine Mutter, die in Begleitung ihrer Kinder im Sand spielt.

Die SZ stellt zehn Athletinnen und Athleten vor, die nicht nur bei Olympia besondere Aufmerksamkeit verdient haben.

Paris 2024

Mehr als einfach nur dabei

Von SZ-Autorinnen und Autoren
24. Juli 2024 - 8 Min. Lesezeit

Etwa 10 500 Athletinnen und Athleten gehen bei den Olympischen Spielen in Paris an den Start. Sie alle träumen von Medaillen, jetzt oder in der Zukunft, nicht alle haben eine Chance darauf. Manche bleiben wegen ihrer Erfolge in Erinnerung, andere deshalb, weil sie in der Niederlage sportliche Größe bewiesen haben. Und manche, weil sie über den Sport hinaus Relevanz gewinnen. Die SZ stellt zehn Starterinnen und Starter vor, bei denen es sich in den kommenden Tagen besonders lohnt, genauer hinzuschauen.

Die olympische Familie ist bekanntermaßen ständig auf Verjüngungskurs, wobei besonders die neuen Sportarten junge Menschen für die Spiele, die an manchen Stellen etwas Patina angesetzt haben, begeistern sollen. Breaking etwa: Erstmals wird um Edelmetall getanzt. Oder Skateboarding, das vor drei Jahren Premiere im olympischen Programm feierte und in Paris kaum eine bessere Präsentationsfläche hätte bekommen können: Neben den Tänzern werden die Wettbewerbe im 3×3-Basketball, BMX und eben Skateboard auf der weltberühmten Place de la Concorde, zwischen der Avenue des Champs-Élysées und dem ehemaligen Schlosspark Jardin des Tuileries, im Herzen der Stadt ausgetragen. Und damit das mit den jungen Sportarten nicht völlig aus dem Ruder läuft, ist Skateboard-Legende Andy Macdonald dabei. Der US-Amerikaner hat einen englischen Vater, der ihm vor zwei Jahren flüsterte, dass er somit doch für die Briten an den Start gehen dürfte. Gesagt, getan: Macdonald hat die Qualifikation geschafft und ist mit 50 Jahren der älteste Skateboarder unter der Pariser Sonne. Macdonalds Disziplin ist eigentlich das Vertical-Skateboarden, bei dem die Rampen viel größer und die Sprünge höher sind und er etwa bei den X-Games zu den erfolgreichsten Athleten zählt. In Paris geht er in der Disziplin Park an den Start, es wird in einer Bowl gefahren, die Rampen sind kleiner. Für den Sieg kommt Macdonald eher nicht infrage, das werden die Jüngeren unter sich ausmachen. Wie die Chinesin Zheng Haohao, die bei den Frauen an den Start geht, wobei man das mit den Frauen überdenken sollte: Zheng ist elf Jahre alt. Ralf Tögel

Höher, schneller, weiter, so propagierten es die Gründerväter der Olympischen Spiele Ende des 19. Jahrhunderts und wer weiß, ob sie damals schon an einen Sportler dachten, der 2,24 Meter lang ist. Dieses Maß macht Victor Wembanyama zum menschlichen Eiffelturm der Athleten in Paris. Der gerade einmal 20 Jahre alte Franzose ist so riesig und dazu mobil auf den Beinen, dass er eine Sportart revolutioniert, bei ihm findet Basketball in exklusiver Etage statt. Ganz oben, wo keiner ran kommt, spielt er sein Spiel. Neulich in Köln gab’s im Testspiel schon eine Kostprobe seines Könnens für die deutschen Basketballer – und passenderweise trifft man sich wieder: Freitag, 2. August, 21 Uhr, in Lille, letztes Vorrundenspiel. Unbedingt vormerken. Wobei: Diesen wahnwitzig großen Typ kann man sowieso nicht übersehen. Er hat übrigens ein halbes Heimspiel, denn Wembanyama ist gebürtiger Pariser. Jonas Beckenkamp

Für den französischen Judoka Teddy Riner, 35, scheint nun die ganze Karriere auf diesen einen Wettkampf zuzulaufen: Freitag, 2. August, Champ-de-Mars-Arena unweit des Eiffelturms. Dann geht es um Gold im Schwergewicht, der Klasse über 100 Kilo. So wie es ja immer um Gold geht, wenn Teddy Riner, der terreur des tatamis, der Schrecken der Judomatten, sich den Judogi zubindet. Gold in London 2012, Gold in Rio 2016, elf Mal Weltmeister – es gab mal eine Phase, da war der in Guadeloupe geborene 2,04-Meter-Mann in unglaublichen 154 Kämpfen hintereinander unbesiegt. „Teddy Riner schlagen – Hirngespinst oder Realität?“, fragte die Zeitung Le Monde vor seinem Wettkampf bei den Spielen 2021 in Tokio … ehe Riner dort im Viertelfinale gegen den Russen Tamerlan Baschajew verlor.

Teddy Riner, der in einem Palast in Marrakesch lebt und in Marokko trainiert, hat jetzt also eine Verabredung: mit seinem Heimatland, und mit seinem dritten Olympiagold. Was er mit 140 Kilo und 35 Jahren auf die Matte bringt, ist weiterhin eine Schau. Und während man bei den meisten Spitzensportlern in seinem Alter nun davon ausgehen würde, dass nach den Spielen Schluss ist mit dem ewigen Gekämpfe, hat Riner schon angekündigt, dass er tatsächlich auch mal was anderes machen will als Judo. Aber erst nach den Spielen 2028 in Los Angeles. Claudio Catuogno

Simone Biles ist eine der wenigen Turnerinnen, denen durch ihre Leichtigkeit, Technik und Sprungkraft eine lange Karriere gelingen könnten. Die Frage ist, ob sie irgendwann doch die Freude daran verliert. Biles hat bereits 23 WM-Titel gewonnen und viermal Olympiagold, darunter etliche Einzelsiege, vor allem am Sprung, Schwebebalken und Boden, zudem eigene Elemente kreiert. 2019 etwa zeigte sie den gehockten Doppelsalto rückwärts mit dreifacher Schraube am Boden. Am Ende einigten sich die Hüter des Turnwesens, dass nach A bis H eine neue Schwierigkeitskategorie „I“ eingeführt werden müsse. Biles hat in ihrem Leben als Turnerin aber auch Zeiten tiefer Schatten erlebt. Auch sie war Missbrauchsopfer des Trainers Larry Nassar. Später litt sie unter Irritationen während ihrer geliebten Flugelemente, den gefährlichen sogenannten Twisties, die sie nun aber offenbar überwunden hat. Nicht nur sie, auch das US-Team empfindet die Spiele in Paris als „definitiv unsere Wiedergutmachungstour“. Volker Kreisl

Owen Ansah kennt nun auch dieses prächtige Gefühl: längst noch nicht am Ziel zu sein, aber schon etwas auf der Seite zu haben, das einem niemand mehr wegschnappen wird. Viele deutsche Sprinter vor ihm waren knapp daran gescheitert, die 100 Meter bei zulässigem Rückenwind in weniger als zehn Sekunden zu rennen, Ansah erklomm Ende Juni als Erster diesen sportiven Gipfel, in 9,99 Sekunden. Für ein Plätzchen im olympischen Einzelfinale in Paris wird das kaum reichen, mit der Sprintstaffel haben die Deutschen aber schon eine Chance. Überhaupt ist es auch ein Wert an sich, wie geduldig sich der 23-Jährige vom Hamburger SV mit Trainer Sebastian Bayer seine Meriten erarbeitet hat. Er blieb auch nach ersten Erfolgen und Rückschlägen bei sich, als er etwa wegen einer Schambeinverletzung die vergangene Saison verpasste – und als fremde Menschen nach seinem Rekord im Netz ihren Hass ausgossen, weil Ansahs Vater aus Ghana stammt. Er richte den Blick lieber auf die Menschen, die ihn unterstützten, konterte Owen Ansah. Das habe ihn über all die Jahre zu dem Menschen geformt, der er heute ist – Rekordmarke inklusive. Johannes Knuth

Keine Frage, die Beachvolleyballerin ist die Mutter der Olympischen Spiele – in doppelter Hinsicht. Nach 2008 in Peking, 2012 in London, 2016 in Rio und 2021 in Tokio reist die 38-Jährige nun zu ihrem fünften Einsatz nach Paris. Und das als Mutter zweier Kinder, die ebenfalls an Ort und Stelle sein werden. Nach ihrem Olympiasieg an der Copacabana mit Kira Walkenhorst und dem WM-Titel in Wien erfand sich Laura Ludwig noch einmal neu – und versuchte nicht nur den Spagat zwischen Familie und Profisport, sondern wagt auch im Sand Neues. Nachdem das Experiment mit der vormaligen Hallennationalspielerin Margareta Kozuch in Japan auf Platz fünf endete, hat Ludwig nun eine weitere Hallennationalspielerin an ihrer Seite, die sich erst spät in den Sand gewagt hat: Louisa Lippmann. Im vergangenen Sommer gewannen sie EM-Bronze, vor ein paar Wochen qualifizierten sie sich hauchdünn für Paris. Ihr Spiel ruckelt und zuckelt, die Familie litt im Winter wegen all der Reisen und dem Spagat, der immer schwieriger wurde. Deshalb traf Ludwig mit ihrem Mann, der auch noch Cheftrainer des Teams war, eine folgenreiche Entscheidung. Er kümmert sich seither nur noch um ihre Athletik, aber vornehmlich um Teo, 6, und Lenny, 2. Damit Ludwig den Kopf freihat auf dem Center Court am Eiffelturm, wo sie noch einmal nach einer Medaille greifen möchte. Sebastian Winter

Wie sich Siegen in Paris anfühlt, weiß Jaroslawa Mahutschich aus eigener, frischer Erfahrung. Beim Diamond-League-Meeting Anfang Juli brach die Hochspringerin einen der ältesten Weltrekorde der Leichtathletik: Mahutschich überquerte 2,10 Meter und löste die Bulgarin Stefka Kostadinowa ab, die 37 Jahre lang mit 2,09 Metern die Rekordträgerin gewesen war. Der Rest des Abends war für Mahutschich ein Freudentaumel, die Ukrainerin überkamen dabei auch all die Gefühle, die sie seit dem russischen Angriff auf ihre Heimat in sich trägt. Jeder Sprung, das betont die 22-Jährige immer wieder, soll die Welt auch daran erinnern, wie es ihren Landsleuten geht. Und dass es die Ukraine noch gibt.

Im Bombenhagel floh Mahutschich bei Kriegsausbruch aus ihrer Heimatstadt Dnipro, seitdem versucht sie, ihr Sportlerleben trotz allem so gut wie möglich zu meistern. Und die Erfolge bestätigen sie in ihrer Arbeit: Mit Gold bei der Hallen-WM 2022, dem Titelgewinn im Budapester WM-Stadion 2023 und nun dem Weltrekord gilt sie in Paris als Favoritin auf den Olympiasieg. „Bei einem so großen Ereignis wie den Olympischen Spielen muss man wirklich mental stark sein“, sagte Mahutschich nach ihrem Rekordsatz, die vergangenen Jahre haben sie in dieser Hinsicht gestärkt. Aber, auch das ist für sie klar: Olympia sei ein Fest, „und man sollte es auf jeden Fall genießen“. Saskia Aleythe

Wer aus Südkorea kommt, Bogenschützin ist und die heimische Olympiaqualifikation gewonnen hat, kommt automatisch auf die Liste der Goldanwärterinnen. Also auch Lim Si-hyeon, denn alle besagten Eigenschaften treffen auf sie zu. Sie ist zwar erst 21, Debütantin bei den Spielen und vorerst vor allem dem Fachpublikum bekannt. Trotzdem muss niemand überrascht sein, wenn sie in Paris das Bogenschießen dominiert. Südkorea ist die Supermacht des Präzisionssports: 27 von 39 Olympia-Goldmedaillen gingen seit 1984 an den Tigerstaat, die Frauen gewannen in Einzel und Team nur ein Mal nicht: 2008 in Peking, als die Chinesin Zhang Juanjuan triumphierte. Ein nationaler Automobilgigant unterstützt das Nationalteam seit Jahrzehnten mit sportwissenschaftlicher Begleitung und Hightech-Material. Die Folge ist eine Leistungsdichte, an der selbst Weltklasseleute scheitern. An San, die junge Dreifach-Olympiasiegerin von Tokio 2021, schaffte es zum Beispiel nicht ins Team für Paris. Lim Si-hyeon ist als ihre Nachfolge-Heroine vorgemerkt. Sie ist Mixed-Weltmeisterin, U21-Weltrekordlerin, Gewinnerin der Asien-Spiele – und unter Druck. Denn die Gold-Tradition verpflichtet. Wenn Lim Si-hyeon nicht gewinnt, wird Südkorea enttäuscht sein. Thomas Hahn

Im Grunde ist es nicht schwer, Dinge in die Luft zu werfen und wieder aufzufangen. Bälle fliegen in vielen Disziplinen weit hoch und landen wieder in Händen, und natürlich beherrscht die Gymnastin Darja Varfolomeev das auch. Nur, ihre Kunst verlangt es nicht nur, einen Ball hochzuwerfen und wieder zu fangen, sondern viel mehr noch, während sich der Ball in der Nähe der Hallendecke befindet, unten akrobatisch zu tanzen und rechtzeitig den Ball zu fangen. Oder auch zwei Keulen oder das Band oder den Reifen. Die Rhythmische Sportgymnastin Varfolomeev, Tochter russischer Eltern, gibt auch dem deutschen Team Schwung, seit sie vor fünf Jahren nach Deutschland gekommen ist. Vergangenes Jahr, bei der WM, gelang ihr eine Art Gymnastik-Sweep. Alle Einzeldisziplinen gewann sie, zudem den Mehrkampf. Bei Olympia ist sie entsprechend Favoritin, für Gold. Volker Kreisl

Vor drei Jahren in Tokio mussten Australiens Sportgeschichtsbücher umgeschrieben werden wegen Harry Garside. Die Bronzemedaille, die der heute 27-jährige Leichtgewichtskämpfer aus Ferntree Gully dort gewann, war für den Kontinent das erste olympische Edelmetall im Boxen seit 33 Jahren. Und Garside will mehr. „Ich habe mich mal auf die olympische Reise gemacht, um Gold zu gewinnen, nicht Bronze“, sagt er. Nach Tokio wurde er erst mal Profi, weil er im klammen Olympiasport Schulden angehäuft hatte. Drei Kämpfe, drei Siege – dann holte ihn der alte Traum ein. Gut für die Spiele, denn Garside ist kein Favorit wie jeder andere. Der gelernte Klempner ist passionierter Balletttänzer und Aktivist gegen Gender-Normen. Seinen Bronzegewinn in Tokio erzielte er mit lackierten Nägeln, er trägt auch mal ein Kleid und wirbt in einer ziemlich pinken Kampagne für die National Breast Cancer Foundation. Die Brustkrebserkrankung seiner Mutter war ein Schlag für den Boxer, ebenso die Anzeige seiner einstigen Freundin wegen häuslicher Gewalt. Mittlerweile ist die Mutter geheilt und ein Gericht hat Garsides Unschuld festgestellt. Harry Garside kann sich unbesorgt für den Olympiasieg hübsch machen. Thomas Hahn

Text: Ralf Tögel, Claudio Catuogno, Jonas Beckenkamp, Sebastian Winter, Johannes Knuth, Saskia Aleythe, Volker Kreisl, Thomas Hahn; Design & Art Direction: Lina Moreno; Digitales Storytelling: Lina Moreno, Thomas Gröbner; Bilder: Imago, Getty Images, AP, Witters GmbH

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