Reisewelle im Wirtschaftswunder: deutsche Touristen am Strand von Rimini, 1958.
Reisewelle im Wirtschaftswunder: deutsche Touristen am Strand von Rimini, 1958.
Reisewelle im Wirtschaftswunder: deutsche Touristen am Strand von Rimini, 1958.
Warten auf den Bus nach Italien am Bahnhof von Ruhpolding, 1958.
Warten auf den Bus nach Italien am Bahnhof von Ruhpolding, 1958.
Warten auf den Bus nach Italien am Bahnhof von Ruhpolding, 1958.

Unbekanntes Italien

Wie die ersten Deutschen ihr liebstes Urlaubsland entdeckten.

In der Süddeutschen Zeitung spiegelt sich seit Jahrzehnten die Sehnsucht der Deutschen nach Italien wider - und die Realität des Massentourismus.

Reisewelle im Wirtschaftswunder: deutsche Touristen am Strand von Rimini, 1958.
Reisewelle im Wirtschaftswunder: deutsche Touristen am Strand von Rimini, 1958.
Reisewelle im Wirtschaftswunder: deutsche Touristen am Strand von Rimini, 1958.
Unbekanntes Italien

Wie die ersten Deutschen ihr liebstes Urlaubsland entdeckten.

Warten auf den Bus nach Italien am Bahnhof von Ruhpolding, 1958.
Warten auf den Bus nach Italien am Bahnhof von Ruhpolding, 1958.
Warten auf den Bus nach Italien am Bahnhof von Ruhpolding, 1958.

In der Süddeutschen Zeitung spiegelt sich seit Jahrzehnten die Sehnsucht der Deutschen nach Italien wider - und die Realität des Massentourismus.

2. Oktober 2025 | Lesezeit: 7 Min.

Ein Tag im Sommer, vor 69 Jahren: Eine SZ-Reporterin sitzt im Touropa-„Fernexpress“ von München nach Finale Ligure. Im Waggon laufen Schlager, die Urlauber sind entspannt, rundum von sogenannten Pagen behütet. Die Autorin fühlt sich an „Schäfchen“ erinnert. Als der Zug hinter Genua den Tunnel verlässt, wird die Musik für eine Durchsage unterbrochen: „Links sehen Sie jetzt das Mittelmeer!“ Die Reporterin notiert: „Die Angeredeten blicken folgsam auf die Felsenufer und das endlos hingebreitete mare mediterraneo.“ Und weiter im Text: ‚,,Ja, das Meer ist blau, so blau‘, tönt’s im Abteil.“

Eine hübsche Szene aus der Reportage „Die Schmankerl der Palmenriviera“, erschienen am 16. August 1956 im SZ-Teil „Reise und Erholung“. Italienurlaub als Kaffeefahrt – eine Blüte des Wirtschaftswunders. Die Rundreise kostete ab 120 Mark und war organisiert bis ins letzte Detail. Der Reiseveranstalter händigte Stadtpläne, Quartierkarten, Badescheine und ein Blatt mit Wissenswertem über Italien an die Pauschalurlauber aus: bitte nicht zu lange Sonnenbaden, und nicht wundern, dass es nirgends Schweineschmalz gibt. „Außer Butter wird selbstverständlich Olivenöl zum Kochen verwendet, das jedoch vollkommen unschädlich ist.“ Die heute so hochgeschätzte mediterrane Diät war noch unbekannt und wurde sogar mit Misstrauen betrachtet.

Von der italienischen Küche jenseits von Pizza und Pasta hatten die Touristen keine Ahnung. Mussten sie auch nicht zwingend. Auf den Speisekarten der Restaurants und Bars fanden sie Vertrautes: Wurstel con krauti, Bratkartoffeln mit Spiegelei, Bier, deutschen Kaffee, deutsches Brot.

Ein Italiener verkauft auf einem Campingplatz am Gardasee deutsches Brot an deutsche Urlauber.
Ein Italiener verkauft auf einem Campingplatz am Gardasee deutsches Brot an deutsche Urlauber.

Ihre Gastgeber hatten längst erkannt, dass die meisten Deutschen es am liebsten so wie zu Hause hatten, nur mit besserem Wetter.

Die SZ lieferte Gegenentwürfe. Regelmäßig erschienen Berichte, die dem früheren romantischen Ideal gebildeter Italienfahrer folgten: auf der Suche nach Kunst und ursprünglicher Schönheit. Autorinnen und Autoren schwärmten von Vergänglichem und Ewigem, von Ruinen und dem Meer. Sie waren begeistert von Fresken und Skulpturen, von gebratenem Lammfleisch und gezuckertem Landwein, den sie in seiner Einfachheit als vorzüglich empfanden. Sie empfahlen, doch auch mal Tintenfisch oder Scampi zu probieren und erklärten in Klammern, dass es sich dabei um eine Krebsart handelt.

Wunschvorstellungen und Ansprüche gingen aber nicht recht mit der Wirklichkeit des Fremdenverkehrs zusammen: Wer Ursprünglichkeit finden wolle, müsse aus der „deutschen Touristen-Völkerwanderung“ ausscheren, hieß es in einem meinungsstarken SZ-Stück aus dem Jahr 1957: „Man muss sich von den durch einen rollenden Menschenbazar etwas eng und laut gewordenen Pfaden ins Unbekannte verziehen.“ Dort aber fehle meist, was die Massentouristen suchten: Komfort, gepflegtes Essen, Vergnügungs-Etablissements. Ein Dilemma, das die einstige Reiseredaktion mit der Präsentation von weniger überlaufenen, aber touristisch durchaus schon erschlossenen Zielen zu lösen suchte.

Am Strand von Riccione, 1968.
Am Strand von Riccione, 1968.

Konkrete Vorschläge für Entdeckungstouren ins „unbekannte Italien“ erschienen schon in den Fünfzigerjahren. Und gleich daneben wie zur Abschreckung Fotos, die das allzu bekannte Italien zeigten: „Sonnenschirme in Reih' und Glied“, hieß es in den Bildunterschriften, „viele mögen’s im Urlaub so.“

Während die einen in Zügen anreisten, zuckelten andere mit dem VW Käfer, der Isetta oder dem Opel Rekord über die alte Brennerstraße.

Touristenautos am Grenzübergang zwischen Österreich und Italien, dem Brenner.
Touristenautos am Grenzübergang zwischen Österreich und Italien, dem Brenner.

Wer es sich leisten konnte, setzte gar zum „Luftsprung“ an, wie man das damals übermütig und unbeschwert von Flugscham und Klimawandel nannte. Die Propellermaschinen hoben in München-Riem ab, sechs Stunden später badeten die Urlauber in den Wellen vor Taormina.

Auch erste genervte Einheimische traten in den Artikeln auf. 1956 verlautbarte die Polizei in Rom, man werde gegen Urlauber vorgehen, die ihre Füße – oder sogar ihre Autos! -in der Fontana di Trevi und anderen öffentlichen Brunnen wuschen. Auch würden Badegäste ohne Schamgefühl nicht mehr geduldet, die in zu kurzen Hosen durch die Städte flanierten.

Deutsche Urlauber probieren 1958 in einem Geschäft in Riva am Gardasee Strohhüte auf.
Deutsche Urlauber probieren 1958 in einem Geschäft in Riva am Gardasee Strohhüte auf.

Die Geschwindigkeit, mit der sich das erste stille Sehnen der Deutschen nach dem Krieg ins massenhafte Drauflosstürmen entwickelt hatte, ist aus heutiger Sicht frappierend. Die Berichte der SZ spiegeln diese rasante Entwicklung wider.

Der erste Reiseteil war bereits am 14. April 1949 erschienen: zwei redaktionelle Seiten mit drei Fotos, die allesamt Kirchen zeigten. Der Krieg war erst vier Jahre vorbei, die Bundesrepublik Deutschland noch nicht gegründet. Berlin wurde über die alliierte Luftbrücke versorgt, in Nürnberg endete an diesem Tag der letzte Kriegsverbrecherprozess. Da warben bereits erste Betriebe um Reisegäste: Das Hotel Post in Altötting verkündete seine Wiedereröffnung, die Spielbank Bad Homburg versprach „Roulette à la Monte-Carlo“ und das Skigebiet Sudelfeld meldete 30 Zentimeter Neuschnee.

Mangels der Möglichkeit, Deutschland zu verlassen, handelte der Aufmacher notgedrungen von einer Erkundung „Zwischen Allgäu und Bodensee“. Aber das Traumziel war klar: Ins gelobte Land jenseits der Alpen sollte es so bald wie möglich gehen. Der unbekannte Autor schreibt im Einstieg: „Unser Heimweh nach dem Süden wird vorerst nicht gestillt.“ Und weiter: „Noch sind, außer für ein paar Glückliche, die Grenzen zu jenem Lande verschlossen, wo im dunklen Laub die Goldorangen glühn.“

Ein Satz wie auf dem Sprung. Mit Goethe im Gepäck, natürlich, der Weimarer Klassik, mit Antike und Renaissance als Projektionsflächen. Im Wunsch nach Aufbruch über die Alpen schwang das Sujet der Grand Tour junger Adeliger und Bürger mit, ihre Bildungsreisen im 17. und 18. Jahrhundert, die das Sehnen nach Italien bis heute prägen: nach Rom, Venedig, Florenz, Neapel und Sizilien ging es – und zurück mit verfeinertem Kunstgeschmack, abgestoßenen Hörnern und einem neuen Lebensideal.

Dazu erwies sich nach dem Zweiten Weltkrieg die geografische Nähe, die dosierte Fremdheit, der man sich ohne Furcht hingeben konnte, als Turbo für den Massentourismus. Allein das Straßenleben und das gelockerte Zeitgefühl, Leichtigkeit und Lebensgenuss als Gegenentwürfe zu deutscher Arbeits- und Ordnungsethik: Dieses Paradies war jetzt für alle leicht erreichbar und erschwinglich.

Strandszene in Rimini, 1969.
Strandszene in Rimini, 1969.

Nur zwölf Jahre nach Erscheinen des ersten Reiseteils, 1961, lagen die Deutschen zuhauf am Strand: Allein am Adria-Abschnitt zwischen Cattolica und Milano Marittima waren 3000 Hotels mit 100 000 Betten hochgezogen worden. Die SZ schwärmte jetzt insgesamt deutlich weniger, kritisierte zunehmend „gesichtslose Badeorte“ und „Hotelkolonien“. Der Urlaub finde „ohne viel Hintergrund einheimischen Lebens“ statt.

Enttäuscht waren auch viele Urlauber, Mitte der Sechzigerjahre suchten deutlich weniger das Glück am Stiefel. „Deutsche Touristen italienmüde?“, fragte die SZ und nannte Ursachen: teure Hotels und schlechter Service, die sommerliche Schließung von Museen und Kunstzentren, Streiks und das schmutzige Wasser in Seen und dem Meer. Kapitäne spülten die Ölbunker ihrer Schiffe noch an der Küste aus. Aber ein Verbot dieser Praxis war schon in Sicht. Die SZ intonierte verhalten optimistisch: „Bald soll es nicht mehr nötig sein, dass die Bademeister eine Flasche Terpentin in Reserve halten müssen, damit die Badegäste Öl- und Teerflecken von ihrer Haut herunterscheuern können.“

Der Tourismusminister versprach 1964 noch weitere „Verbesserungen“: mehr Sauberkeit, weniger Lärm, stabile Preise sowie Strafandrohungen gegen Männer, die allzu aufdringlich mit Touristinnen anbandelten. Die sogenannten Pappagalli auf der Suche nach Amore waren ein kurioses Phänomen, das auch die SZ immer wieder ergründete – etwa mit dem burlesken Hinweis, dass das „beliebte Ferienspiel, das schon eintönig zu werden drohte“ durch das angekündigte Verbot nun auch für die Urlauberinnen „wieder reizvoller“ werde.

Eisverkäufer im Gespräch mit deutschen Touristinnen am Strand von Rimini, 1959.
Eisverkäufer im Gespräch mit deutschen Touristinnen am Strand von Rimini, 1959.

Das Wasser aber blieb verschmutzt. „Die ganze Halbinsel lenkt seit Menschengedenken einen jährlich steigenden Strom von Kanalisationsabwasser ins adriatische, ionische und tyrrhenische Meer. Und dazu jetzt auch noch unkontrollierbare Mengen industrieverseuchter Brühe, vom Schutt und Müll, den die Küstenbewohner unbedenklich ins Meer kippen, ganz zu schweigen“, schrieb der SZ-Korrespondent 1970 aus Rom. Von „kilometerweit reichenden Versuchungsblasen“, verdreckten Meeresbereichen, war die Rede. Nur eine unter 1000 Gemeinden sei zur Reinigung von Abwasser ausgerüstet.

Lediglich 100 Meter rechts und links der Stellen, in denen die Abwasserleitungen ins Meer mündeten, waren die Strände für Badende tabu. Gerhard Polt setzte der Situation Jahre später ein filmisches Denkmal in „Man spricht deutsh“ und saugte in der Rolle des urlaubenden Bayern Erwin Fäkalien mit dem Schnorchel ein. Die Gemeinden des Teutonengrills zwischen Ravenna und Rimini immerhin gingen 1971 als Vorbilder voran und nahmen als erste eine moderne Kläranlage in Betrieb.

Wer Geld hatte, konnte zu diesem Zeitpunkt bereits exklusivere Badeziele in Tunesien, Marokko oder Ägypten anfliegen. Das, was Pauschaltouristen heute noch vor allem suchen – das eher Austauschbare, Sonne, Strand und Meer –, war längst auch anderswo erhältlich. Aber untreu wurden die Deutschen ihrem alten Traumziel nie.

Trotz Algenpest im Meer und einer immer wieder als veraltet und sanierungsbedürftig kritisierten touristischen Infrastruktur gaben die Deutschen im Jahr des Mauerfalls 1989 allein zwischen April und Juni 1,99 Milliarden D-Mark aus, wie die Deutsche Bundesbank ermittelte – mehr als in jedem anderen Urlaubsland. Und auch die Ostdeutschen zeigten sich fortan als Italienfans, wenn auch zunächst „vor allem als bescheidene Campinggäste“, wie es in einem Bericht hieß.

Am Strand von Jesolo.
Am Strand von Jesolo.

Heute liegt Italien nach Spanien und vor der Türkei auf Platz zwei der beliebtesten Auslands-Reiseziele der Deutschen. Rom, Venedig, Florenz oder Cinque Terre ächzen unter zu viel Tourismus, während in anderen Teilen des Landes nicht viel los ist. Laut der italienischen Tourismusbehörde Enit besuchen 70 Prozent der Reisenden nur etwa ein Prozent des Staatsgebietes. Eine Kampagne mit dem Titel „99 % of Italy“ sollte im vergangenen Sommer das Bewusstsein für nachhaltige Urlaube jenseits des Checklisten-Tourismus schärfen. Damit schließt sich der Kreis zu den Anfängen des Fremdenverkehrs, zur „Völkerwanderung“ und den „eng und laut gewordenen Pfaden“.

Autoren und Autorinnen des Reiseteils der SZ, der inzwischen „Unterwegs“ heißt, besuchen immer wieder auch unbekanntere Regionen Italiens wie die Maremma, Umbrien oder die Abruzzen. Dort, aber auch an den überlaufenen Hotspots, reden sie mit Einheimischen und geben Anregungen für Reisen, von denen im besten Fall beide Seiten etwas haben, die Besucher wie die Besuchten – sozial, ökonomisch und ökologisch gesehen. Nichts anderes steckt im zeitgemäßen touristischen Leitbild der Nachhaltigkeit. In diesem Bereich gibt es auch in Italien immer noch viel zu entdecken. Die Suche geht weiter.

Text und digitales Storytelling: Jochen Temsch; Bildredaktion: Natalie Neomi Isser

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