Münchner Sicherheitskonferenz: Wer bestimmt in der Ukraine?

Die Kiewer Sechs

Die entscheidenden Leute in Krieg und Politik – es sind lauter Männer.

15. Februar 2023 - 4 Min. Lesezeit

Mann in drei Versionen

Wolodimir Selenskij

Wären die Zeiten normal, hätte Wolodimir Selenskij am 25. Januar seinen 45. Geburtstag wohl ausgelassen gefeiert. Doch als Kriegspräsident hat er dazu weder Zeit noch Lust. Für die Ukrainer ist der Selenskij, den sie seit 24. Januar 2022 erleben, so etwas wie seine dritte Version. Da war zunächst der populäre Fernsehproduzent und Chef der Komikertruppe Kvartal 95. Als fiktiver Präsident in einer Fernsehserie stellte sich Selenskij als Mann vor, der mit der Korruption in der Ukraine aufräumt – so wurde er im Frühjahr 2019 wirklich als Präsident gewählt.

Tatsächlich aber ging beim Kampf gegen Korruption und bei anderen Reformen wenig voran, sodass Selenskij II im Januar 2022 auf eine Zustimmungsrate von gerade mal 25 Prozent abgerutscht war. Dann kam der 24. Februar 2022. Selenskij und sein Team beweisen seither enormen Mut.

Der Präsident spricht in täglichen Videobotschaften zu den Ukrainern und hat es geschafft, in Europa und den USA immer neue Waffen für die Ukraine auszuhandeln – und, ebenso wichtig, Dutzende Milliarden Dollar oder Euro für die sonst längst bankrotte Ukraine. Militärische Fragen überlässt Selenskij, laut Verfassung der Oberkommandierende, gewöhnlich seinen Generälen, vor allem dem obersten Soldaten, Walerij Saluschnyj.

Speerspitze

Andrij Jermak

Nach dem Präsidenten ist sein Bürochef Andrij Jermak der zweitmächtigste Mann der Ukraine. Der 52-Jährige war Anwalt, mit Wolodimir Selenskij ist er, wie auch andere Beamte auf hohen Posten, seit der gemeinsamen Zeit im ukrainischen Fernsehgeschäft befreundet. Jermak führt aber nicht nur die Innenpolitik mit, die in der Ukraine vor allem im Präsidialapparat bestimmt wird. Jermak vertritt das Land auch bei wichtigen internationalen Treffen wie dem Wirtschaftsgipfel in Davos, und er ist Ansprechpartner, wenn einflussreiche US-Senatoren Kiew besuchen. Zudem telefoniert er regelmäßig etwa mit Jake Sullivan, dem Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, wenn es um grundsätzliche militärische Fragen geht, das reicht bis hin zu Plänen für ukrainische Offensiven. Andrij Jermak ist auch eine Speerspitze des Präsidenten, wenn es darum geht, möglichst viele westliche Panzer an sein Land liefern zu lassen.

Feindkenner

Walerij Saluschnyj 

Der General trägt einen missverständlichen Titel: „Oberkommandeur der Streitkräfte der Ukraine“. Tatsächlich ist der Staatspräsident der Oberkommandeur, doch vertraut Selenskij als militärischer Laie dem 49-jährigen Walerij Saluschnyj als oberstem Militär und anderen führenden Generälen.

Saluschnyj ist sowohl mit westlichem Militärdenken vertraut wie auch mit dem russischen: Die Werke seines von ihm rein fachlich bewunderten Gegners, des russischen Generalstabschefs Walerij Gerassimow, hat Saluschnyj nach eigenen Angaben komplett gelesen. Täglich berichtet Saluschnyj dem Präsidenten der Ukraine. Zu seinen wichtigsten Gesprächspartnern gehört neben seinen führenden Generälen aber auch US-Generalstabschef Mark Milley. Im Januar trafen sich die beiden das erste Mal an der polnisch-ukrainischen Grenze. Die Ukrainer stimmen ihr militärisches Vorgehen eng ab mit Amerikanern und Briten. Öffentlich tritt der verheiratete Vater zweier Kinder gewöhnlich nur mit knappen Meldungen in sozialen Medien auf.

Ein Etablierter

Oleksij Resnikow

Der Verteidigungsminister der Ukraine ist eigentlich Anwalt von Beruf. Als früherer Vizeministerpräsident, Minister für die Reintegration russisch besetzter Gebiete und Unterhändler mit Moskau vor Russlands Überfall am 24. Februar ist Oleksij Resnikow, 56, Teil des Kiewer Establishments. Das Militär kennt er seit seinem Dienst in einer Fallschirmspringereinheit – einer sowjetischen. Seit seiner Ernennung am 4. November 2021 hat Resnikow vor allem eine Aufgabe: mit den Partnern im Westen die Details von Waffenlieferungen oder der Ausbildung Zehntausender ukrainischer Soldaten zu verhandeln. Das ukrainische Verteidigungsministerium galt schon vor dem Krieg als notorisch korrupt, daran scheint sich trotz des Krieges grundsätzlich nichts geändert zu haben, wie mehrere massive Korruptionsskandale unter Resnikow zeigen. Dem Minister persönlich werden keine Vorwürfe gemacht, aber er gilt deshalb als Abschusskandidat. Doch geeignete, angesehene Kandidaten, die fließend Englisch sprechen, sind derzeit rar.

Analyst

Kyrylo Budanow

Der Stern des erst 37 Jahre alten Chefs des ukrainischen Militärgeheimdienstes GUR soll im August 2016 aufgegangen sein. Da soll Kyrylo Budanow als Mitglied eines Spezialkommandos auf der russisch besetzten Krim daran beteiligt gewesen sein, einen hohen Offizier des russischen Geheimdienstes FSB zu töten. Budanow stieg auf zum Chef der GUR-Operationsabteilung, er führt den zum Verteidigungsministerium gehörenden Militärgeheimdienst seit 2020.

Budanow soll der Einzige in der ukrainischen Führung gewesen sein, der nicht nur den russischen Überfall als solchen voraussagte, sondern auch den massiven Angriff auf die Hauptstadt Kiew. Seither sind die Analysen des GUR-Chefs gefragt, er ist nicht nur bei Präsident Selenskij angesehen, sondern auch bei westlichen Partnern. Angeblich soll er den aktuellen Verteidigungsminister ablösen, doch dafür müsste Budanow seinen Generalsrang ablegen und aus der Armee austreten.

Geldbesorger

Denys Schmyhal

Man kann streiten, wer von den dreien sicher unter die Top sechs der Ukraine gehört: Parlamentspräsident Ruslan Stefantschuk, Oleksij Danilow, Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates – oder doch eher der 48-jährige Ministerpräsident Denys Schmyhal. Die eigentlichen Entscheidungen über Politik und Kriegsführung treffen der Staatspräsident, seine Stabschefs und das Militär. Doch dem Ministerpräsidenten und seinen Ministern bleibt genug Arbeit: das Koordinieren von Notreparaturen der Infrastruktur nach russischen Raketentreffern; die Verhandlungen mit der EU-Kommission über nötige Reformen für die Beitrittskandidatur oder über den künftigen Wiederaufbau und Gespräche mit dem Internationalen Währungsfonds über weitere Milliardenkredite an die faktisch bankrotte Ukraine. Schmyhal hält sich seit seiner Ernennung im März 2020 schon fast drei Jahre im Amt, was dafür spricht, dass der Präsident mit ihm zufrieden ist – denn er hat schon einige Minister ausgetauscht.

Team
Text Florian Hassel
Bildredaktion Fabian Riedel
Digitales Storytelling Sina-Maria Schweikle