Tatort Xinjiang

Wie Chinas Führung Hunderttausende in einem brutalen Lagersystem interniert: Geheime Dokumente belegen eine der größten Menschenrechts­verletzungen unserer Zeit.

Eine Anlage nahe Kashgar im äußersten Westen Chinas. 18 Gebäude auf einem gewaltigem Gelände: mehr als 360 Meter lang und bis zu 280 Meter breit. Was hier vor sich geht, will die chinesische Regierung unbedingt vor den Augen der Weltöffentlichkeit verbergen. 

Von oben betrachtet könnten es Fabrikhallen sein. Wer genauer hinsieht, erkennt Mauern und Wachtürme. Militär? Eine Kaserne? Menschenrechtler sind sich sicher: Hier werden muslimische Minderheiten eingesperrt, meist ohne ordentliches Gerichtsverfahren, sie werden streng bewacht und gezielt einer staatlichen Gehirnwäsche unterzogen. 

Das Lager in Kashgar ist nur eines von vielen. Wissenschaftler und Aktivisten haben in der Region Xinjiang auf Satellitenbildern Dutzende solcher Anlagen identifiziert, bei denen es sich mutmaßlich um Internierungslager vor allem für Uiguren handelt. Wissenschaftler gehen davon aus, dass mittlerweile mehr als eine Million Menschen in Xinjiangs Lagern interniert sind. Es sei einer der größten Menschenrechtsverstöße unserer Zeit, beklagen Experten, ein “kultureller Genozid“ mit dem Ziel, die Kultur der Uiguren und anderer muslimischer Minderheiten in China auszulöschen.

Die Regierung in Peking erklärt die Lager offiziell zu „Berufs- und Ausbildungscamps“, doch Ex-Häftlinge berichten von Zwang, Folter und Vergewaltigungen. Die internationale Politik, von den Vereinten Nationen über den US-Kongress bis zum Deutschen Bundestag, ist alarmiert.

Lange Zeit waren Satellitenbilder und Augenzeugenberichte die einzigen Hinweise auf das, was in Xinjiang vor sich geht. Der deutsche Sozialwissenschaftler Adrian Zenz fand weitere Indizien in öffentlichen Ausschreibungen: Zementlieferungen, Bestellungen von Überwachungskameras und Tausenden Kilometern Stacheldraht. Material für den Lagerstaat. Zuletzt hatte die New York Times die Mitschriften von mehreren bislang unbekannten Ansprachen von Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping veröffentlicht, in denen es um die Lager in Xinjiang geht.

Ein neues Leak von vertraulichen Dokumenten aus der Kommunistischen Partei belegt nun unumstößlich und detailliert, wie die Regierung Hunderttausende Uiguren interniert. 

Die Papiere wurden 2017 und 2018 verfasst und dem International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) zugespielt – jener Organisation, die schon Recherche-Projekte wie die Panama Papers, die Implant Files oder die Luxemburg Leaks koordiniert hat. Das ICIJ teilte die Dokumente mit weltweit 17 Medien, darunter der New York Times, dem Guardian und Le Monde; in Deutschland werteten Süddeutsche Zeitung, NDR und WDR die Papiere gemeinsam aus. Die Rechercheergebnisse werden in den kommenden Tagen unter dem Titel China Cables veröffentlicht.

Auf Anfrage des Guardian erklärte die chinesische Botschaft in London, die Dokumente seien „reine Fälschung“. Mehrere unabhängige Experten stuften das geleakte Material hingegen als authentisch ein.

Die Dokumente zeigen, dass die Lager keineswegs reine „Berufs- und Ausbildungscamps“ sind, sondern abgeriegelte, streng bewachte und gezielt auf Indoktrinierung ausgerichtete Lager. Die Behörden internieren hier in der Regel Bürger, denen keinerlei offenkundige Straftaten vorgeworfen werden und die auch keinen Gerichtsprozess bekommen. Die chinesische Botschaft in Berlin verweist in diesem Zusammenhang auf Maßnahmen zur „Terrorbekämpfung und Entradikalisierung sowie zur beruflichen Aus- und Weiterbildung”.

Aus den China Cables geht hervor, dass inhaftiert werden kann, wer eine staatlich als falsch definierte Religion ausübt oder auch nur in Kontakt mit Menschen im Ausland steht - selbst wenn es Verwandte sind. In den Lagern sollen die Inhaftierten einer regelrechten Gehirnwäsche unterzogen werden:

„Es ist auf ideologische Probleme und emotionale Veränderungen zu achten, die nach Kontakten mit Verwandten auftreten können, und es sind unverzüglich Maßnahmen zur ideologischen Anleitung zu ergreifen.”

Die Papiere belegen, dass es für eine Internierung sogar ausreichend ist, wenn die Überwacher zu der Ansicht kommen, eine Person könnte in Zukunft von der staatlichen Linie abweichen - wenn man “Terrorismus nicht ausschließen” könne oder wenn Menschen bestimmte Apps nutzen. Derartiges „predictive policing“ kennt man bisher höchstens aus Horrorvisionen in Science-Fiction-Filmen. In Xinjiang ist es Realität.

In den China Cables findet sich eine Handreichung für die örtlichen Sicherheitsbehörden, in der unter anderem erklärt wird, wie Ausbrüche zu verhindern sind, wie geheim die Lager zu behandeln sind oder wie die Indoktrination ablaufen soll. Sogar Regeln für die Häufigkeit von Toilettengängen sind vorgegeben, ebenso wie für den Kontakt zur Außenwelt.

„Die Verhaltensregeln der Schüler im Alltag sind zu verstärken, und es sind Anforderungen an Regeln und Vorschriften für das Aufstehen, den Appell, das Waschen, den Toilettengang, das Organisieren der Hauswirtschaft, das Essen, das Lernen, das Schlafengehen, das Verschließen der Türen etc. durchzusetzen.”

Über ein Punktesystem, das mit Bestrafungen und Belohnungen arbeitet, werden die Insassen - “Schüler” genannt - in vom Staat gewünschte Denkweisen geleitet, bis eine Entlassung in Erwägung gezogen wird. Mindestens ein Jahr müssen die Insassen in den Lagern verbringen.

„Die Punkte der Schüler sollen die wesentliche Grundlage für das Messen des Erziehungs- und Ausbildungsergebnisses bilden, sie sind in einen direkten Zusammenhang mit Auszeichnungen, Bestrafungen und Treffen mit Verwandten zu bringen, entsprechend den Punkten sind eine Verwaltung und eine unterschiedliche Behandlung je nach Stufen durchzuführen, damit die Schüler sich der Verwaltung unterwerfen, gewissenhaft studieren und sich aufrichtig wandeln.”

Anders als von der chinesischen Führung behauptet, dürfen die Insassen die Lager nicht verlassen, der Aufenthalt ist nicht freiwillig. Wörtlich heißt es in einem der Dokumente: “Es dürfen auf keinen Fall Ausbrüche vorkommen”, deswegen seien sämtliche Türen “doppelt zu verschließen”. Die Videoüberwachung müsse “vollständig und frei von toten Winkeln” sein.

Außerdem seien in den Lagern “Geheimkräfte” - gemeint sind offenbar Spitzel - zu verteilen, “um zu verhindern, dass Personen sich an Unruhen beteiligen”. Wenn sich die Insassen nicht an die Regeln hielten, sei “das Ausmaß von Züchtigungen und Strafen für Zuwiderhandlungen (...) zu erhöhen”.

Die Überwachungsmemos beschreiben eine Welt, in der eine verstörende Dystopie wahr geworden ist. Der Staat sammelt Unmengen an persönlichen Daten der dort lebenden Menschen, mit Agenten, Durchsuchungen oder digitaler Überwachung. Und überall hängen Kameras. 

Bei Straßenkontrollen überprüft die Polizei immer häufiger Smartphones, die Daten werden gespeichert, und eine App wird installiert, die automatisch feststellt, ob jemand verbotene Videos angesehen hat. Gechattet werden darf nur noch per Wechat, von der Staatssicherheit schwerer kontrollierbare Apps wie Whatsapp sind nicht erlaubt. 

Polizisten stehen mit automatischen Gewehren an den Straßenkreuzungen und kontrollieren auf offener Straße, in Behörden und vor Geschäften, wie hier in einer Unterführung im Zentrum Kashgars.

Aufpasser werden sogar bei einheimischen Familien einquartiert, ihre Beobachtungen werden sorgsam protokolliert. Aufgrund der zusammengetragenen Informationen landen Tausende Menschen in den Lagern.

Xinjiang, die Region, um die es hier geht, ist größer als Deutschland, Frankreich und Spanien zusammen. Knapp 3000 Kilometer sind es nach Peking, und nur selten verirren sich ausländische Touristen hierher, in eine Landschaft, die von Wüsten und Gebirge bestimmt wird. 

Als die Volksrepublik China 1949 gegründet wurde, waren mehr als 70 Prozent der Einwohner Xinjiangs Uiguren. Die meisten von ihnen sind Muslime, sie sind eine Minderheit in China. Seit einigen Jahren versucht die Regierung in Peking, die Volksgruppe zu assimilieren. Viele Uiguren sind seither aus China geflohen.

Gleichzeitig zogen viele Han-Chinesen nach Xinjiang - sie sind die größte Volksgruppe Chinas. Nun sind anteilig weniger als die Hälfte der Einwohner Xinjiangs noch Uiguren. Viele von ihnen fühlen sich als Chinesen zweiter Klasse.

2009 kam es deshalb zu Massenprotesten. Sie schlugen in Gewalt um, fast 200 Menschen starben. Fünf Jahre später griffen mehrere maskierte Uiguren mit Messern in Kunming Passagiere in einem Bahnhof an. Dutzende Menschen starben. Die Regierung nutzte dies, um die gesamte Volksgruppe der Uiguren unter Terrorverdacht zu stellen.

Im August 2016 schickte Peking einen Mann namens Chen Quanguo nach Xinjiang. Der Parteikader war zuvor fünf Jahre in Tibet gewesen. Staats- und Parteichef Xi Jinping hatte die Direktive ausgegeben, „kein Erbarmen“ zu zeigen – und Chen Quanguo befolgte sie.

Als erstes stockte er den ohnehin sehr üppigen Polizeiapparat auf. Zehntausende neue Beamte wurden eingestellt. Es folgte ein Frontalangriff auf die Religion der Uiguren, den Islam. Männern in Xinjiang wurde das Tragen von Vollbärten verboten – und Frauen der Schleier. 

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Dann begannen die Behörden, Moscheen zu zerstören, wie zum Beispiel hier in Urumqi. Aufnahmen von Baidu Streetview - dem chinesischen Pendant zu Google Streetview - zeigen für den 22. Mai 2016 noch die bestehende Moschee.

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Zwei Jahre später ist sie - genauso wie die umliegenden Bauten - verschwunden. Nun ragen Kräne in den Himmel, ein neues Viertel entsteht.

Auch andere religiöse Stätten - wie hier im Bild der Imam-Asim-Schrein in der Taklamakan-Wüste, zu dem jedes Frühjahr Tausende Muslime gepilgert sind...

...wurden, nach Berichten von Urlaubern und Reportern, erst abgesperrt, mit Polizei und Zulassungskontrollen versehen und später, wie das Satellitenbild nahelegt, zu großen Teilen demoliert. In der jüngsten Aufnahme sind der Schrein und zugehörige Gebäude nicht mehr zu erkennen. 

Parallel dazu trieben die chinesischen Behörden den Auf- und Ausbau der Camps in der ganzen Region voran. Satellitenbilder zeigen auch, wie schnell dies vor sich ging - hier ein Lager in der Nähe von Kashgar

2017 veranlasste die Regierung in Urumqi, DNA-Proben nahezu sämtlicher Einwohner Xinjiangs zu sammeln. Alle Bürger wurden gebeten, an einem kostenlosen Gesundheitscheck teilzunehmen. Im Zuge dieser vermeintlichen Routineuntersuchungen wurden auch Iris-Scans und Fingerabdrücke von Millionen Chinesen archiviert. Auch die Todesrate in den Camps scheint sehr hoch zu sein. Zuletzt bestätigte ein Polizeibeamter aus dem Kuchar-Distrikt Radio Free Asia, dass in diesem Jahr innerhalb von sechs Monaten mindestens 150 Insassen gestorben seien – in einem einzigen Lager. 

Erst waren es Gerüchte, dann Augenzeugenberichte und später verdächtige Satellitenbilder – nun beweisen Dokumente, was die chinesische Führung lange geleugnet hat: Die Süddeutsche Zeitung hat mit ihren internationalen Partnern die China Cables ausgewertet.

Dies sind die Ergebnisse der Recherche.