SZ: Herr Albrecht, bei der Landtagswahl in Thüringen Anfang September wurde die AfD stärkste Kraft. Zoomen wir in Ihr Klassenzimmer. Wie erleben Sie den Aufstieg der Partei, die in Ihrem Bundesland als gesichert rechtsextrem eingestuft wird?
Felix Albrecht: Ich unterrichte Mathematik und Biologie, da bekomme ich das sicherlich weniger mit als die Kolleginnen und Kollegen im Ethik- oder Sozialkundeunterricht. Aber ich würde sagen, dass wir in der Schule insgesamt zu wenig über Politik sprechen. Und dann schockieren uns die Ergebnisse, wie bei der Europawahl oder den Landtagswahlen. Ich persönlich hatte in den vergangenen Monaten nur einmal den Fall, dass ein Schüler offen mit der AfD sympathisiert hat.
Also gibt es nur wenige Schülerinnen und Schüler, die die AfD gut finden – oder kriegt man das an der Schule nur nicht mit?
Unter den jungen Wählerinnen und Wählern der AfD sind sicher viele Schülerinnen und Schüler. Ich glaube nicht, dass das ein Phänomen nur an bestimmten Schulformen oder in bestimmten sozioökonomischen Schichten ist, dafür ist die AfD gerade hier in der Region zu stark.
Ein paar Schülerinnen und Schüler hatten in der Pause diskutiert, ob die AfD eine rechtsextreme Partei ist – und kamen mit der Frage zu mir ins Klassenzimmer. Der besagte Schüler war der Überzeugung, dass sie das nicht ist. Ich habe überlegt, ob ich Unterricht nach Plan machen oder der Diskussion Raum geben soll. Das ist immer Abwägungssache – ist die Frage schon so gut wie geklärt, oder noch offen? Steht bald eine Klassenarbeit an, auf die wir uns eigentlich vorbereiten sollten? Ich habe mich dafür entschieden, 45 Minuten freizuräumen.
Wie lief die Debatte dann ab?
Die Schüler haben mich direkt gefragt, ob ich die AfD für rechtsextrem halte. Ich habe ihnen erklärt, dass es dazu Instanzen wie den Verfassungsschutz gibt, dass der die AfD in Thüringen als gesichert rechtsextrem einstuft und dass es ein Gerichtsurteil gibt, das bestätigt, dass der Verfassungsschutz die AfD auf Bundesebene als rechtsextremen Verdachtsfall einstufen darf. Bei der Diskussion war es mir wichtig, darauf hinzuweisen, welche Diskursmuster wenig hilfreich sind.
Was meinen Sie damit?
Oft höre ich Sätze, die mit „Ich kenne viele Leute, die...“ oder „Ich habe das Gefühl, dass...“ beginnen. Dann versuche ich zu erklären, dass solche Eindrücke davon abhängen können, mit wem man seine Freizeit verbringt. Es ist natürlich viel verlangt von 14-Jährigen, dass sie nach Studien oder soziologischen Erarbeitungen suchen, um sich eine Meinung zu bilden. Aber ich will schon klarmachen: Wenn wir einen politischen Diskurs führen wollen, der zielführend ist, sollten wir uns nicht nur auf unser Bauchgefühl verlassen oder auf das, was andere Leute uns erzählen – sondern auf Wissenschaft und objektive Fakten.
Sagen Sie Ihren Schülerinnen und Schülern, was Sie selbst von der AfD halten?
Im Matheunterricht sage ich den Schülerinnen und Schülern klar, ob ein Ergebnis richtig oder falsch ist. In politischen Diskussionen ist das anders. Da geht es weniger um meine persönliche Meinung, auch wenn die für die Schülerinnen und Schüler sicherlich interessant ist. Aber ich kann schon klar markieren, dass das, was eine Politikerin oder ein Politiker vertritt, eine menschenfeindliche Position ist. Vor allem geht es mir darum, den Schülern zu zeigen, wo sie Informationen finden, auf deren Basis sie sich eine Meinung bilden können.
Haben Sie trotzdem manchmal das Gefühl, dass Sie mit diesem Ansatz nicht weiterkommen – weil die Schüler zu stark von ihrem Elternhaus geprägt sind oder auf Tiktok andere vermeintliche Wahrheiten hören?
Ich bin nicht so vermessen zu sagen, ich als Lehrkraft kann mit Tiktok oder dem Elternhaus mithalten. Es ist nicht meine Aufgabe, Schülerinnen und Schülern zu sagen, dass das, was ihre Eltern sagen, Quatsch ist. Mein Auftrag ist es, Schüler dazu zu befähigen, Meinungen, die an sie rangetragen werden, kritisch zu bewerten. Wenn das nicht bei allen 25 im Klassenzimmer ankommt, kommt es vielleicht bei zweien an, die dann wieder einen Prozess auslösen. Die zum Beispiel bei der nächsten Klassenfahrt sagen: Warte mal, ist das nur ein Gefühl oder kannst du das auch mit Fakten belegen?
Sie haben 2021 an Ihrer Schule eine „AG gegen rechts“ gegründet. Warum?
Zunächst mal will ich sagen: Die meisten Schülerinnen und Schüler sprechen nur von der „AG gegen rechts“, weil das so eingängig ist, aber eigentlich heißt die AG „AG gegen rechts, für Gleichberechtigung und Courage“. Der Auslöser war, dass mir aufgefallen ist, dass im Unterricht und auch in den Pausen nur wenig über Politik und Gesellschaft gesprochen wird, dass es aber durchaus Schülerinnen und Schüler gibt, die das Bedürfnis haben, sich dazu auszutauschen, sich auch mal auszukotzen über das, was sie vielleicht auch wütend oder traurig macht. Als Lehrkraft hat man sonst ja schnell das Gefühl: Ich muss mit dem Lehrplan durchkommen, es fällt sowieso so viel Unterricht aus, da kann ich jetzt nicht noch anfangen, mit meinen Schülerinnen und Schülern über Politik diskutieren. Aber genau dafür haben wir in der AG Zeit.
Wie läuft so ein Treffen ab?
Wir treffen uns einmal pro Woche, in der Regel anderthalb Stunden, manchmal auch länger. Gerade am Anfang war die Idee, dass die Schülerinnen und Schüler ihre eigenen Themen mitbringen. Wir haben viel über Diskriminierungsformen gesprochen, wie man sie erkennt und was man dagegen tun kann. Oft haben wir auch über Begriffe gesprochen, mit denen viele nicht sofort etwas anfangen konnten. Was ist der Unterschied zwischen Sexismus und Misogynie? Was bedeutet eigentlich kulturelle Aneignung? Es gab vor ein paar Jahren zum Beispiel einen Aufschrei um eine Künstlerin, die wegen ihrer Dreadlocks von einem Festival ausgeladen wurde. Die Schülerinnen und Schüler haben dann selbst recherchiert, was man unter kultureller Aneignung versteht, und Beispiele mitgebracht. Als es darum ging zu diskutieren, was davon problematisch und was weniger problematisch sein könnte, habe ich die Gruppe selbst diskutieren lassen und bin rausgegangen.
Sie waren dann gar nicht mehr im Klassenzimmer?
Genau. Bei einer Klasse mit 25 Kindern geht das natürlich nicht, da muss ich als Lehrkraft eine Debatte moderieren. Aber in dem Fall waren das sechs oder sieben Schülerinnen und Schüler, die sich gut vorbereitet hatten. Da finde ich es wichtig, ihnen zu vermitteln: Ihr habt euch informiert, ihr könnt auch alleine diskutieren, ohne euch ständig bei mir als Lehrer rückzuversichern.
Wir gestalten zum Beispiel Plakatwände, die wir im Schulhaus aufstellen, zu Gedenktagen oder zur Europawahl. Da haben wir die Spitzenkandidaten aller Parteien mit ihren Standpunkten, ihren bisherigen Ämtern und einem Zitat vorgestellt. Bei Maximilian Krah von der AfD haben die Schülerinnen und Schüler auch die Vorwürfe und Ermittlungen wegen Verbindungen zu China und Russland erwähnt. Wir haben außerdem versucht, einen Podcast zu konzipieren, in dem wir verschiedene Diskriminierungsformen erklären. Da sind wir gerade noch im Schnitt und merken, wie aufwendig so eine Produktion ist. Und wenn aktuelle Fragen auftauchen, zum Krieg in der Ukraine oder in Gaza, dann besprechen wir die natürlich.
Gibt es Eltern oder andere Lehrer, bei denen der Name „AG gegen rechts“ nicht gut ankommt?
Bei mir persönlich hat sich noch niemand beschwert. Über Ecken habe ich schon mal vereinzelt die Fragen gehört, ob das überhaupt erlaubt sei oder warum es dann keine AG gegen links gebe. Viele gehen noch immer fälschlicherweise davon aus, dass für Lehrerinnen und Lehrer ein Neutralitätsgebot gilt.
Aber es gibt den Beutelsbacher Konsens, der seit den 70er-Jahren unter anderem festlegt, dass Lehrerinnen und Lehrer ihre Schüler nicht politisch „überwältigen“ dürfen.
Das heißt aber nicht, dass sie politisch neutral sein müssen. Ich darf nicht ins Klassenzimmer reinstürmen und sagen: Dieses Wochenende wählt ihr bitte diese oder jene Partei – oder diese oder jene Partei nicht. Aber ich bin sogar verpflichtet einzuschreiten, wenn es gegen das Grundgesetz geht, darauf habe ich als Lehrer einen Eid geschworen. Außerdem legt der Beutelsbacher Konsens fest, dass man kontroverse Meinungen im Klassenzimmer auch kontrovers darstellen muss, und dass man die Schülerinnen und Schüler befähigen soll, sich eine eigene Meinung zu bilden.
Welche Rolle hat der Aufstieg der AfD gespielt, als Sie die AG gegründet haben?
Im Moment ist die Partei natürlich sehr im Fokus, aber ich hätte die AG auch gegründet, wenn es die AfD nicht gäbe. Menschenfeindliche Positionen, zum Beispiel zu Migration, gab es ja auch schon vor der Gründung der AfD. Wir kommen aber ganz automatisch beim Thema Menschenfeindlichkeit an der AfD nicht vorbei, wenn beispielsweise Björn Höcke von „Remigration“ und in diesem Zusammenhang auch von „wohltemperierter Grausamkeit“ spricht.
Machen Sie mit Ihrer AG
auch jetzt weiter, nachdem die AfD bei den Landtagswahlen stärkste Kraft
geworden ist?
Selbstverständlich. Wir tun nichts Verbotenes. Ganz im Gegenteil: Ich sehe uns dazu verpflichtet. Im Thüringer Schulgesetz steht ganz klar, dass Schule den Auftrag hat, zu Achtung vor dem menschlichen Leben, Verantwortung für die Gemeinschaft zu erziehen und Verantwortungsgefühl für alle Menschen in der Welt zu wecken. Wir füllen das mit Leben und werden das auch weiterhin tun.
Was würden Sie sagen: Was läuft bei Ihnen an der Schule gut beim Umgang mit dem Thema Demokratie? Was könnten andere Schulen von Ihnen lernen?
Ich glaube, der konstruktive Ansatz funktioniert bei uns in der AG ziemlich gut. Die Schülerinnen und Schüler lernen nicht nur, wie man menschenfeindliche Positionen erkennen und darauf reagieren kann, sondern auch, was Menschenfreundlichkeit und Solidarität bedeuten. Da kann ein Perspektivwechsel helfen: Warum flüchten Menschen aus ihren Ländern? Und es ist auch toll, dass wir durch unsere AG überhaupt den Raum haben, an einem festen Platz im Schulalltag über politische Themen zu sprechen.
Dieses Interview ist in einer gekürzten Version am 12. August 2024 erstmals in der SZ erschienen. Für die fünfteilige Serie „Aus dem Klassenzimmer“ haben wir das Interview mit Felix Albrecht ergänzt und aktualisiert. Lesen Sie hier die Interviews zu Lehrermangel, Digitalisierung und Migration.