Transparenzblog

Wann wir das Wort „mutmaßlich“ verwenden

In welchen Fällen schreiben wir „mutmaßlich“ - und wann kann dieser Zusatz entfallen?

Von Annette Ramelsberger, Gerichtsreporterin
14. Februar 2025 | Lesezeit: 3 Min.

Das Wort „mutmaßlich“ ist in unklaren Lagen das einzig wahre Wort: Wenn eine Tat wie der Anschlag von München geschieht, stehen Journalisten ja nicht daneben. Sie sehen nicht mit eigenen Augen, was passiert ist. Sie können nur Betroffene befragen, Verletzte, Geschockte, Polizisten. Und auch die wissen ja nicht, ob der Mann am Steuer des Mini Coopers, der am Donnerstag in eine Verdi-Demonstration gerast ist, einen Herzinfarkt hatte, einen psychotischen Schub, der ihn überall Angreifer sehen ließ, oder ob er bewusst und gewollt einen Anschlag auf unschuldige Menschen verübt hat. Um das herauszufinden, braucht es zumindest ein wenig Zeit. Also kann man am Anfang nur „mutmaßen“.

Deswegen sind die Begriffe „mutmaßlicher Terrorist“ und „mutmaßlicher Anschlag“ in dieser unklaren, „Chaosphase“ genannten Zeitspanne angemessen. Das Wort „mutmaßlich“ aber verliert seine Berechtigung, wenn sich Informationen verdichten. Wenn klar wird, dass der Fahrer „Allahu akbar“ gerufen hat oder wenn er in einer ersten Vernehmung berichtet hat, er sei ganz bewusst in den Demonstrationszug gefahren. Angesichts dieser Informationen verdichtet sich die Realität und das „mutmaßlich“ verblasst immer mehr. Und spätestens, wenn dann am Tag danach die Polizei und die zuständige Staatsanwältin auf einer Pressekonferenz berichten, dass sie keinen Zweifel mehr an der terroristischen Ausrichtung der Tat haben, muss das Wort „mutmaßlich“ aus den Texten verschwinden.

Genauso hat sich die Süddeutsche Zeitung in ihrer Berichterstattung zum Anschlag von München verhalten. Am Anfang stand in den Texten zur Tat viel „mutmaßlich“, am Tag danach war das „mutmaßlich“ weg. Dann hieß es „der Anschlag“, „der Täter“. Und das ist richtig so. Die SZ hat sich dazu bewusst entschieden.

Der Pressekodex mahnt Journalisten zu Sorgfalt und Zurückhaltung. So haben Redakteure und Reporterinnen Informationen "mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen“, bevor sie sie veröffentlichen. Oft können sie das aber nicht, weil selbst Polizei und Justiz noch nicht genug wissen, um Belastbares von sich zu geben. Wie schwierig diese Gratwanderung für alle ist, hat man am Donnerstag gesehen. Da sprach der erfahrene bayerische Innenminister Joachim Herrmann, kein Freund von aufputschenden Worten, schon kurz nach der Tat am Tatort davon, der da noch „mutmaßliche“ Täter sei im Zusammenhang mit Diebstählen und Drogen aufgefallen.

Wer ein wenig die Abläufe vor solchen improvisierten Pressekonferenzen kennt, kann sich vorstellen, wie das kam: Der Innenminister weist seine Polizeiabteilung sofort nach dem Einlauf der Meldung vom da noch „mutmaßlichen“ Anschlag an, die internen polizeilichen Dateien nach dem Namen des Verdächtigen zu durchforsten. In diesen Dateien sind sehr viele Straftaten verzeichnet, dazu die Namen der Tatverdächtigen, aber auch die von Betroffenen von Straftaten und von Zeugen. Aber wenn der Ministerpräsident zur Ad-hoc-Pressekonferenz ruft, dann bleibt halt keine Zeit, die Dateien so genau zu analysieren, dass man unterscheiden kann: War der Treffer in der Datenbank ein Opfer, ein Tatverdächtiger, ein Zeuge? So kam erst ein paar Stunden später raus, dass der Täter von München damals nicht Tatverdächtiger, sondern Zeuge war, er hatte als Kaufhausdetektiv gearbeitet. Polizei und Innenministerium haben das dann Stunden später korrigieren müssen.

Der Druck, innerhalb kürzester Zeit belastbare Informationen zu liefern, erfasst immer mehr auch die Polizei. Und er führt unweigerlich zu Fehlern. In Zeiten von Social Media ist der Wunsch, alles in Echtzeit zu erfahren, noch größer geworden. Die Polizei soll sofort alles wissen, alles erkennen, alle Fehler analysieren und bitte auch gleich in den Kopf des Täters schauen können - am besten, während der noch am Boden liegt und gefesselt wird.

Für Polizei und Politik gilt der Pressekodex mit dem Aufruf zur Sorgfalt nicht, aber es schadet nicht, hin und wieder darin zu lesen. Denn darin steht auch: „Unbestätigte Meldungen, Gerüchte und Vermutungen sind als solche erkennbar zu machen.“ Und manchmal hilft es auch, einfach mal zwei Stunden zu warten, sogar in Wahlkampfzeiten. Was, zwei ganze Stunden? fragen jetzt all die Social-Media-Nerds. Das ist doch eine Ewigkeit. Ja, das ist eine Ewigkeit. Aber auch die falschen Informationen sind ja ewig in der Welt.

Deswegen ist ein alter Leitspruch von Nachrichtenagenturen, die immer darum kämpfen, Erster zu sein mit ihrer Nachricht: „Do it first but first do it right.“ („Schreib es als Erster, aber, noch wichtiger, schreib das Richtige.“)

Das gilt nicht nur für Journalisten.

Digitales Design: Lea Gardner; Illustration: Dirk Schmidt; Text: Annette Ramelsberger

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