Immer mehr Migranten aus Afrika machen sich auf den Weg nach Spanien.

Allein die Kanaren rechnen mit 70 000 weiteren Flüchtlingen bis Ende des Jahres.

Nun fährt Premier Sánchez nach Afrika, um die Situation zu entschärfen.

Am Außenposten Europas

Immer mehr Migranten aus Afrika machen sich auf den Weg nach Spanien.

Allein die Kanaren rechnen mit 70 000 weiteren Flüchtlingen bis Ende des Jahres.

Nun fährt Premier Sánchez nach Afrika, um die Situation zu entschärfen.

Am Außenposten Europas

21. August 2024 - 5 Min. Lesezeit

Spaniens Premier Pedro Sánchez macht Urlaub. Im aufgeheizten politischen Klima seines Landes wirft ihm die Opposition sogar das vor. Dabei geht es weniger um die Erholung als um den Ort, an dem Sánchez sie sucht. Er weilt derzeit auf Lanzarote, der östlichsten der Kanarischen Inseln, und weil es eben ein Urlaub ist, hatte Premier Sánchez auch kein Arbeitstreffen mit dem Regierungspräsidenten der Inselgruppe geplant.

Solch ein Treffen aber wünscht sich Fernando Clavijo schon seit Wochen. Aus Sicht des Archipel-Chefs muss Festland-Spanien mehr Solidarität zeigen. Das drängende Thema sind die Migranten aus Afrika, die in den vergangenen Monaten zu Zehntausenden auf den Kanaren eingetroffen sind. Viele der Geflüchteten, insbesondere Minderjährige, sitzen auf den Inseln fest. Die schiere Zahl bringt die Verwaltung an ihre Grenzen. 5200 Jugendliche harren aktuell in mehr als 80 Auffanglagern aus. Dabei ist in den Einrichtungen eigentlich nur Platz für 2000 junge Menschen.

„Der Notfall hat sich in Normalität verwandelt“, sagte Clavijo am Dienstag, das könne man nicht zulassen. „Extreme Dringlichkeitsmaßnahmen“ fordert auch Francis Candil, Vizeminister für das Sozialwohl auf den Kanaren. Weitere 7000 minderjährige Migranten könnten in den kommenden Monaten eintreffen, warnte er in spanischen Medien. Deshalb werden bereits Zeltlager errichtet – das erste auf Lanzarote, Sánchez’ Urlaubsort.

Die Ankömmlinge aus Afrika haben grauenvolle Seereisen hinter sich.

In offenen Booten, die niemals für Überseefahrten gebaut wurden, harren die Flüchtenden dicht gedrängt auf Sparren sitzend tagelang aus.

In offenen Booten, die niemals für Überseefahrten gebaut wurden, harren die Flüchtenden dicht gedrängt auf Sparren sitzend tagelang aus.

Schlepper bringen sie aus Mauretanien, Senegal oder anderen afrikanischen Küstenländern zu den Kanaren. Unter den Jugendlichen seien zunehmend auch Mädchen, berichtet Vizeminister Candil und verweist auf den Fall einer Achtjährigen, die dabei zusehen musste, wie ihre vor Erschöpfung gestorbene Mutter auf hoher See über Bord geworfen wurde.

Bis zu 1500 Kilometer Seeroute liegen zwischen der Küste Afrikas und den kanarischen Inseln zu Spanien. 

Insgesamt trafen den offiziellen Zahlen zufolge im vergangenen Jahr fast 40 000 Menschen aus Schwarzafrika auf den Kanaren ein – mehr als zweieinhalbmal so viele wie 2022.

Das häufigste Ziel der Migranten ist die westlichste Kanareninsel El Hierro. Wer versucht, der zwischen Afrika und den Kanaren patrouillierenden Küstenwache zu entgehen, erreicht dieses Eiland als Erstes.

Bis zu 1500 Kilometer Seeroute liegen zwischen der Küste Afrikas und den kanarischen Inseln zu Spanien. 

Insgesamt trafen den offiziellen Zahlen zufolge im vergangenen Jahr fast 40 000 Menschen aus Schwarzafrika auf den Kanaren ein – mehr als zweieinhalbmal so viele wie 2022.

Das häufigste Ziel der Migranten ist die westlichste Kanareninsel El Hierro. Wer versucht, der zwischen Afrika und den Kanaren patrouillierenden Küstenwache zu entgehen, erreicht dieses Eiland als Erstes.

In diesem Jahr dürften es nochmal deutlich mehr Ankömmlinge werden als die genannten 40 000 im vergangenen Jahr: 23 000 Menschen aus Afrika sind 2024 bereits auf den Kanaren eingetroffen – mehr als doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum des vergangenen Jahres. Spanische Medien spekulieren über insgesamt weitere 70 000 Ankömmlinge bis zum Ende des Jahres. Zahlen, die „möglich und realistisch“ sind, wie der Süddeutschen Zeitung aus Sicherheitskreisen bestätigt wurde.

Die Wetterbedingungen für diese Route sind im Spätherbst am besten. Die Winde flauen ab, die See wird ruhiger. Doch auch dann ist die Passage ein extremes Wagnis. Mehr als 1500 Todesfälle auf der Atlantik-Route sind bislang offiziell notiert. Es wird jedoch vermutet, dass weitaus mehr Menschen bei der Überfahrt ertrunken sind. Die Hilfsorganisation Caminando Fronteras spricht von 6000 Todesopfern.

Einmal auf den Kanaren angekommen, werden die Erwachsenen unter den Migranten zunächst als illegal Eingereiste festgenommen und registriert, obgleich viele ohne Ausweis eintreffen.

Einmal auf den Kanaren angekommen, werden die Erwachsenen unter den Migranten zunächst als illegal Eingereiste festgenommen und registriert, obgleich viele ohne Ausweis eintreffen.

Wer Asyl beantragt, wird vorläufig auf freien Fuß gesetzt. Viele nutzen die Gelegenheit, um auf die iberische Halbinsel weiterzureisen oder nach Frankreich, dessen Sprache sie oft besser können als Spanisch. Minderjährige jedoch, so sieht es das spanische Recht vor, müssen bis zur Volljährigkeit in Einrichtungen betreut werden. Diese Aufgabe möchten die Kanaren nicht mehr allein übernehmen.

Doch mit der Solidarität der anderen spanischen Regionen hapert es. Nur mit Mühe wurde Anfang Juli ein parteiübergreifendes Abkommen beschlossen, das die Übersiedlung von rund 350 der mehr als 5000 minderjährigen Migranten von den Kanaren auf das spanische Festland vorsah. Die Vereinbarung führte prompt zum Koalitionsbruch in fünf spanischen Regionalregierungen. Überall dort, wo die Rechtspopulisten (Vox) mit den Konservativen (Partido Popular) regierten, von Valencia, Aragon über Kastilien und León bis zur Extremadura, zogen sich die Ultrarechten aus der Regierung zurück, Anweisung aus der Parteizentrale.

Als in der Kleinstadt Villaquilambre in der Provinz León ein Auffanglager für 180 Menschen eröffnet werden sollte, liefen auch gemäßigt Konservative Sturm: Ob die Ankömmlinge denn „frei herumlaufen“ dürften, wollte der örtliche Sprecher des Partido Popular wissen.

Zwar landen die meisten Flüchtlinge aus Afrika auf den Kanaren an, aber bei Weitem nicht alle. Rund eintausend Menschen kamen nur in den vergangenen zwei Wochen über das Mittelmeer nach Spanien. Boote mit Migranten aus Algerien trafen an mehreren Stellen der Costa Blanca bei Alicante ein – unter den Ankömmlingen waren nach Medienangaben Säuglinge und eine Frau im Rollstuhl. Auf Mallorca filmten Urlauber, wie sich zwei Dutzend Bootsmigranten ihren Weg zwischen den Handtüchern eines Badestrandes bei Santanyí bahnten.

Zwischen 24 und 48 Stunden dauert die Überfahrt aus Algerien. Für die Schlepper lohnt sie sich oft doppelt: Auf einem Flüchtlingsboot, das Richtung Afrika zurückfuhr, wurden im vergangenen Jahr 68 Kilogramm Methamphetamin sichergestellt – anders als Haschisch oder Kokain wird diese Droge von Europa nach Afrika geschmuggelt. Alfonso Rodríguez, Statthalter der spanischen Regierung auf den Balearen, verwies im Gespräch mit der Mallorca Zeitung darauf, dass in diesem Jahr bereits 30 Schlepper festgenommen worden seien.

Ein besonders verlockendes Ziel für Migranten sind Ceuta und Melilla, die beiden spanischen Exklaven in Nordafrika. Die nur wenige Quadratkilometer großen Landspitzen sind spanisches Territorium auf ansonsten marokkanischem Gebiet.

Vor einigen Tagen versuchten rund 200 Menschen, die meterhohen Grenzzäune und die weit ins Meer ragenden Wellenbrecher von Ceuta schwimmend zu umgehen.

Mehr als fünf Stunden seien sie im Meer unterwegs gewesen, bis sie erschöpft den Strand von Ceuta erreichten, berichteten zwei Jugendliche der Zeitung El País.

Mehr als fünf Stunden seien sie im Meer unterwegs gewesen, bis sie erschöpft den Strand von Ceuta erreichten, berichteten zwei Jugendliche der Zeitung El País.

Am Dienstag wurde bekannt, dass sich Pedro Sánchez nach Abschluss seines Urlaubs nun doch mit Fernando Clavijo, dem Chef der kanarischen Regierung, treffen wird. Am Freitag soll es auf der Insel La Palma zum Gespräch kommen. Direkt im Anschluss wird Spaniens Premier nach Afrika aufbrechen, um Mauretanien, Senegal und Gambia zu besuchen. Jene Länder, aus denen ein Großteil der Menschen stammt, die in bunt bemalten Booten versuchen, Europas Außenposten im Atlantik zu erreichen.

Text: Patrick Illinger; Infografik: Jonas Jetzig; Bildredaktion: Mark Siaulys Pfeiffer; Digitales Storytelling: Carolin Werthmann

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