Wohlstand und Verzicht

„Man kann Wohlstand nicht so messen wie Temperatur“

Aktuell wird viel über den Wohlstand der Deutschen diskutiert. Warum dieser gar nicht so einfach zu definieren und noch schwieriger zu messen ist.

6. Mai 2022 - 5 Min. Lesezeit

Wohlstand. Ein großes Wort, das in den letzten Tagen immer wieder in politischen Debatten fällt. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sagte beispielsweise kürzlich zu den Folgen des Ukrainekriegs: „Das bedeutet im Klartext, dass Deutschland, gemessen an den Prognosen von vor drei oder vier Monaten, natürlich buchstäblich ärmer wird.“ Auch der Leiter des Instituts für Wirtschaftsforschung, Clemens Fuest, warnt vor sinkendem Wohlstand in Deutschland. Aber was ist das überhaupt, Wohlstand? Kann man ihn eigentlich messen?

Justus Haucap ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Düsseldorf. Er sagt: „Man kann Wohlstand nicht so messen wie Temperatur.“ Unter dem Begriff verstehe man „häufig schon etwas Monetäres“, also zum Beispiel, wie viel Geld einem Menschen zur Verfügung steht.

Oft wird das BIP, das Bruttoinlandsprodukt, herangezogen, um die Wirtschaftsleistung eines Landes zu beurteilen. Es beziffert, abstrakt ökonomisch formuliert, den Gesamtwert aller an Endkunden gerichteten Dienstleistungen und Waren innerhalb eines Landes und eines Jahres. Wenn etwa Holz an eine Firma verkauft wird, die daraus Möbel fertigt, zählen nur die Möbel mit, nicht das verbaute Holz. Betrachtet man diese Messgröße für Deutschland seit den 90ern pro Jahr und in Milliarden Euro, kann ein stetiges Wachstum mit wenigen Schwankungen beobachtet werden. Das zeigen Daten des Statistischen Bundesamtes.

Doch das BIP hat auch blinde Flecken. Zum Beispiel werden viele Faktoren in der Berechnung schlicht nicht berücksichtigt. Dazu gehöre im Prinzip „alles, was Leute zu Hause machen“, erklärt Haucap, oder anders ausgedrückt: alles, „was nicht über den Markt abgewickelt wird“. Ob das nun Kindererziehung ist oder ein selbst gebauter Tisch, ist egal. Das BIP geht auch nicht auf Verteilungsfragen ein. Diese Einschränkungen des BIP seien gemeinhin bekannt, „das Dilemma ist nur: Wir haben nichts Besseres.“

Bei der Frage danach, wie gut es den Menschen in Deutschland geht, unterscheidet der Wirtschaftswissenschaftler zwischen Wohlstand, bei dem es eben oft um Monetäres gehe, und dem Wohlergehen, das darüber hinausgeht: „Wie viel Geld haben die Leute? Das ist für viele wichtig, aber es spielen auch andere Dinge eine Rolle. Wie viel Freizeit haben die Leute? Wie ist das Einkommen verteilt in Deutschland? Wie ist der Zustand unserer Natur?“ Das Wohlergehen sei „schwer zu objektivieren“ und nicht einfach in eine Zahl zu fassen. „Ich würde sagen, das ist unmöglich“, so Haucap.

Um sich dem großen Komplex „Wohlstand und Wohlergehen“ anzunähern, braucht es also mehrere Faktoren. Bei einem Blick auf die Vermögensverteilung in Deutschland durch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung zeigt sich beispielsweise, dass 2019 das reichste Prozent der Menschen 35,3 Prozent des Nettogesamtvermögens besitzt. Die „untere“ Hälfte der Bevölkerung vereint dagegen lediglich 1,3 Prozent des Vermögens auf sich.

Ein weiterer unter vielen Indikatoren, mit denen man sich der Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen der Menschen in Deutschland annähern kann, ist ihre Wohnsituation. Hier kann man anhand von Zahlen des Statistischen Bundesamtes einen Anstieg in der Quadratmeterzahl Wohnraum pro Einwohner beobachten. 1987 kamen auf jeden Einwohner 34,6 Quadratmeter Wohnfläche – 2002 waren es 40,1 Quadratmeter, und im Jahr 2020 waren es 47,4 Quadratmeter pro Einwohner.

Fragt man Menschen in Deutschland danach, was sie in ihrem Leben persönlich für besonders wichtig und erstrebenswert halten, werden monetäre Themen weniger häufig genannt. Bei einer Befragung des Instituts für Demoskopie Allensbach fanden etwa 85 Prozent der Interviewten es sehr wichtig, gute Freunde zu haben und enge Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen. Auch die Familie und Partnerschaft wurden von vielen als erstrebenswert gesehen. Lediglich 37 Prozent erachteten ein hohes Einkommen, materiellen Wohlstand und sich viel leisten zu können, als besonders wichtig.

Was als wichtig für die eigene Lebensqualität empfunden wird, kann sich auch über die Zeit wandeln. Was einst für einen Menschen persönlich als erstrebenswert galt, kann heute einen anderen Status zugesprochen bekommen. Oder umgekehrt. Haucap sieht etwa den Wert der Natur und natürlicher Ressourcen als ein Thema, das vor einigen Jahrzehnten noch weniger präsent war. Ein Beispiel für eine solche Entwicklung seien Bio-Lebensmittel. Bei diesen Produkten könne man beobachten, „dass die Leute sagen: Es ist jetzt nicht mehr für mich wichtig, das billigste Fleisch zu kaufen oder die billigste Milch. Natürlich ist das für manche immer noch wichtig, die können sich es vielleicht auch nicht anders leisten, aber man sieht, dass der Anteil von Bio-Nahrungsmitteln total zugenommen hat.“

Diese gestiegene Nachfrage zeigt sich in der Entwicklung des Anteils von Bio-Lebensmitteln am Lebensmittelumsatz in Deutschland, der im vergangenen Jahrzehnt kontinuierlich zugenommen hat. Insgesamt liegt der Anteil im Jahr 2021 laut Statista bei 6,8 Prozent, im Jahr 2010 waren es erst 3,74 Prozent. Als Grund für die wachsende Beliebtheit von Bio-Lebensmitteln sieht Haucap auch sich verändernde Einstellungen. So nähmen sich mehr Menschen vor, gesünder zu leben; und viele seien eher bereit, mehr zu zahlen, um die Natur zu schützen.

Wie genau es um das Wohl der Deutschen steht, ist also schwierig durch eine konkrete Zahl zu beschreiben. Gerade, wenn nicht ausschließlich der Wohlstand, sondern auch das Wohlergehen berücksichtigt werden soll. Dass sich jedenfalls die Politik mit dem Thema zusehends beschäftigt, wird aus dem diesjährigen Jahreswirtschaftsbericht ersichtlich, den Minister Habeck Anfang des Jahres vorgestellt hat. Der Bericht enthält auch ein Kapitel, das sich mit Dimensionen der Wohlfahrt befasst. Das wertet Wirtschaftsexperte Haucap als Anzeichen für eine neue Ausrichtung: „Ein bisschen weg von dem, was wir traditionell als Wohlstand bezeichnet haben, hin zu vielleicht mehr dem Wohlergehen.“

Team
Recherche & Text Christina Rebhahn-Roither
Digitales Design Lea Gardner
Digitales Storytelling Marie-Louise Timcke