Die Implant Files
Das gefährliche Geschäft mit der Gesundheit

Das kranke System

Insulinpumpen, Kunstgelenke, Herzschrittmacher: Implantate und Prothesen kommen oft ohne Studien und mit billigem Material auf den Markt. Sie können Schmerzen, Langzeitschäden oder Tod bringen. Der Patient ist machtlos.

Andreas Rode erinnert sich vor allem an die Schmerzen. Zehn Jahre ist es her, da sei es losgegangen. "Brutalst war das“, sagt der 47-Jährige, „wie Feuer“. Irgendwann habe sein Körper ihm nicht einmal mehr gemeldet, wann er Wasser lassen musste. Mehrmals am Tag habe er sich umziehen müssen.

Andreas Rode erinnert sich vor allem an die Schmerzen. Zehn Jahre ist es her, da sei es losgegangen. "Brutalst war das“, sagt der 47-Jährige, „wie Feuer“. Irgendwann habe sein Körper ihm nicht einmal mehr gemeldet, wann er Wasser lassen musste. Mehrmals am Tag habe er sich umziehen müssen.

Rode leert einen Plastikbeutel auf seinem Küchentisch aus, die Kunststoffbrocken darin fühlen sich an wie vertrockneter Heißkleber. „Das war alles in mir“, sagt der Bayer. Das war mal seine Wirbelsäulenprothese, aber dann haben sich Teile gelöst und in die Nervenbahnen geschoben.

Rode leert einen Plastikbeutel auf seinem Küchentisch aus, die Kunststoffbrocken darin fühlen sich an wie vertrockneter Heißkleber. „Das war alles in mir“, sagt der Bayer. Das war mal seine Wirbelsäulenprothese, aber dann haben sich Teile gelöst und in die Nervenbahnen geschoben.

Ein Arzt, sagt Rode, habe ihm empfohlen, bei einer Studie zu einer neuartigen Wirbelsäulenprothese mitzumachen: „Der sagte: ,Ich schwör’s Ihnen, Ihnen geht es hinterher genauso gut wie vorher, als gar nichts war.`“ 

Rode schlägt ein. Im Jahr 2010 setzen ihm seine Ärzte die Wirbelsäulenprothese Cadisc-L ein. Dass die bis dahin nur an Affen getestet worden war, habe er nicht erfahren.

Ein Arzt, sagt Rode, habe ihm empfohlen, bei einer Studie zu einer neuartigen Wirbelsäulenprothese mitzumachen: „Der sagte: ,Ich schwör’s Ihnen, Ihnen geht es hinterher genauso gut wie vorher, als gar nichts war.`“ 

Rode schlägt ein. Im Jahr 2010 setzen ihm seine Ärzte die Wirbelsäulenprothese Cadisc-L ein. Dass die bis dahin nur an Affen getestet worden war, habe er nicht erfahren.

Früher war Rode Kickboxer, Metzger, Reaktortechniker, Motorradfahrer. Heute kann er beim Kickboxen nur zuschauen, er ist oft arbeitslos. Und er ist schwerbehindert.

Medizinprodukte können geradezu biblische Wunder vollbringen. Künstliche Hüftgelenke, Linsen und Hörgeräte lassen Lahme wieder gehen, Blinde wieder sehen und Taube wieder hören. Immer mehr Menschen bekommen solche Hilfsmittel eingesetzt, die Technik wird immer ausgefeilter. Es gibt keinen Zweifel daran, dass Medizinprodukte - ob Stents, Insulinpumpen oder Kniegelenke - Leben retten, verlängern oder lebenswerter machen. Davon profitieren nicht nur ältere Menschen. Der Bundesverband Herzkranke Kinder zum Beispiel erklärte einmal, dass nicht Erwachsene am meisten von Herzschrittmachern profitierten, sondern Kinder: Sie könnten sich austoben wie gesunde Altersgenossen, die Technologie schenke ihnen ein "langes Leben".

Diese Medizin-Hightech hat allerdings auch eine gefährliche Seite, wenn sie schlampig entwickelt und nachlässig kontrolliert wird, wenn also minderwertige Ware in den Körper gelangt. Das öffentliche Bewusstsein dafür scheint wenig ausgeprägt zu sein. Vor allem wirkt der Staat oft so, als gehe ihn das nichts an.

Die SZ hat in Kooperation mit rund 60 Medien - in Deutschland NDR und WDR - rund eineinhalb Jahre recherchiert, die Ergebnisse werden in diesen Tagen weltweit unter dem Titel Implant Files veröffentlicht. Sie sind alarmierend: Das Implantations-System ist manipulierbar, fehlerhaft und verantwortlich für ungezählte Tote.

Medizinprodukte sind ein Milliardengeschäft, das Bundesministerium für Gesundheit schätzt das Volumen des Weltmarkts auf umgerechnet rund 282 Milliarden Euro jährlich. Allein deutsche Firmen setzen damit 30 Milliarden Euro pro Jahr um.  

Etwa 210 000 Menschen arbeiten hierzulande in der Branche. Nach den USA und China ist Deutschland der drittgrößte Markt weltweit.  

Deswegen möchte man meinen, dass Medizinprodukte – ebenso wie Medikamente – einer strengen, unabhängigen Kontrolle unterliegen. Oder dass die Behörden wissen, welche Geräte den Patienten geschadet haben. Wie viele Menschen Implantate haben. Wie viele daran sterben.

All das ist nicht der Fall.

Über das deutsche System zur Kontrolle dieses einträglichen Medizingeschäfts sagt Harald Schweim, der ehemalige Chef des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM): Es sei "sehr, sehr schlecht". Er muss es wissen, denn seine frühere Behörde war und ist für diese Kontrolle zuständig. Von ihr wird noch die Rede sein.

Die Implant Files zeigen: Allein in den USA stehen Medizinprodukte im Verdacht, innerhalb des vergangenen Jahrzehnts den Tod von mehr als 80 000 Menschen verursacht zu haben. Die US-Behörden haben in zehn Jahren 500 000 Berichte darüber gesammelt, dass Implantate wieder herausoperiert werden mussten, weil sie den Dienst verweigert oder Patienten sogar geschadet hatten.  

Dabei ist der US-Markt besser reguliert als der deutsche: In Europa, und damit auch in Deutschland, sind Neuheiten oft Jahre früher auf dem Markt als in den USA, und sie scheitern nicht selten im Feldversuch mit ahnungslosen Patienten, die ihren Ärzten vertrauen.   

Kapitel 1

Das falsche Versprechen

Udo Buchholz war Zeuge einer medizinischen Revolution, als ihm die Ärzte in Herne vor gut vier Jahren ein Gerät namens Nanostim ins Herz setzten.

Der damals kleinste Herzschrittmacher der Welt ist nur so groß wie eine Tintenpatrone, nicht einmal drei Gramm schwer. Das Versprechen: keine Vollnarkose, keine große OP - und keine Komplikationen. 

Udo Buchholz konnte das Krankenhaus noch am selben Tag verlassen. Ein paar Tage später baten die Ärzte ihn wieder in die Klinik. Die Lokalpresse war geladen, immerhin war Patient Buchholz 2014 einer der Ersten in Deutschland, die eines dieser neuen Geräte der US-Firma St. Jude Medical eingesetzt bekommen hatten.

Buchholz, 69, früher Werkzeugtechniker bei Opel, weißgraues Haar, Schnauzbart, zieht den Zeitungsartikel von damals aus einer Mappe. "Das war ein Tag", sagt er. Auf einem Foto lächelt er in die Kamera, eingerahmt von drei Ärzten. Einer von ihnen ist der Oberarzt, der den Lokaljournalisten den Herzschrittmacher als „größte Innovation der Kardiologie innerhalb der letzten 20 Jahre“ anpries.

Buchholz könne nun wieder ohne Angst leben, heißt es in dem Artikel.

Stefanie Preuin

Bevor Buchholz Nanostim implantiert wurde, war das Gerät nur an Schafen und an 33 Patienten getestet worden. Drei Monate lang überwachten Ärzte die Schrittmacherfunktion bei diesen Menschen. Demnach funktionierte das Gerät meist problemlos. Bei einem Patienten aber wurde beim Einsetzen des Schrittmachers die Herzwand verletzt, der Proband starb wenige Tage später. Auf dieser Basis kam Nanostim auf den Markt. Der Hersteller äußerte sich dazu auf SZ-Anfrage nicht.

Etwa drei Jahre später mehrten sich die Probleme. Immer wieder kamen Patienten mit verlangsamtem Puls und Schwindelgefühl in deutsche Krankenhäuser. Die Ärzte stellten fest, dass die Batterien der Nanostim-Geräte ausgefallen waren. Das geht aus Akten hervor, die der Süddeutschen Zeitung vorliegen. Auch das Einsetzen der Geräte blieb gefährlich: In Deutschland starben mindestens zwei Nanostim-Patienten, nachdem ihre Herzbeutel bei den Implantationen verletzt worden waren. Ob dies am Gerät lag oder an Fehlern der Operateure, blieb unklar. 

Der Herzschrittmacher von Buchholz ist jedenfalls kaputt, so wie die Geräte mehrerer anderer Patienten. Aber weil es sehr riskant ist, Nanostim wieder herauszunehmen, bleibt es nun eben in seinem Herzen. Der Vorzeigepatient aus Herne trägt vier Jahre nach der gefeierten Operation Schrott im Körper.

Die Implant-Files-Recherche zeigt, wie oft in der schwach regulierten Medizintechnik-Branche etwas schiefgehen kann. Immer wieder setzen Ärzte Patienten wie Buchholz schlecht getestete Implantate oder Geräte ein, ohne sie über bewährte Alternativen zu informieren. Der Schaden ist enorm. Allein Marktführer Medtronic stellte für Rechtsstreitigkeiten in den vergangenen zehn Jahren 3,2 Milliarden Dollar bereit. Zudem erfahren Patienten oft nicht, dass Medizinprodukte, die sie selbst nutzen, anderswo auf der Welt bereits wegen lebensbedrohlicher Defekte zurückgerufen worden sind. Und die Industrie und ihre Lobbyisten kämpfen bisweilen erbittert gegen eine strengere Kontrolle neuer Produkte. 

Das ist eines der Kernprobleme: Die oft lebenswichtigen Geräte werden in Europa nicht von Behörden, sondern von privaten Unternehmen auf ihre Funktion getestet, vom TÜV oder der Dekra zum Beispiel oder ihren europäischen Pendants, im Behördensprech heißen sie "Benannte Stellen".

Die Befürworter dieses privatisierten Systems argumentieren, dass es die Entwicklung neuer Produkte beschleunige und Geld spare. Die Unternehmen verlangen regelmäßig vom Staat, ihre "Innovationskraft" nicht durch "Überreglementierung" zu stören. Sie lehnen es zum Beispiel ab, dass der Staat die Kontrolle aller Produkte an sich zieht. Hersteller wollen nicht für jedes neue Gerät umfangreiche Studien vorlegen, vor allem dann nicht, wenn ein ähnliches bereits auf dem Markt ist. Und sie warnen davor, die privaten Prüfer mit immer neuen Regeln zu überfrachten. Die daraus entstehenden Verzögerungen könnten Arbeitsplätze kosten und sogar die Existenz kleiner und mittlerer Unternehmen bedrohen.

Aber die Kontrolle durch Private hat eine Kehrseite: Prüfer wie TÜV und Dekra sind insofern Geschäftspartner der Hersteller, als sie in deren Auftrag und auf deren Rechnung deren Produkte zertifizieren. Und Regierungen sehen weg, unter Umständen auf Kosten der Patienten.

Wie kann das alles sein?

Als Medizinprodukt gilt jeder Gegenstand, der in der Medizin bei Untersuchungen oder zur Behandlung eingesetzt wird, also Pinzetten und Rollatoren ebenso wie Röntgengeräte und Insulinpumpen.

Verbesserungen am Körper sind keine neue Idee. Seit Jahrtausenden setzt die Menschheit Medizinprodukte ein.

So fertigten die Etrusker um etwa 500 vor Christus diesen Zahnersatz aus einem Goldband und eingenieteten Zähnen.  

Noch älter sind diese Holzzehen. Ägyptische Kunsthandwerker schnitzten sie vor 3000 Jahren.

Noch älter sind diese Holzzehen. Ägyptische Kunsthandwerker schnitzten sie vor 3000 Jahren.

George Washington, der erste Präsident der USA, trug ein Gebiss, das angeblich aus Elfenbein und Flusspferdknochen bestand.

George Washington, der erste Präsident der USA, trug ein Gebiss, das angeblich aus Elfenbein und Flusspferdknochen bestand.

Der fränkische Ritter Götz von Berlichingen hatte eine künstliche Hand, die sogar greifen konnte.

Der fränkische Ritter Götz von Berlichingen hatte eine künstliche Hand, die sogar greifen konnte.

Während und nach dem Ersten Weltkrieg eröffneten Studios für Gesichtsprothesen, um Soldaten mit schweren Verwundungen im Gesicht zu helfen.  

Während und nach dem Ersten Weltkrieg eröffneten Studios für Gesichtsprothesen, um Soldaten mit schweren Verwundungen im Gesicht zu helfen.  

Die Prothesen bildeten die verstümmelten Gesichtspartien detailgetreu nach.

1958 folgte der erste implantierbare Herzschrittmacher. Seitdem ist der Markt explodiert - wie der Markt für Medikamente auch. Und wie Medikamente können auch Medizinprodukte Segen oder Fluch sein. Sie können das Leben enorm erleichtern, aber auch furchtbaren Schaden anrichten.

Deshalb gibt es heute für diese Produkte die Risikoklassen I, II und III - die dritte Stufe ist die mit "hohem Risiko", sie gilt etwa für Knieprothesen, Herzschrittmacher oder Brustimplantate. Ein solches Medizinprodukt darf in Europa dann auf den Markt, wenn es das CE-Kennzeichen bekommen hat, das in der EU etwa 50 private Prüfunternehmen vergeben dürfen. Das Kürzel CE bedeutet nichts anders als "Communauté Européenne”, der französische Begriff für Europäische Gemeinschaft.

"Das Kennzeichen ist kein Gütesiegel für den Patientennutzen, sondern ein Vermarktungssiegel", kritisiert der Bremer Gesundheitswissenschaftler Gerd Glaeske. Die Prüfer verdienen nur dann, wenn Kunden, darunter große multinationale Unternehmen, zu ihnen kommen.

Es ist ein System voller Schlupflöcher.  

Eine Schwachstelle ist das sogenannte Äquivalenzprinzip: Es erlaubt die direkte Zertifizierung eines medizinischen Produkts ohne klinische Studien oder Tests. Einzige Voraussetzung: Es gibt bereits ein ähnliches Produkt auf dem Markt, das irgendwann einmal an Menschen getestet wurde.

Die zweite: Die Vorgaben für klinische Studien sind lasch, ein Nutzen des Produkts für den Patienten muss nicht nachgewiesen werden.

Die zweite: Die Vorgaben für klinische Studien sind lasch, ein Nutzen des Produkts für den Patienten muss nicht nachgewiesen werden.

Drittens arbeitet das Prüfunternehmen nicht unabhängig - denn es wird vom Hersteller beauftragt und bezahlt.  

Drittens arbeitet das Prüfunternehmen nicht unabhängig - denn es wird vom Hersteller beauftragt und bezahlt.  

Vierte Schwachstelle: Das CE-Kennzeichen vergibt das Prüfunternehmen oft nur auf Basis der eingereichten Unterlagen - das Produkt selbst muss gar nicht beurteilt werden.

Vierte Schwachstelle: Das CE-Kennzeichen vergibt das Prüfunternehmen oft nur auf Basis der eingereichten Unterlagen - das Produkt selbst muss gar nicht beurteilt werden.

Und fünftens: Selbst wenn ein Prüfunternehmen ein Produkt ablehnt, kann der Hersteller es einfach bei einem anderen versuchen.

Und fünftens: Selbst wenn ein Prüfunternehmen ein Produkt ablehnt, kann der Hersteller es einfach bei einem anderen versuchen.

Solange, bis er irgendwo doch das begehrte Zertifikat bekommt. Wie im Fall von Nanostim, dem Herzschrittmacher, der Udo Buchholz eingesetzt wurde. Zunächst hatte der TÜV Süd das CE-Kennzeichen verweigert. Die Prüfer waren nicht überzeugt und verlangten weitere Tests, insbesondere Langzeitstudien. Einige Monate danach erhielt das Implantat aber durch das Londoner Unternehmen BSI doch grünes Licht - in Großbritannien.

Der Nanostim-Herzschrittmacher, ein Gerät der höchsten Risikoklasse III, kam so auf den europäischen Markt und auf diesem Weg auch nach Deutschland. Auf Anfrage von SZ, NDR und WDR erklärte BSI, dass das Produkt den damals geltenden Vorschriften entsprochen habe. Zudem habe man nicht gewusst, dass eine andere Stelle den Marktzugang für Nanostim verweigert hatte. Dabei waren die wissenschaftlichen Erkenntnisse von Anfang an von zweifelhaftem Wert gewesen. Ärzte, die das Gerät getestet und für gut befunden hatten, erhielten vom Hersteller zum Beispiel Honorare für Vorträge oder Unternehmensaktien. Und an einer Studie arbeiteten sogar Mitarbeiter des Nanostim-Herstellers mit.

Dieses wachsweiche Zertifizierungssystem macht die EU zum kranken Herz des globalen Systems. "Schadhafte Produkte können sich auf diese Weise weltweit sehr schnell verbreiten", sagt Carl Heneghan, ein Medizinprofessor aus Oxford.  In Ländern wie Südafrika, Mexiko und Indien orientieren sich die Gesundheitsbehörden oft an Europa und den USA.

Es ist, als wäre die Kontrolle von Medizinprodukten in der Zeit der Holzzehen und Elfenbeinzähne stehen geblieben.

Um den chronisch intransparenten Markt besser verstehen zu können, reichten Reporter aus 36 Ländern Tausende Anfragen ein, forderten staatliche Akten und Zahlen an - koordiniert vom International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) in Washington, D.C., das zuvor Recherchen wie Panama Papers oder Paradise Papers organisiert hat. Das Team sah Tausende Dokumente durch, sprach mit Hunderten Patienten und Experten aus den Bereichen Medizin, Korruptionsbekämpfung und Verbraucherschutz, um Struktur und Ausmaß des Problems aufzudecken.

Kapitel 2

Im Stich gelassen

Andreas Rode erholt sich noch von den Nachwirkungen seiner Wirbelsäulen-OP, da gehen beim Prothesen-Hersteller Ranier Technology mit Sitz im britischen Cambridge die ersten Meldungen über Zwischenfälle ein. Im Jahr 2014 gibt die Firma in einer dringenden Sicherheitsmitteilung sogar den Rückruf einer ganzen Charge bekannt. Der Mitteilung zufolge habe bei fast jedem fünften Patienten nachoperiert werden müssen. Andreas Rode erfährt davon nach eigenen Angaben erst mal nichts, genauso wenig wie von den Problemmeldungen, die beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) auflaufen.

Die Bonner Behörde ist jenes Amt, das die Patienten in Deutschland schützen soll. Ihr stehen dafür aber keinerlei Instrumente zur Verfügung. Das BfArM mit seinen rund 1100 Mitarbeitern ist ein trauriger Pappsoldat. Im Zweifel nehmen die Hersteller mangelhafte Produkte irgendwann einfach leise selbst vom Markt; oft heißt es dann, es habe keine Nachfrage mehr gegeben. Sogar der Rückruf von Geräten ist ihnen meist selbst überlassen. 

Wenn es dagegen um die Zulassung neuer Produkte geht, rennen die Hersteller in Europa offene Türen ein. 

Wie aberwitzig die Lücken dieses Systems sind, zeigt eine verdeckte Recherche der niederländischen TV-Journalistin Jet Schouten.

Schouten, die auch das Projekt Implant Files angestoßen hat, kaufte sich ein Netz Mandarinen im Supermarkt. Ein einfacher Handgriff genügte...

Schouten, die auch das Projekt Implant Files angestoßen hat, kaufte sich ein Netz Mandarinen im Supermarkt. Ein einfacher Handgriff genügte...

... und aus dem Mandarinennetz wurde ein Medizinprodukt. Schouten schrieb mit Experten eine sehr technisch klingende Dokumentation, in der sie das Mandarinennetz in ein Vaginalnetz umdeutete: ein Medizinprodukt, das Frauen mit Beckenbodenschwäche helfen soll.

... und aus dem Mandarinennetz wurde ein Medizinprodukt. Schouten schrieb mit Experten eine sehr technisch klingende Dokumentation, in der sie das Mandarinennetz in ein Vaginalnetz umdeutete: ein Medizinprodukt, das Frauen mit Beckenbodenschwäche helfen soll.

Schouten gab sich dann als Herstellerin aus. Drei Prüfunternehmen stellten ihr tatsächlich das CE-Kennzeichen für ihr Mandarinennetz als medizinisches Produkt in Aussicht, bevor sie das Experiment abbrach.

"Sie haben uns nicht einmal eine kritische Frage zur Sicherheit des Produkts gestellt", sagt Jet Schouten, "wir konnten einfach Daten aus dem Internet kopieren."   

Zur Wirbelsäulenprothese von Andreas Rode wurden in den Jahren nach seiner Operation auch Behörden in den Niederlanden, in Belgien und Großbritannien unerwünschte Zwischenfälle gemeldet. Laut Papieren, die SZ-Reporter einsehen konnten, wurden dabei noch nicht einmal alle bekannten Problemberichte von den Mitarbeitern des Herstellers weitergereicht. Der frühere Chef von Ranier Technology, Geoffrey Andrews, erklärte auf Anfrage, dass sich die Firma seines Wissen niemals ungesetzlich verhalten habe.  

So kann es passieren, dass sich die Probleme häufen - das Produkt aber weiteren Patienten eingesetzt wird. Oder dass Patienten den richtigen Zeitpunkt verpassen, um sich ihr womöglich schadhaftes Modell entfernen zu lassen. Die Wirbelsäulenprothese von Andreas Rode hatte drei Jahre Zeit, sich in Einzelteile aufzulösen. Rode kann als Folge der vielen Operationen keine Kinder mehr zeugen. Er hat erst in diesem Jahr geheiratet, wollte mit seiner Frau, die 13 Jahre jünger ist als er, eine Familie gründen. "Aber das wird jetzt nichts", sagt er.  

In Deutschland wissen Behörden zwar, welches Auto wem gehört, wie viel Sprit es im Schnitt verbraucht und wann es zuletzt auf seine Funktionstüchtigkeit geprüft wurde. Aber wer wann welches Gerät ins Herz, in die Hüfte oder das Knie implantiert bekommt, das wissen nur die operierenden Ärzte und Krankenhäuser.

Stefanie Preuin

Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), Bonn

Für "sehr, sehr schlecht" hält Harald Schweim, 68, das ganze System. Er kennt es gut: Der Pharmakologe hat das BfArM vier Jahre lang geleitet, von 2000 bis 2004. Dass nicht der Staat, sondern Privatunternehmen die Technik überprüfen? "Aus meiner Sicht falsch." Das Zulassungsverfahren für Hochrisikoprodukte? „Müsste aus meiner Sicht unter staatliche Kontrolle.“ Die angebliche Ohnmacht der Behörden? „Ich muss gestehen, die Medizinprodukte-Hersteller in Deutschland haben eine sehr gute Lobby. Die hatten die Politiker auf Pfiff bei Fuß. Besser, als meine Hunde parieren.“

Zwar sammelt das BfArM Informationen über Probleme mit Medizinprodukten. Die Daten sind allerdings, anders als etwa in den USA, geheim. Nur ausgewählte Behörden haben Zugriff - aber kein Patient.

Die Gründe dafür sind nur schwer nachzuvollziehen. So schreibt etwa das Bundesministerium für Gesundheit auf Anfrage, man finde eine landesweite öffentliche Datenbank "nicht sinnvoll", da es ja ein EU-weites Problem sei. Und das BfArM lässt wissen, die Öffentlichkeit zu informieren, sei "nicht einmal teilkongruent“ mit den Aufgaben des Amtes. Also Vorhang zu, und alle Fragen bleiben offen.

Liegt alles am Einfluss der Industrie auf die Politik? Gleich vier Lobbyverbände für Medizinprodukte gibt es in Deutschland. Der heutige Gesundheitsminister Jens Spahn erwähnte schon vor Jahren, damals noch als gesundheitspolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, seine vielen Treffen mit Lobbyisten: „Es gibt Wochen, da habe ich zehn, zwanzig solcher Gespräche.” Bis 2010 war Spahn sogar selbst an der Lobbyfirma Politas beteiligt, die Kunden aus der Medizin- und Pharmabranche beriet.

Auch der frühere CDU-Fraktionschef Volker Kauder, einer der engsten Vertrauten von Kanzlerin Angela Merkel, kann gut erklären, warum strengere Bestimmungen angeblich schlecht seien. In seinem Wahlkreis Rottweil-Tuttlingen sind besonders viele Medizinproduktehersteller ansässig. 

In einem Brief an den damaligen Gesundheitsminister Hermann Gröhe vom November 2014 lobte der Europa-Abgeordnete Peter Liese (beide CDU) sich selbst und seine konservative EVP-Fraktion dafür, im Europäischen Parlament verhindert zu haben, dass eine staatliche Behörde über die Zulassung von Medizinprodukten entscheidet. Die Regierungsfraktionen im Bundestag, CDU/CSU und FDP, hatten sich 2012 bei der anstehenden Medizinprodukteverordnung der EU für die Interessen der Hersteller eingesetzt.

Jens Spahn, der heutige Gesundheitsminister, ist als solcher auch oberster Dienstherr des BfArM. Wie groß der Einfluss seines Ministeriums auf diese Behörde sein könnte, hat Vorgänger Gröhe schon bewiesen. Als das Bundesverwaltungsgericht das BfArM im Frühjahr 2017 dazu verpflichtete, schwer kranken Menschen in ganz bestimmten Fällen mit tödlichen Medikamenten beim freiwilligen Sterben zu helfen, ordnete Gröhe an, der Staat dürfe nicht "zum Handlanger einer Selbsttötung" werden - höchstrichterliches Urteil hin oder her. Das BfArM verstand und weist bis heute alle Anträge von Sterbewilligen auf die todbringenden Medikamente ab.

Auch viele Opfer fehlerhafter Kunstgelenke, Herzschrittmacher oder Insulinpumpen hoffen vergeblich auf den Staat. Dabei wollen Patienten wissen, warum sie leiden, wie viele sie sind, an wen sie sich wenden können, um nicht noch einmal ein schlechtes Produkt eingesetzt zu bekommen. In Deutschland erhalten Patienten darauf kaum Antworten, weil Politiker sich häufig zuerst dem Schutz der Unternehmen verpflichtet sehen.

So sieht diese Desinformation in der Praxis aus:  

BfArM

Mehr als eineinhalb Jahre dauert es, bis das BfArM der SZ die Dokumentation zu einem einzigen angefragten Fall herausgibt.

BfArM

Einzelne Berichte über Probleme mit dem Herzschrittmacher Nanostim schwärzt das Amt so gründlich, dass sich kein Sinn mehr daraus ergibt.

BfArM

Bisher hat das BfArM die Auskunft verweigert, wie viele gefährliche Zwischenfälle es im vergangenen Jahrzehnt mit welchem Produkt gegeben hat. Patientinnen und Patienten könnten anhand dieser Informationen erfahren, ob ihr Implantat wiederholt Probleme bereitet hat.

Weder auf EU-Ebene noch weltweit gibt es funktionierende öffentliche Register oder Warnsysteme, obwohl im Schnitt etwa tausend Medizinprodukte pro Jahr von den Herstellern zurückgerufen oder mit Warnhinweisen versehen werden. Nach Recherchen des Implant-Files-Teams verfügt nicht einmal ein Fünftel aller Länder der Erde über Datenbanken, in denen Bürger Sicherheitswarnungen finden und Informationen über Medizinprodukte abrufen können.

Im Zuge dieser Recherche haben Reporterinnen und Reporter auf der ganzen Welt immer wieder Patienten getroffen, die beteuerten, sie hätten vom Hersteller nichts über den Rückruf ihrer schadhaften Geräte erfahren - sondern über Facebook oder aus Selbsthilfenetzwerken. Mehreren finnischen Patientinnen wurde sogar noch ein Produkt eingesetzt, für das es in der EU längst einen Verkaufsstop gab: Essure, eine umstrittene Sterilisationsspirale der Firma Bayer.

Auch die Toten werden nicht systematisch erfasst und ebenso wenig jene Zahl von Menschen, die in Lebensgefahr gebracht wurden. Das führt zu absurden Gefällen in globalen Statistiken: Während in den USA mit ihren 325 Millionen Einwohnern in den vergangenen zehn Jahren 26.700 Medizinprodukte zurückgerufen wurden, waren es in Indien, wo 1,2 Milliarden Menschen leben, zwischen 2013 und 2017 gerade mal 14. Daten über Probleme werden nur schlampig erfasst und nur schlampig geteilt.

Stefanie Preuin

Die Berliner Anwältin Ruth Schultze-Zeu

"All die Fälle, die ich vertrete, können sich jederzeit wiederholen", sagt Ruth Schultze-Zeu. Seit 23 Jahren begleitet die Berliner Anwältin Patienten vor Gericht. 2015 erstritt sie vor dem Europäischen Gerichtshof ein bahnbrechendes Urteil, auf das sich seither Juristen in ganz Europa berufen können: Im Schadensfall müssen Patienten, falls ein Rückruf oder Warnhinweis zu einem Produkt vorliegt, nicht mehr den Fehler am eigenen Gerät nachweisen. Ohne einen solchen Rückruf oder Warnhinweis haben Patienten aber weiterhin kaum eine Chance. "Solange sich das System nicht ändert, haben Hersteller praktisch freie Bahn, die Produkte mit billigen Materialien und ohne Studien auf den Markt zu bringen", sagt Schultze-Zeu.

Selbst dann, wenn es Studien gibt, sind diese selten unabhängig. Der Arzt beispielsweise, der Andreas Rode die neuartige Bandscheibenprothese eingesetzt hat und an deren Marktzulassung beteiligt war, hatte finanzielle Verbindungen zum Hersteller. Als das Unternehmen insolvent wurde, stand er auf der Liste der Gläubiger. Die meisten Studien über Medizinprodukte werden von der Industrie selbst finanziert. Studien, die für Hersteller ungünstig ausgehen, verschwinden. Anders ist das bei Medikamenten: Wer eine klinische Arzneimittelprüfung beginnt, muss diese eintragen lassen, was es schwerer macht, unerwünschte Ergebnisse unter den Tisch fallen zu lassen.

Diese Vorgehensweise fügt betroffenen Menschen meist weiteren Schaden zu. Patienten kämpften oft jahrelang, um den Fehler an ihrem Gerät nachzuweisen, sagt die Anwältin Ruth Schultze-Zeu. Mitunter sei der Beweis auch deswegen so schwierig, weil die Hersteller ihre Leute direkt in den Operationssaal schickten, wenn ein Implantat wieder entfernt werde. "Die nehmen die Implantate im Operationssaal mit, obwohl sie Eigentum der Patienten sind" - und Beweisstücke im Kampf um Schadenersatz. Wenn doch mal eine Entschädigung auf dem Tisch liege, verstummten die Betroffenen oft auf der Stelle. "Die meisten Fälle werden außergerichtlich geregelt, mit einem Verschwiegenheitsvertrag", sagt Ruth Schultze-Zeu.  

Kapitel 3

Die Versuchskaninchen

Das Gerät in Maria Stirns Brust soll ihr Leben retten, wenn ihr Herz stehen bleibt. Aber an einem warmen Tag im Frühjahr 2008 verpasst es der jungen Frau unkontrollierte Stromstöße, einmal, zweimal, dreimal, viele Male fahren Schockwellen durch ihren Körper. Maria Stirn (Name geändert) ist schwanger. Sie verliert ihr ungeborenes Kind.

Heute darf sie mit niemandem über ihren Fall und die Verwicklung mit dem Hersteller Medtronic sprechen. Sie war gegen die Firma vorgegangen, nachdem diese zunächst "großes Bedauern" bekundet hatte, aber keinen Schadenersatz leisten wollte. Schließlich schickte Stirn den Obduktionsbericht ihres ungeborenen Kindes, und Medtronic willigte ein, aus "Kulanz" einige Tausend Euro "Wiedergutmachung" zu zahlen. Im Gegenzug hat sich Maria Stirn verpflichten müssen, über den Fall Stillschweigen zu bewahren.

Die Politik hat lange teilnahmslos zugesehen. Vom Jahr 2020 an soll eine neue EU-Verordnung zu Medizinprodukten zwar für Besserung sorgen, der Kern des Problems aber wird bleiben: keine unabhängigen Studien; keine vorgeschriebene Haftpflichtversicherung für Hersteller; keine Gewissheit darüber, wann die europaweite Datenbank zu Produktproblemen fertig wird und ob sie die Öffentlichkeit einsehen darf. Wenn nicht, bleibt es beim alten System, in dem der Patient, wenn überhaupt, durch Zufall etwas erfährt. 

In den USA überwacht immerhin eine staatliche Stelle den Markt, die Bundesbehörde Food and Drug Administration (FDA). So kann es vorkommen, dass Patienten in der EU fehlerhafte Produkte in sich tragen, die in den USA noch nicht einmal zugelassen sind und es am Ende auch nicht auf den amerikanischen Markt schaffen werden. Das Brustimplantat Trilucent etwa, das Tausenden Frauen in Europa eingesetzt wurde und dessen Füllung aus Sojaöl mitunter auslief. Oder der Robodoc, ein Roboter, der etwa Hüftprothesen einbauen sollte und dabei mitunter Nerven und Sehnen verletzte. Laut einer Studie im British Medical Journal wurden für 27 Prozent der Produkte, die zuerst in der EU auf dem Markt waren, früher oder später Sicherheitswarnungen oder Rückrufe ausgegeben; dagegen war dies nur bei 14 Prozent der Produkte der Fall, die zuerst in den USA zugelassen wurden.

"Im EU-System ist die Bevölkerung das Versuchskaninchen", sagte Jeffrey Shuren, Chef des Medizinprodukte-Zentrums der US-Behörde FDA, im Jahr 2011. Er fügte hinzu: "In den USA benutzen wir die Menschen nicht als Versuchskaninchen."

Maria Stirn war 24 Jahre alt, als sie im Jahr 2005 mit ihrem Auto von der Straße abkam. Ihr Herz blieb stehen, der Notarzt holte die junge Frau zurück ins Leben. Im Krankenhaus erklärten ihr die Ärzte, dass ihr Herz jederzeit wieder aufhören könne zu schlagen. Sie bekam ein Gerät, das die Ärzte ICD nennen, halb Herzschrittmacher, halb Defibrillator. Damit verbunden waren Sonden vom Typ Sprint Fidelis, hergestellt wieder vom Weltmarktführer für Medizinprodukte, der Firma Medtronic. Es waren zu jenem Zeitpunkt die dünnsten und neuesten Sonden auf dem Markt.

Aber mit diesen Elektroden, die die Herztätigkeit messen und die Ergebnisse an den Schrittmacher senden sollten, hatte es schon früh Komplikationen gegeben. Immer wieder waren die Sonden gebrochen, wodurch die Patienten mit Stromstößen traktiert wurden. Allein in den USA sollen laut Datenbank der Regierungsbehörde FDA mehr als 2000 Todesfälle mit Sprint Fidelis in Verbindung stehen. Im Oktober 2007 hat Medtronic das Sonden-Modell zurückgerufen.

Bei Maria Stirn kam diese Warnung nicht an. Im Frühjahr 2008 verpasste ihr das Implantat mehrere „inadäquate ICD-Schocks“, wie es die Ärzte nannten. Dass der Tod ihres ungeborenen Babys damit zusammenhängt, gilt als wahrscheinlich, ist aber nicht bewiesen. Stirn hatte jedenfalls nicht rechtzeitig erfahren, dass der Hersteller geraten hatte, mit einem Arzt zu reden.

Wie ist ein solches Kontroll- und Kommunikationsversagen möglich? Vielleicht liegt es daran, dass es bei Medizinprodukten nie einen solch großen, globalen Skandal gab wie in der Pharma-Industrie, in der heute nach dem Contergan-Skandal viel strengere Regeln gelten.

Die „Contergan-Kinder“ waren der Ground Zero der Arzneimittelbranche. Bis Ende der 1950er-Jahre hatten Ärzte schwangeren Frauen Contergan verschrieben, ein Schlafmittel, das besonders verträglich sein sollte.

Doch dann kamen Kinder mit schweren Missbildungen zur Welt, ohne Arme, ohne Beine.

Doch dann kamen Kinder mit schweren Missbildungen zur Welt, ohne Arme, ohne Beine.

Die Bilder waren in allen Zeitungen und Nachrichtensendungen zu sehen, wieder und wieder. Ein kollektiver Schock.

Angesichts der weltweiten Empörung wurden damals die Arzneimittelgesetze verschärft. Hersteller müssen seither in kontrollierten Studien nachweisen, dass ihre Produkte wirksam und sicher sind. Bei Medizinprodukten hingegen wird lediglich geprüft, ob das Produkt kann, was der Hersteller verspricht. Lässt sich ein künstliches Knie beugen? Gibt der Defibrillator die richtigen Impulse ab? Nicht geprüft wird allerdings, wie sich die Technik langfristig im Körper bewährt.

Natürlich kann es auch positive Folgen haben, wenn neue Produkte schnell und unbürokratisch auf den Markt gelangen. Manchmal warten Patienten sehnlichst auf neue Geräte mit neuen Möglichkeiten der Therapie. Die Entscheidung der privaten Prüfinstitute steht also nicht nur zwischen den Unternehmen und ihren Profiten, sondern unter Umständen auch zwischen den Patienten und deren Gesundung. Dies gilt aber genauso für die Pharmabranche, und trotzdem herrscht in der Medizinwelt Einigkeit darüber, dass die strengen Regeln für die Zulassung von Arzneimitteln notwendig sind.

Die Prüfer von Medizinprodukten dagegen beschränken sich manchmal nur darauf, einen Stapel Papier durchzublättern. Zertifizierung nach Aktenlage: Nach diesem Muster winkten die Behörden auch das Mandarinennetz der Reporterin Jet Schouten als "Vaginalnetz" durch.

Funktioniert hat das Experiment wegen des sogenannten Äquivalenzprinzips. Demnach ist die Zertifizierung ohne klinische Studien oder Tests erlaubt, wenn bereits ein ähnliches medizinisches Produkt auf dem Markt ist, das irgendwann einmal an Menschen getestet wurde. Auf diese Weise können immer neue Medizinprodukte verkauft werden, ohne an Patienten erprobt zu werden.

Am Beispiel einer Hüftprothese des Medizintechnik-Konzerns Johnson & Johnson haben Wissenschaftler gezeigt, welche absurden Ausmaße das Äquivalenzprinzip annehmen kann.

Um keine eigene klinische Studie durchführen zu müssen, berief sich der Hersteller auf sechs vorhandene Implantate. Diese waren wiederum auf die gleiche Weise zertifiziert worden. Indirekt stützte sich Johnson & Johnson so auf 63 Vorgängerprodukte. Einige waren älter als 30 Jahre und sind längst wegen häufiger Komplikationen vom Markt genommen worden:  

Ein Sprecher von Johnson & Johnson erklärt dazu, dass die meisten Medizinprodukte nach einem solchen Verfahren auf den Markt gebracht würden. Die Sicherheit und Effizienz aller Produkte werde von der zuständigen US-Behörde FDA unabhängig geprüft.  

Das Äquivalenzprinzip erklärt auch, warum in Deutschland in den vergangenen acht Jahren etwa 10 000 Medizinprodukte neu auf den Markt kamen, aber weniger als hundert Zertifizierungen abgelehnt wurden.

Welche das sind? Weder die Behörden noch die Prüfstellen nennen die Namen der betroffenen Produkte und Hersteller. Der Gesetzgeber wolle die Daten "bewusst nicht der breiten Öffentlichkeit zugänglich machen", schreibt dazu das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information, wie das BfArM eine nachgeordnete Behörde des Gesundheitsministeriums, auf Anfrage der SZ.

Bewusst keine Information für die Bürger? Warum ist das so?

Zu alldem müsste Gesundheitsminister Jens Spahn eigentlich viel zu sagen haben. In einem Zeitraum von zwei Monaten hat er jedoch keine Zeit gefunden, zu diesen Dingen persönlich in einem Interview Stellung zu nehmen. Man solle aufschreiben, was man wissen wolle. Sein Sprecher ergänzte: doch bitte beschränkt auf "die wichtigen Fragen". 

Der Minister hat offenbar gerade andere Prioritäten. Als eine SZ-Reporterin ihn am Rande einer Gala fragt, weshalb Menschen in Deutschland nicht erfahren sollen, wie viele Probleme es mit Medizinprodukten gibt, wirkt er überrascht. Als seien die Thematik und das journalistische Interesse daran völlig neu für ihn.

Wie muss das Menschen wie Andreas Rode, Maria Stirn oder Udo Buchholz vorkommen?

Die Wirbelsäulenprothese, die Andreas Rode im Rahmen einer Studie eingesetzt worden war und später in seinem Körper zerfiel, wurde schon wenige Monate nach seiner Operation für den europäischen Markt freigegeben und allein im Klinikum im niedersächsischen Leer mehr als hundert Patienten eingesetzt. Rund 70 von ihnen musste sie wieder herausoperiert werden. Der zuständige Wirbelsäulenchirurg ist wegen Körperverletzung angeklagt worden. Gegen den Hersteller der Prothese können Rode und die Patienten aus Leer nicht mehr klagen, die Firma ist seit 2015 insolvent.  

Wie es Maria Stirn, die ihr ungeborenes Kind verloren hat, heute geht, ist nicht zu erfahren. Ihre Vereinbarung mit Medtronic hindert sie noch immer am Reden.

Udo Buchholz schrieb im Mai 2017 eine Mail an St. Jude Medical, den Hersteller seines Herzschrittmachers Nanostim. Man habe ihm versprochen, dass das Gerät zehn Jahre halten würde. "Nun ist die Batterielaufzeit vorzeitig zu Ende. Wird mein Nanostim ersetzt?", fragte Buchholz. Er hat bis heute keine Antwort erhalten.  

Von Christina Berndt, Katrin Langhans, Mauritius Much, Frederik Obermaier, Bastian Obermayer, Anna Reuß, Nicolas Richter und Ralf Wiegand

Das sind die Implant Files

Implantate können Leben retten – oder zerstören. Über einen Medizin-Skandal, der Tag für Tag aufs Neue passiert.

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"Ich hatte einfach nur Angst"

 Elf Patienten erzählen von ihrem Leben mit fehlerhaften Implantaten.  

Dieser Artikel erschien erstmals am 26.11.2018 in der SZ. Die besten digitalen Projekte finden Sie hier.

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