Teufelsspirale
Das Sterilisationsmittel Essure von Bayer galt als Revolution in der Verhütung: sanft, schnell und dauerhaft. Doch dann begann für Tausende Frauen die Hölle.
Es schien alles so einfach zu sein. Nicht einmal zehn Minuten sollte die Prozedur dauern, danach sei die Patientin permanent sterilisiert und "sorgenfrei", versprach der Hersteller.
Zu mehr als 99 Prozent verlässlich sei das Produkt, hieß es in Broschüren und Werbespots. Kein einziger Schnitt sei dafür nötig, nicht einmal eine Betäubung. Essure sei "die derzeit effektivste permanente Verhütungsmethode".

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Jene Frauen, die das noch nicht überzeugte, konnten sich an Gaby wenden. An Gabriella Avina, damals Mitte dreißig, Krankenschwester aus Kalifornien, Mutter von drei Kindern. Mit ihrem jüngsten Sohn war sie schwanger geworden, obwohl sie mit einer Hormonspirale verhütet hatte. Als ihr Arzt ihr im Jahr 2000 von der Wunderverhütung Essure des Herstellers Conceptus erzählte, war sie begeistert. "Es war alles, was ich gesucht hatte", sagt sie heute. Sie ließ sich die neuartigen Metallspiralen implantieren und gab ihre Erfahrungen weiter.

Matej Povše/Oštro
Die Herstellerfirma verpflichtete sie sogar als Markenbotschafterin. Die Zusammenarbeit sollte von 2001 bis ins Jahr 2008 dauern.
Gabriella Avina schien geradezu perfekt für den Job zu sein. Als Krankenschwester besaß sie genügend Fachwissen und war trotzdem der Typ, den Frauen als "eine von uns" akzeptieren würden. Auf seiner Homepage richtete der Hersteller einen eigenen Bereich für sie ein, ein Foto zeigte die Frau mit einem gewinnenden Lächeln: "Ask Gaby". Ihr Haar trug sie schulterlang, praktisch, nichts Ausgefallenes, mit schrägem Pony. Eine von uns eben.

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Jeden Tag beantwortete sie Mails, die ihr fremde Frauen schickten, redete ihnen Ängste aus - und mögliche Nebenwirkungen klein. Eine Maniküre dauere länger als dieser Eingriff, habe sie den Frauen gesagt. Alles war so einfach. Oder besser: hätte so einfach sein können.
Frauen auf der ganzen Welt berichteten von Haarausfall, davon, dass sie Zähne verloren, von Schmerzen und heftigen Blutungen. Damit gehörten sie noch zu den Glücklicheren. Immer wieder schrieben Frauen auch an Gabriella Avina, dass es ihnen mit Essure schlechter gehe als je zuvor.
Sie habe die Informationen damals, so behauptet die frühere Markenbotschafterin im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung am Telefon, stets an den Hersteller weitergegeben und dasselbe auch den Frauen geraten. "Ich habe dem Unternehmen vertraut, auch wenn ich heute weiß, dass das falsch war", sagt die 53 Jahre alte Frau rückblickend. Der Hersteller erklärte, jegliche Andeutung von unangemessenem Verhalten sei "komplett spekulativ".
Avina lebt noch immer in Kalifornien und arbeitet wieder als Krankenschwester. Sie trägt die gleiche Frisur wie auf den Fotos von damals.

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Der Essure-Hersteller heißt inzwischen aber nicht mehr Conceptus, sondern Bayer. Der Leverkusener Weltkonzern hat die Firma vor fünf Jahren übernommen. Bis heute weigert sich die Bayer AG, Fehler im Zusammenhang mit dem profitablen Produkt Essure einzugestehen. "Wir stehen nach wie vor zu der Sicherheit und Wirksamkeit des Produkts", erklärte der Konzern auf Anfrage.
Essure, als medizinische Revolution angepriesen, wurde zum Desaster.
Die Idee zur Sterilisationsmethode Essure enstand 1987, als die Ärztin Amy Thurmond aus Oregon auf einem Medizinkongress ein Verfahren vorstellte, das unfruchtbaren Frauen zur Schwangerschaft verhelfen sollte. Mithilfe eines Katheters sollten undurchlässige Eileiter wieder durchgängig gemacht werden. Der amerikanische Medizinunternehmer Julian Nikolchev, der im Publikum saß, kam darauf, dass sich mit diesem Schlauch allerdings auch Spiralen direkt in funktionierende Eileiter einsetzen ließen. Die Spiralen würden sich im Eileiter ausdehnen, eine Entzündung auslösen, und die folgende Vernarbung des Gewebes würde die Eileiter dauerhaft verschließen - das perfekte Verhütungsmittel.
Die Spirale besteht aus Nickel, Titan, Eisen, Chrom, Silber-Zinn, Platin und einem Kunststoffanteil aus Polyethylenterephthalat. Diese als Nitinol bekannte Legierung war schon zuvor in der Implantationsmedizin verwendet worden. Schon früher hatten darauf Patienten mit gesundheitlichen Problemen reagiert, auch hatte das Material bei Stents, mit denen verengte Blutgefäße geweitet werden, laut Washington Post zu unerwünschten Reaktionen geführt.
Für die Herstellung der Spirale gründete Nikolchev Anfang der 1990er-Jahre die Firma Conceptus. 1998 testete das Unternehmen das Verhütungsmittel erstmals an Frauen, drei Jahre später kam Essure zunächst in Europa auf den Markt. Erst ein Jahr später präsentierte die Firma ihre Sterilisationsmethode einem US-amerikanischen Expertengremium aus Ärzten und Vertretern der Food and Drug Administration (FDA), einer Behörde, die unter anderem für die Zulassung und Überwachung von Medizinprodukten in den USA zuständig ist.
Essure bekam die US-Marktzulassung im Jahr 2002 gegen die Bedenken mehrerer Mitglieder der Kommission. Die FDA vertraute einer Studie, die die Zuverlässigkeit von Essure an Frauen über einen Zeitraum von 18 Monaten bis drei Jahren untersucht hatte.
Eine Verbrauchervertreterin, die dem Gremium angehörte, sagte, von "permanenter Sterilisation" zu sprechen, obwohl man nur wisse, dass das Produkt für eine überschaubare Zeit sehr gut funktioniert habe, sei "ein wenig riskant". Fünf Frauen hätten drei Jahre lang verlässlich mit Essure verhütet, sagte eine Vertreterin der Herstellerfirma laut einem Manuskript des Treffens. (Bis zur Zulassung stieg die Zahl der drei Jahre lang beobachteten Frauen auf 34.)
Und lediglich die Professorin Dr. Nancy Sharts-Hopko von der Villanova University stellte die Verträglichkeit von Nickel infrage: "Ich weiß nicht, was mit Menschen passiert, die empfindlich auf Metall reagieren, wenn ihnen Metallimplantate eingesetzt werden." Essure kam dennoch auf den Markt - ohne eine einzige Gegenstimme:
Dem Hersteller wurde von der Aufsichtsbehörde FDA lediglich zur Auflage gemacht, Frauen mit Nickelsensibilität zu warnen. Ärzte mussten Frauen auf Allergien testen, von 2011 an vorübergehend nicht einmal mehr das.
Laut einer 2018 im Journal of the American Medical Association veröffentlichten Studie, die sowohl Kritiker als auch Befürworter von Essure für sich beanspruchen, ist die Essure-Sterilisation zwar mit einem höheren Risiko für Komplikationen verbunden als eine herkömmliche Sterilisation, bei der die Eileiter durchtrennt werden. Bayer verweist jedoch darauf, dass laut dieser sowie weiterer Studien Essure-Patientinnen weniger Schmerzen hatten als Frauen mit herkömmlichen Sterilisationen.
Allerdings wiesen schon klinische Studien aus den frühen Jahren auf Nebenwirkungen hin. Zwischen Oktober 2002 und Januar 2006 traten bei beobachteten Patientinnen mehrere Fälle von besonders starken und unregelmäßigen Blutungen sowie Schmerzen in der Bauchgegend auf. Ein Zusammenhang mit Essure sei "hoch wahrscheinlich", hieß es damals in einer Studie des Herstellers.
Bayer erklärte dazu auf Anfrage, die Sicherheit und Wirksamkeit von Essure sei durch "umfangreiche Forschungsergebnisse" belegt. Bayer und unabhängige Fachleute hätten dafür die Erfahrungen von 200.000 Frauen über zwei Jahrzehnte ausgewertet.
Jahre später berichteten allerdings Tausende Frauen von Zahn- und Kopfschmerzen, Depressionen oder Gewichtszunahmen, aber auch weitaus schlimmeren Symptomen. Bayer erklärt dazu, bei Essure stets auf mögliche Risiken wie Schmerzen und Blutungen hingewiesen zu haben.

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Angie Firmalino, eine Frau aus dem US-Bundesstaat New York, Firmalinos ganze Geschichte und die Erfahrungsberichte weiterer Opfer lesen Sie hier. bekommt nach der Essure-Prozedur im Jahr 2009 plötzlich unerklärliche Schmerzen, blutet aus dem UnterleibFirmalinos ganze Geschichte und die Erfahrungsberichte weiterer Opfer lesen Sie hier. . 2011 gründet sie die Facebook-Gruppe "Essure Problems", zunächst nur für ein paar Freundinnen. Wenig später wollen auch Frauen in die Gruppe eintreten, die Firmalino gar nicht kennt. "Sie wollten ihre Horrorgeschichten teilen", erinnert sich Firmalino in einer Nachricht an die SZ, "einige waren schlimmer als meine."
Heute sind mehr als 40.000 Frauen in der Gruppe und beschreiben ausführlich ihr Leiden. Von heftigen Hautausschlägen ist die Rede, davon, dass Metallspiralen im Körper "herumwandern" - manche Frauen behaupten, bis in den Brustkorb. Eine Frau namens Lisa schreibt, sie blute so stark, dass sie Windeln benötige. Manche Frauen von Mitte dreißig posten Fotos von ihrem schütteren Haar, wie etwa Christina, die nun in einen Laden für Perücken gehe, um sich etwas Selbstbewusstsein zurückzuholen.
"E-Hell" nennen die Frauen ihre Erfahrungen. Essure-Hölle.
Die Operationen, bei denen sich die Frauen die Essure-Spiralen entfernen lassen, nennen sie "E-viction" - Zwangsräumung. Am Ziel wird gefeiert, endlich "E-free" zu sein. Dafür musste bei vielen Frauen allerdings die Gebärmutter entfernt werden, weil das Gewebe so stark mit dem Metall verwachsen war. "Essure war nie dazu gedacht, wieder entfernt zu werden", erklärt ein früherer Verkaufsmanager von Conceptus.
Obwohl Hersteller Conceptus manche Vorkommnisse, die ihm in Zusammenhang mit Essure bekannt geworden waren, nicht an die FDA gemeldet hatte, wie die Behörde im Jahr 2011 bei einer Routine-Inspektion bemerkte, kam die Firma mit einer Rüge davon. Und bevor das Problem zu groß wurde, war es auch schon weitergewandert, nach Deutschland: 2013 übernahm der Leverkusener Chemie- und Pharmakonzern Bayer für 1,1 Milliarden Dollar Conceptus. "Bayer und Conceptus haben das Ziel, mit Innovationen die Gesundheit von Frauen zu fördern", sagte der damalige Pharmachef von Bayer, Andreas Fibig.

Stefanie Preuin
Es war ein heikler Zukauf. Allein zwischen 2011 und der Übernahme waren laut Bayer selbst mehr als 16.047 Beschwerden zu Essure bei Conceptus eingegangen. Mehrere Frauen aus der Facebook-Gruppe von Angie Firmalino hatten die FDA kontaktiert. Und die amerikanische Medizin-Aufsicht führte in ihrer Datenbank ohnehin bereits mehrere Hundert Fälle, in denen Patientinnen wegen Essure zu Schaden gekommen sein könnten.
Auch Gabriella Avina, das frühere Gesicht von Essure, hatte inzwischen Probleme. Sie war dauernd müde, der Arzt stellte eine Entzündung des Gebärmutterhalses fest, erinnert sie sich heute, fast 18 Jahre danach. Später wurden bei ihr drei verschiedene Autoimmunerkrankungen diagnostiziert, eine schwerer als die andere. Durch die dritte, Myasthenia gravis, verlor Gabriella Avina die Kontrolle über das Kauen und Schlucken: "Diese Krankheit war die schlimmste." Ihre Lunge war lebensbedrohlich geschwächt. Ärzte rieten ihr Anfang 2013 sogar zu einer Chemotherapie.
Im selben Jahr, sagt Gabriella Avina, sei auch sie der Facebook-Gruppe beigetreten, die Essure so eindrücklich problematisierte - jenes Produkt, das sie einst angepriesen hatte. "Ich begann, die Puzzlestücke im Kopf zusammenzusetzen", erinnert sich Gabriella Avina. Einen Beweis dafür, dass Essure ihre Krankheiten ausgelöst hat, gibt es nicht - aber sie sagt, nach Auskunft ihrer Ärzte sei dies eine mögliche Erklärung dafür. Im Frühjahr 2014 habe auch sie sich die Spiralen entfernen lassen. Danach, sagt sie, sei es ihr besser gegangen.
Mehr als 9000 Frauen hatten sich zu dieser Zeit schon in der Internet-Gruppe von Angie Firmalino vernetzt. Sie sammelten Geld, um einer von ihnen, Michelle Garcia aus Miami, eine Reise nach Köln zu ermöglichen. Dort fand am 29. April 2014 die erste Jahreshauptversammlung der Bayer AG nach der Übernahme des Essure-Herstellers Conceptus statt.
Bei Michelle Garcia, 42, hatte eine kaputte Spirale die Eileiter durchbohrt. In den Deutzer Messehallen sagte sie an jenem Tag zu den Bayer-Aktionären und -Vorständen: "Ich könnte tot sein. Ich bin eine Stimme von Tausenden. Ich stehe vor Ihnen mit einer starken Botschaft: Essure ist gefährlich, und Essure gehört nicht auf den Markt."

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In diesem Moment stand sie zwar allein auf der Bühne des Weltkonzerns, im eleganten weißen Blazer, mit Perlohrringen, die Haare zusammengebunden, die Stimme fest, aber Michelle Garcia hatte eine mächtige Verbündete: Erin Brockovich - jene ehemalige Anwaltsgehilfin, die in den 1990er-Jahren in den USA 333 Millionen Dollar Schadenersatz vom Energieriesen "Pacific Gas and Electric Company" erstritten hatte. Das Unternehmen hatte in Kalifornien das Grundwasser verseucht. Hollywood hat die Geschichte verfilmt, Julia Roberts gewann für die Hauptrolle den Oscar.
Nun kämpfte Brockovich an der Seite Tausender Frauen gegen einen noch viel größeren Gegner, den Bayer-Konzern. "Ich war erstaunt, wie viele Frauen mir ihre Geschichten schrieben und von ernsten medizinischen Problemen berichteten, die sie aufgrund des Essure-Implantats haben", schrieb die Aktivistin 2012 bei Facebook. Sie setzte sich öffentlich dafür ein, dass Bayer Essure vom Markt nehmen sollte.

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Die Unterstützung der prominenten Aktivistin hatte auch Michelle Garcia zu ihrem Auftritt in Köln ermutigt. Zuvor hatte sie ihren Redebeitrag per Internet ins Deutsche übersetzt und wochenlang die Aussprache geübt - weil die Bayer AG, die mit dem englischen Werbeslogan "Science for a better life" wirbt, auf ihrer Versammlung nur deutsche Beiträge zuließ. "Ich war entschlossen, die schwierigen Wörter zu beherrschen", erzählt Garcia heute.
Garcia trug ihr Anliegen souverän auf Deutsch vor, obwohl sie die Sprache gar nicht versteht. "Ich weiß zwar nicht, wie ich das hingekriegt habe, aber ich musste es einfach tun", sagt Garcia, die glaubt: "Denen geht es nur um ihren Gewinn. Ihnen ist es egal, wie viel Schaden sie mit ihren Produkten anrichten oder wie viele gestorben sind." Ausreden konnte sie zwar nicht, nach zehn Minuten war ihre vorgegebene Sprechzeit um, und sie musste von der Bühne. Aber immerhin berichteten nun große deutsche Medien über den Kampf der Frauen gegen den Pharma-Riesen.
Eineinhalb Jahre später, im September 2015, können sie endlich auch bei einer öffentlichen Anhörung der US-Medizinaufsicht FDA von ihrem Leid erzählen. Auf ihr Drängen kommt ein Treffen am Behördensitz in Silver Spring, Maryland, zustande. Auch Angie Firmalino und Gabriella Avina berichten dort zum Beispiel von kaputten Partnerschaften, weil die Schmerzen der Frauen das Sexualleben zerstörten. Toxikologen und Immunologen diskutieren über die Frage, ob das Nickel in Essure Auslöser für Allergien und eventuell sogar für Autoimmunreaktionen sein könnte.
Eine Chronologie des Essure-Desasters in Europa und den USA finden Sie hier.Danach steigt der Druck auf BayerEine Chronologie des Essure-Desasters in Europa und den USA finden Sie hier.. Bei der FDA häufen sich Meldungen zu Zwischenfällen im Zusammenhang mit Essure, bis hin zu ungewollten Schwangerschaften, Fehl- und Totgeburten. Bis heute hat die US-Medizinaufsicht mehr als 26.000 solcher Verdachtsmeldungen registriert, die meisten kamen von betroffenen Frauen und dem Hersteller selbst. Die Bayer AG erklärt dazu, sie nehme sämtliche "unerwünschten Ereignisse" ernst. Das Unternehmen verweist darauf, dass man aus Meldungen an die FDA allein keine Schlüsse ziehen könne.
Im Jahr 2016 sieht sich die FDA gezwungen, Essure mit einer sogenannten Black-Box-Warnung zu versehen, die vor schwerwiegenden beziehungsweise lebensbedrohlichen Nebenwirkungen warnt – die stärkste mögliche Form eines Warnhinweises. Auch in mehreren europäischen Ländern, etwa Schweden und Großbritannien, gibt es seit 2016 Sicherheitswarnungen durch Behörden. Im Sommer 2017 entzieht die irische Behörde NSAI Bayer für drei Monate die Lizenz, die das Unternehmen für den Verkauf des Produkts in der EU benötigt. Im September desselben Jahres teilt Bayer mit, Essure vom europäischen Markt zu nehmen. Die Entscheidung stehe aber in keinerlei Zusammenhang mit Sicherheits- oder Qualitätsmängeln, heißt es.
Auch in Deutschland wurde Essure implantiert - lesen Sie hier mehr über die Situation in der Bundesrepublik.Noch bis heute haben jedoch einige europäische Ärzte Essure-Implantate auf Lager, auch in Deutschland.Auch in Deutschland wurde Essure implantiert - lesen Sie hier mehr über die Situation in der Bundesrepublik. Und nach Recherchen der Süddeutschen Zeitung und des finnischen Fernsehsenders Yle wurden zumindest in Finnland noch nach dem europäischen Verkaufsstopp bei Dutzenden Frauen Essure-Implantate tatsächlich eingesetzt.
Eine von ihnen ist Laura Granvik (Name geändert). Im Januar 2018, vier Monate nach dem verkündeten Verkaufsstopp, ließ sich die 39-Jährige mittels Essure sterilisieren. Sie hatte schon drei Kinder, mehr wollte sie nicht.
Das Einsetzen der Spiralen dauerte nur ein paar Minuten. Am nächsten Tag ging Granvik wieder zur Arbeit. Einige Wochen später aber ging es los: "Zuerst habe ich den Schmerz in den Händen überhaupt nicht bemerkt, ich dachte nur, dass er vom Skifahren kommen könnte." Im Juni habe sie Geschwüre an den Beinen bekommen, die Knie und Hüften hätten geschmerzt. Heute könne sie nicht einmal mehr mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren. Die Beckenschmerzen und Blutungen, sagt sie, kündigten sich nie an, lähmten ihr Leben. Pläne mache sie längst nicht mehr, sagt Granvik: "Ich weiß nicht einmal, in welchem Zustand ich morgen oder in drei Tagen sein werde."
Bayer erklärt zu der weiteren Verwendung von Essure trotz des Verkaufsstopps, dass ein Medizinprodukt verfügbar bleiben könne, wenn es mit einer gültigen CE-Kennzeichnung auf den Markt gekommen sei. Ferner wies Bayer darauf hin, dass es Einzelfälle nicht kommentieren könne.
Was die Finnin Laura Granvik nicht wissen kann: Nur wenige Tage nach ihrer Operation, im Februar 2018, trifft sich in den USA auf Drängen mehrerer Kongressabgeordneter ein Expertengremium der FDA an deren Behördensitz in Silver Spring mit fünf Frauen aus der Facebook-Gruppe und deren Anwälten. Auch Angie Firmalino sagt, dabei gewesen zu sein. 16 Jahre ist Essure bereits auf dem US-Markt - nun hört ihnen auch der Chef der US-Aufsichtsbehörde, Scott Gottlieb, zu. Schließlich teilt Gottlieb tatsächlich mit, nicht jede Patientin habe hinsichtlich Essure adäquate Informationen über die Risiken erhalten. Doch Bayer den Zugang zum Markt zu verbieten, daran denkt die FDA offenbar nicht. Das wäre allerdings auch ein geradezu historischer Schritt: In ihrer fast 90-jährigen Geschichte hat die Behörde bislang nur dreimal Medizinprodukte verboten.
Im Sommer 2018 erwähnte die FDA, dass es mehrere Berichte über Todesfälle im Zusammenhang mit Essure gebe. In der öffentlichen Behörden-Datenbank finden sich Berichte zum Fall einer Frau, bei der die Spiralen den Uterus durchstochen hatten, was sechs Jahre lang unbemerkt geblieben war. Sie starb schließlich an Uteruskrebs. Eine andere Frau überlebte eine Operation nicht, bei der Metallrückstände aus dem Unterleib entfernt werden sollten, weil der Darm verletzt worden war.
Die FDA erwähnt Berichte über mindestens acht Todesfälle, Experten wie die ehemalige FDA-Mitarbeiterin Madris Tomes gehen von mehr als 300 aus, tot zur Welt gekommene Babys eingerechnet.
Bayer weist darauf hin, dass Tomes von den Klägeranwälten bezahlt werde. Im Übrigen könnten Todesfälle aus vielerlei Gründen eintreten, die nichts mit Essure zu tun hätten. Was die angeblichen Totgeburten angehe, so handele es sich um Falschinformationen. Tatsächlich betreibt die ehemalige FDA-Mitarbeiterin Tomes eine eigene Firma, die gegen Bezahlung Daten der FDA verbraucherfreundlicher aufbereitet.
Im vergangenen Juli verkündete Bayer schließlich selbst, Essure auch in den USA nicht mehr zu vertreiben.

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Es handle sich um eine "unternehmerische Entscheidung" aufgrund von sinkender Nachfrage, teilte der Konzern mit. Bayer halte jedoch an der Sicherheit und der Wirksamkeit seines Implantats fest. Nach dem 31. Dezember 2018 soll es nicht mehr zu kaufen sein.
Für den deutschen Konzern ist Essure zum PR-GAU geworden. Zuletzt war das umstrittene Produkt sogar Thema einer Netflix-Dokumentation ("The Bleeding Edge").
Bayer beschwerte sich in einem Statement, dass im Film nicht wissenschaftlich berichtet werde, sondern lediglich "anhand der Geschichten von Frauen, die Bedenken über das Produkt äußern".
Die Süddeutsche Zeitung hätte sich gerne mit den Bayer-Verantwortlichen über Essure unterhalten. Der Bitte um ein persönliches Gespräch kam das Unternehmen jedoch nicht nach. Auf Anfrage erklärte Bayer, das Produkt sei nicht verändert worden und das Verhältnis zwischen Risiko und Nutzen bleibe positiv.
Bis heute wurde das Verhütungsprodukt Essure Bayer zufolge mehr als einer Million Frauen weltweit eingesetzt. In mehreren Ländern wird Bayer von Frauen verklagt, darunter Großbritannien, Australien und Frankreich, dem zweitgrößten Markt für Essure nach den USA.
Bayer erklärte hierzu, dass mehr als 50 Klagen in den USA von verschiedenen Gerichten entweder ganz abgewiesen oder nur in erheblich verringertem Umfang erfolgreich gewesen seien. Die Zahl der eingereichten Klagen sei nicht geeignet dafür, Schlussfolgerungen zu ziehen.
Alleine in den USA klagen nach Angaben von Verbraucherschützern rund 17.000 Frauen gegen den deutschen Konzern.
Eine von ihnen ist die ehemalige Essure-Markenbotschafterin Gabriella Avina. Sie kämpft um eine finanzielle Entschädigung. "Es wäre wenigstens ein bisschen Gerechtigkeit", sagt sie. "Ich will, dass Bayer zugibt, nichts unternommen zu haben, nachdem ich die Informationen der Frauen weitergegeben habe." Damit wolle sie, die frühere Markenbotschafterin, das Gesicht von Essure, auch ihren eigenen Fehler gutmachen: "Ich habe Tausende Frauen im Stich gelassen."

Das sind die Implant Files
Implantate können Leben retten – oder zerstören. Über einen Medizin-Skandal, der Tag für Tag aufs Neue passiert.
Dieser Artikel erschien erstmals am 28.11.2018 in der SZ. Die besten digitalen Projekte finden Sie hier.