Im Format Große Geschichte leben bedeutende Reportagen aus sieben Jahrzehnten SZ-Journalismus wieder auf. Den Auftakt bilden Kempskis Reiseberichte von 1957 und 1995 aus der Volksrepublik China - ein Land, das damals schon im Westen mit Argwohn beobachtet wurde. Die folgenden Texte sind Auszüge aus den Geschichten, die bei seinem ersten und seinem letzten Besuch entstanden. Sie wurden in der Rechtschreibung ihrer Entstehungszeit belassen.
“Ich habe viele Chinas kennengelernt – das befreite und das paradoxe, das bezaubernde und das abstoßende, das reale und das erträumte.” Kempski, 1995
Wie Kempski in China landet, die grausame Schönheit der Verbotenen Stadt erlebt und von neugierigen Gaffern umringt wird
Peking, im November 1957. Aus dem in zehntausend Meter Höhe gleißenden Licht der Mittagssonne falle ich in China ein. Mit siebzig Passagieren und einer Geschwindigkeit von 900 Kilometern in der Stunde schießt das silberne Düsenflugzeug der Erde entgegen, die uns alle sechs Sekunden hundert Meter näher kommt. Die kurzen, spitz angewinkelten Tragflächen der Maschine geben ohne Behinderung den Blick frei auf eine zusammengeschrumpfte Welt, die keine beschaulichen Übergänge mehr kennt. Nur zuweilen graue Zementpisten, wo hastig Benzin für die rasende Reise nachgepumpt wird.
Bei Glatteis sind wir vor zwei Stunden in Sibirien abgeflogen, in Irkutsk am Baikalsee; jetzt schnallen wir uns fest für die Landung in Peking. Die Große Chinesische Mauer, vor über 2000 Jahren vom Ersten Erhabenen Herrn Tschin zur Abwehr gegen die Mongolen erbaut, huscht schnell noch unter mir vorbei: ein schmutziger rotbrauner Wurm, der träge über kahle Hügel kriecht. Dann rollen wir über ein endloses, ausgetrocknetes Feld, auf dem, soweit ich sehen kann, blitzende Düsenjäger startbereit stehen, wie sie China nach sowjetischem Vorbild neuerdings selbst baut. Dort, wo unsere TU-104 gleich halten wird, warten junge Mädchen, die rote Blumen schwenken. Mit zusammengekniffenen Augen stemmen sie sich gegen den Wind, der seit Jahrtausenden unaufhaltsam in die Hauptstadt des Reichs der Mitte den scharfen Sand der Wüste Gobi trägt.
Die ganze Stadt scheint sich vor diesem Wind zu ducken. Die ebenerdigen grauen Häuser sehen von fern wie Zelte aus. Auch bei näherer Betrachtung findet man sie weder höher noch geräumiger als eine moderne Camping-Behausung. Sie liegen, von fensterlosen, bis zu den sanft geschwungenen Dächern reichenden Mauern umgeben, an schnurgerade angelegten Gassen und Straßen, die so übersichtlich geordnet sind, wie das Zentrum von Manhattan. Diese neuzeitliche Stadtplanung ist 500 Jahre alt, so alt wie die mächtigen Wälle, mit denen Kaiser Jung-Lo einst Peking in drei nach innen gestaffelten Ketten, deren letzte die kaiserlichen Paläste der Verbotenen Stadt abzäunt, umschließen ließ. Drei Millionen Menschen leben in Peking, nicht mehr, als schon zur Zeit des Kaisers Jung-Lo. Sie leben auf engstem Raum zusammengepfercht. Man kann ihre alte Stadt ohne sonderliche Mühe zu Fuß durchqueren. Die Fremden, die Peking lieben, sagen, es sei eine anmutige Residenz. Die anderen meinen, es sei ein aschfarbenes großes Dorf.