Jahrestag zum 7. Oktober
Der Krieg in Zahlen
Von den Hörsälen amerikanischer Eliteuniversitäten bis zu den Plätzen von Berlin-Neukölln, von der UN-Generalversammlung in New York bis zum Verwaltungsgericht in Düsseldorf: Seit dem 7. Oktober 2023, dem Tag des barbarischen Überfalls der Hamas, und den dadurch entfesselten Kämpfen im Gazastreifen, ist die Welt eine andere.
Der Krieg beherrscht durch tägliche Nachrichten, Bilder und Videos die hochemotionalen Debatten auf dem Campus und der Straße, in den Parlamenten und den sozialen Kanälen. Der Krieg, der Millionen Menschen weltweit betroffen macht, hat den Menschen in Israel und Gaza unvorstellbares Leid gebracht, das durch Zahlen niemals begreiflicher gemacht werden kann. Dennoch erzählen die Fakten, die der Krieg in einem Jahr geschaffen hat, eine bedeutende, wenn nicht die eindringlichste Geschichte. Eine Auswahl.
Sie töteten Alte und Kinder, Sicherheitskräfte und Festivalbesucher: Fast 1200 Israelis und andere Staatsangehörige kamen bei dem Überfall der Hamas-Terroristen am 7. Oktober ums Leben. Die Mörder kamen aus dem Gazastreifen, sie töteten ihre Opfer in deren Häusern und Kibbuzim, auf den Straßen und beim Feiern.
Bei den beinahe täglich geführten Kampfhandlungen im Gazastreifen, die auf den Überfall der Hamas am 7. Oktober folgen sollten, zählte das palästinensische Gesundheitsministerium insgesamt fast 42 000 Tote. Etwa 97 000 Menschen wurden verletzt. Obwohl die Behörde unter der Kontrolle der Hamas steht, gelten ihre gemeldeten Zahlen als verlässlich. Sowohl UN-Organisationen als auch westliche Regierungen erkennen die Behörde als zuverlässige Quelle an. Auch eine Studie, veröffentlicht im seriösen Wissenschaftsmagazin The Lancet, fand keine Hinweise auf Fälschungen. Unabhängig überprüfen lassen sich die Zahlen allerdings nicht.
Die israelischen Streitkräfte (IDF) machen keine Angaben zu palästinensischen Zivilistinnen und Zivilisten. Sie nennen offiziell nur eine Zahl: die der toten Hamas-Kämpfer. Mehr als 17 000 Mitglieder der Terrororganisation seien im Gaza-Krieg getötet worden. Auch diese Zahl lässt sich nicht unabhängig überprüfen. Vor dem Krieg gingen internationale Beobachter davon aus, dass die Hamas über 30 000 Kämpfer verfügt. Für den Krieg hat das israelische Militär knapp 300 000 Reservisten eingezogen.
Noch immer werden fast hundert Menschen in den Tunnelsystemen der Hamas vermutet. Am 7. Oktober waren 251 Menschen verschleppt worden. Einige von ihnen, vor allem Kinder und Ältere, wurden in den ersten Wochen gegen palästinensische Gefangene ausgetauscht, bis Ende November kamen so 117 Geiseln frei. Trotz seiner Überlegenheit konnte das israelische Militär aber bisher nur wenige Geiseln lebend befreien. Neben den Geiseln vom 7. Oktober befinden sich noch zwei weitere Israelis in Gefangenschaft. Sie wurden zwischen 2014 und 2015 entführt. Ob sie noch am Leben sind, ist ungewiss.
Die Sirenen warnten die Bevölkerung mehr als 20 000 mal vor Raketen (Stand 4. Oktober 2024). Das heißt, dass täglich durchschnittlich 56 mal Alarm ausgelöst wurde. Allein beim Angriff am 7. Oktober flogen mehr als 3000 Raketen Richtung Israel.
In den ersten zwei Monaten seit dem Überfall am 7. Oktober hat Israel 12 000 Bomben über dem Gazastreifen abgeworfen. Das ergab Ende eine Untersuchung der NGO Handicap international (HI). Wie akkurat diese Zahl ist, ist jedoch schwer zu sagen. Die israelische Luftwaffe gab bereits am 12. Oktober, also wenige Tage nach Beginn des Bombardements, bekannt, 6000 Bomben auf Hamas-Ziele abgefeuert zu haben – das wäre schon die Hälfte der 12 000 Bomben, die HI gezählt hat. Außerdem kursiert eine Schätzung, der zufolge Israel bis Ende April 70 000 Tonnen Bomben abgeworfen haben soll. Genaue Zahlen zum gesamten Bombardement Israels auf Gaza gibt es derzeit nicht.
Infolge des Hamas-Angriffs mussten zwischen 60 000 und 80 000 israelische Einwohner das Gebiet in unmittelbare Nähe zum Gazastreifen, den sogenannten Gaza-Gürtel, verlassen. Viele der Einwohner und Einwohnerinnen konnten durch Staatshilfen in Hotels oder Gästehäusern untergebracht werden. Mehr als 80 Prozent der evakuierten Israelis sind seither wieder zurück in ihren Gemeinden und Kibbuzim. Ausgenommen sind Einwohner der von der Hamas direkt angegriffenen Kibbuzim. Aufgrund der Zerstörungen, die dort angerichtet wurden, bleiben diese bis mindestens nächstes Jahr evakuiert. Mit einem Fünf-Jahres-Plan will die israelische Regierung den Wiederaufbau verwüsteter Infrastruktur und zerstörter Häuser im Gaza-Gürtel mit umgerechnet mehreren Milliarden Euro unterstützen.
90 Prozent der gesamten Bevölkerung Gazas sind innerhalb des Gazastreifens auf der Flucht. Etwa 60 Prozent der Häuser und Wohnungen im Gazastreifen sind zerstört. Eine Perspektive auf eine Rückkehr ist für viele der Binnengeflüchteten damit ausgeschlossen.
Satellitenbilder zeigen, dass die israelische Armee in den ersten Monaten des Krieges mindestens 17 Friedhöfe großflächig beschädigt hat. Aufnahmen legen nahe, dass sie dort mit Bulldozern oder anderen schweren Gefährten operierten und sie kurzzeitig als Militärstellung nutzten. In einigen Fällen wurden auch Leichen freigelegt und Gräber geöffnet, wie Videos und Bilder belegen. Manche Leichen wurden zur Identifizierung nach Israel gebracht – andere in der aufgewühlten Erde zurückgelassen. Dabei sind Gräber und Friedhöfe und religiöse Stätten in Kriegen besonders geschützt. Die israelische Armee argumentiert, dass Hamas-Kämpfer auch von Friedhöfen aus operierten und sich Schäden an solchen Stätten nicht vermeiden ließen, in einem Krieg, „in dem sich die Hamas absichtlich tief in der Zivilbevölkerung verankert“.
Die Bilder aus Gaza lassen es erahnen, doch erst der Blick von oben lässt das Maß der Zerstörung in Gaza tatsächlich vermessen. Berechnungen, gestützt auf Satellitendaten und darauf trainierte Algorithmen, zeigen: Mehr als 60 Prozent der Gebäude in Gaza sind inzwischen beschädigt.
Laut Berechnungen des Forschungsinstituts der Vereinten Nationen hinterließ der Krieg bis dahin mindestens 42 Millionen Tonnen Trümmer– was für jeden Quadratmeter in Gaza 114 Kilo Schutt bedeuten würde. Nach Einschätzung des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen könnte der Wiederaufbau des Gazastreifens mindestens bis ins Jahr 2040 dauern.
1,5 Quadratmeter, so wenig Raum hat eine Person in den Flüchtlingslagern in Gaza durchschnittlich – weit weniger als die 3,5 Quadratmeter, die das UNHCR als Minimum für eine Person in einem Flüchtlingslager definiert. Der Großteil der Binnengeflüchteten ist mittlerweile in die Grenzregion zu Ägypten im Süden des Gazastreifens geflohen. Die Notunterkünfte dort sind häufig provisorisch eingerichtete Zelte, teilweise werden Schulen für die Unterbringung genutzt. Mit dem ankommenden Winter wächst die Sorge vor Überflutungen der Unterkünfte und vor der Kälte.
Die Blockade der Israelis zeigte schnell Wirkung: Bereits am 11. Oktober musste das einzige Kraftwerk in Gaza abgeschaltet werden, weil kein Brennstoff mehr verfügbar war. Seitdem müssen sich die Menschen in Gaza mit Solarenergie und Generatoren behelfen – aber auch der Treibstoff dafür wurde schnell knapp. Das Gedco, die Behörde für die Stromversorgung in Gaza, konnte schon in den vergangenen Jahren nur zwischen zehn und zwölf Stunden Strom am Tag liefern. Nun ist die Versorgung komplett zusammengebrochen.
19 von insgesamt 36 Krankenhäusern in Gaza sind so zerstört, dass sie keine Patienten mehr versorgen können. Die 17 übrigen Kliniken können nur noch teilweise genutzt werden.
Das israelische Militär hat in der Gegend um Rafah im Süden des Gazastreifens 203 Tunnel gefunden, neun davon gingen unter der Grenze zu Ägypten hindurch, erklärte das Militär im September. 13 Kilometer davon habe man zerstört. Das Tunnelsystem im Süden sei besonders groß und gut vernetzt, Militärmitglieder bezeichnen es auch als „Mutter aller Tunnel“. 80 Prozent davon hat das israelische Militär eigenen Angaben zufolge bereits zerstört. Wie groß das Tunnelnetzwerk der Hamas insgesamt ist und wie viel davon noch intakt ist, lässt sich nicht genau beziffern. Schätzungen zufolge umfasst es etwa 1300 Tunnel mit einer Länge von insgesamt um die 500 Kilometer.
Fast 102 Quadratkilometer landwirtschaftliche Flächen sind im Gazastreifen – Stand 27. August – beschädigt oder ganz zerstört. Das sind 68 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Flächen in Gaza. Zerstörte Agrarflächen und kaputte Schulen mögen angesichts des menschlichen Leids, das den Palästinensern im Gazastreifen in einem Jahr Krieg widerfahren ist, gegenwärtig nicht ins Gewicht fallen. Die Folgen dieser Verheerungen betreffen aber die Zukunft des Küstenstreifens. Und sie rauben vielen die Hoffnung auf ein besseres Leben für die nachkommenden Generationen.
Fast 300 Mitarbeiter von Hilfsorganisationen wurden seit Oktober 2023 im Gazastreifen getötet – die meisten wurden Opfer von Luftangriffen. Allein in den ersten drei Monaten nach dem Überfall der Hamas sind 163 Mitarbeiter verschiedener NGOs im Gazastreifen zu Tode gekommen. Mittlerweile sind weniger als 10 Hilfsorganisationen dort noch aktiv. Die größte unter ihnen ist ein Hilfswerk der Vereinten Nationen (UNRWA), bei dem 13 000 Hilfsarbeiter in Gaza beschäftigt sind, der Großteil davon Palästinenser.
Laut Vereinten Nationen wurden seit Kriegsbeginn bis Juli 477 von 564 Schulgebäuden in Gaza angegriffen, das sind 85 Prozent aller Schulen. Damit sind 625 000 Schülerinnen und Schüler ohne Zugang zu öffentlicher Bildung. Im September begann wieder die Schule, doch nur wenige können die Behelfsschulen besuchen. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen hat Plätze für 30 000 Schülerinnen und Schüler geschaffen.