Frankreich

Das Prinzip Protest

Seit Wochen demonstrieren in Frankreich Millionen gegen die Rentenreform. Selbst nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen die Regierung kehrt keine Ruhe ein.

Was macht die Menschen so wütend?

Frankreich

Das Prinzip Protest

Seit Wochen demonstrieren in Frankreich Millionen gegen die Rentenreform. Selbst nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen die Regierung kehrt keine Ruhe ein.

Was macht die Menschen so wütend?

22. März 2023 - 5 Min. Lesezeit

Die Metrostationen rund um die Nationalversammlung sind gesperrt, auf den Straßen blinkt das Blaulicht der Polizeiwagen. Auf der Place Vauban, einige Minuten zu Fuß vom Parlamentsgebäude entfernt, riecht es noch nach Rauch. Vor einer Stunde hat die Polizei die Demonstration hier aufgelöst. So war das am Montagabend, so wie fast an fast jedem Abend in Paris oder in anderen Städten Frankreichs. An diesem Abend sind die Wütenden weitergezogen, ein letztes kleines Grüppchen ist übrig geblieben. Ein Mann mit Vokuhila und Gitarre singt ein selbstgeschriebenes Lied, in dem die Wörter „Arbeit“ und „Scheiße“ vorkommen. „Ich weiß gar nicht, was sich für die Rentenreform für mich persönlich ändert“, sagt der Mann, der sich als Théo, 21, vorstellt und erzählt, dass er als Tischler arbeitet. „Ich bin aus Prinzip hier. Die Regierung kann nicht einfach machen, was sie will.“

Schon seit Wochen streitet Frankreich über die Rentenreform, das größte und heikelste Vorhaben in Präsident Emmanuel Macrons zweiter Amtszeit. Seit Premierministerin Élisabeth Borne in der vergangenen Woche das Gesetzesvorhaben per Verfassungsklausel durchs Parlament drückte, kommt das Land nicht mehr zur Ruhe. Wenige Stunden nach Bornes Ankündigung brannten in Paris die ersten Mülltonnen. In den vergangenen Tagen gab es im ganzen Land spontane Streiks und Proteste. In Bordeaux blockierten Reformgegner die Bahnhofsgleise, in Paris drangen Demonstrierende in das Einkaufszentrum Les Halles ein.

Für diesen Donnerstag rufen die großen französischen Gewerkschaften wieder zum Generalstreik auf, es ist der neunte seit Ende Januar. In den vergangenen Wochen trieb die Rentenreform mehrmals mehr als eine Million Menschen auf die Straße, auch an diesem Donnerstag werden Hunderttausende erwartet. Schon seit Tagen streiken Mitarbeiter in den Raffinerien und den Müllverbrennungsanlagen. An den Tankstellen bilden sich Schlangen, auf den Bürgersteigen der Hauptstadt türmen sich die schwarzen Abfalltüten. „Statt die Wut zu hören, hat sich die Regierung entschieden, sie zu ignorieren und zu unterdrücken“, schreibt die radikale Gewerkschaft CGT zur Begründung für den Streikaufruf.

„Macron, steig von deinem Thron“, steht auf Protestplakaten

Fragt man Théo, den Musiker von der Place Vauban, wo diese Wut eigentlich herkommt, sagt er: „Macron und seine bourgeoisen Freunde haben sich da eine Reform ausgedacht, für die jetzt wir kleinen Leute bezahlen sollen.“ Ein Mann im Kapuzenpulli neben ihm nickt. Er habe, sagt er, seit der vergangenen Woche an jedem Tag irgendwo in Paris demonstriert. „Das ist ja unsere einzige Möglichkeit.“

Die Gewerkschaften und die linke Opposition verurteilten die Reform von Anfang an als „brutal“ und „ungerecht“.

Auf den Protestplakaten der vergangenen Wochen stand „Metro, Arbeit, Grab“ und „Macron, steig von deinem Thron“.

Auf den Protestplakaten der vergangenen Wochen stand „Metro, Arbeit, Grab“ und „Macron, steig von deinem Thron“.

Dass Rentenreformen großen Widerstand hervorrufen, hat in Frankreich Tradition. Wann immer in den vergangenen Jahrzehnten eine Regierung das Thema Rente anpackte, rief das massive Proteste auf den Straßen hervor. Die französischen Gewerkschaften sind in Frankreich traditionell schwach und verlieren schon seit Jahren an Mitgliedern, umso mehr sind sie auf Lautstärke angewiesen.

Dass Macron und seine Regierung ihr Vorhaben mithilfe des umstrittenen Artikels 49.3 der französischen Verfassung durchgeboxt haben, hat die Wut bei vielen noch befeuert. Die Sonderklausel macht es möglich, ein Gesetz ohne Abstimmung in der Nationalversammlung zu verabschieden. Im Gegenzug kann die Opposition ein Misstrauensvotum beantragen. Auch wenn französische Regierungen in der Vergangenheit immer wieder auf den Artikel zurückgriffen, halten viele die Klausel für undemokratisch. Seit Macrons Regierung Anfang der Woche die damit verbundenen Misstrauensvoten im Parlament überstanden hat, gilt die Rentenreform offiziell als angenommen. Wenn das Verfassungsgericht nichts mehr zu bemängeln hat, soll sie am 1. September in Kraft treten.

Die Menschen, die jetzt überall im Land auf die Straße gehen, hoffen trotzdem, dass sie das Gesetz noch stoppen können. 2006 gab es das schon mal, dass eine Regierung eine Reform, die sie mithilfe des Artikels 49.3 durchgesetzt hatte, wieder zurücknahm. Damals ging es um ein Gesetz, das es Unternehmen erleichtern sollte, Berufseinsteigern zu kündigen. Die Proteste dagegen waren so heftig, dass der damalige Premierminister Dominique de Villepin schließlich zurücksteckte.

„Die Rentenreform ist nach wie vor extrem unbeliebt“, sagt der Meinungsforscher Hugo Lasserre vom Pariser Ifop-Institut. In Umfragen gab zuletzt nicht nur eine Mehrheit an, dass sie gegen die Reform sei. Auf Unverständnis stieß bei den meisten Befragten auch, dass die Regierung die Reform per Verfassungsklausel durchgesetzt hat. Zugleich sinken die Zustimmungswerte von Emmanuel Macron. Allein im vergangenen Monat um vier Prozentpunkte. Bei einer Umfrage in der vergangenen Woche waren nur noch 28 Prozent der Französinnen und Franzosen mit ihrem Präsidenten zufrieden – so wenige wie zuletzt zur Zeit der Gelbwestenbewegung. Der Protest gegen die Rentenreform ist auch ein Protest gegen den Präsidenten, den viele als abgehoben und autoritär wahrnehmen.

Lange waren die Demonstrationen weitestgehend friedlich verlaufen. Das hat sich geändert.

Die Proteste der vergangenen Tage waren oft spontane Aktionen, die schnell eskalierten und von der Polizei aufgelöst wurden. Und die sind deutlich schwerer zu kontrollieren.

Inzwischen ist das Land im Krisenmodus.

Bei den Ausschreitungen in den vergangenen Tagen nahm die Polizei mehrere Hundert Menschen fest.

Die Proteste der vergangenen Tage waren oft spontane Aktionen, die schnell eskalierten und von der Polizei aufgelöst wurden. Und die sind deutlich schwerer zu kontrollieren.

Inzwischen ist das Land im Krisenmodus.

Bei den Ausschreitungen in den vergangenen Tagen nahm die Polizei mehrere Hundert Menschen fest.

Der Innenminister forderte die Präfekturen auf, die Sicherheitsmaßnahmen für die Abgeordneten zu erhöhen. Die Pariser Rue de Varenne, die zum Amtssitz der Premierministerin führt, wird schon Hunderte Meter vor dem Eingang von Polizeibussen bewacht. Bei den Streiks am Donnerstag sollen im ganzen Land 12 000 Polizisten im Einsatz sein.

Ob sich die Proteste in den kommenden Tagen ausweiten oder doch nach und nach abebben, da möchte sich Meinungsforscher Lasserre noch nicht festlegen. Er sagt: „Wie viel Druck die Proteste auf die Regierung ausüben, wird auch davon abhängen, ob die Proteste das Land wirklich lahmlegen.“ Also zum Beispiel durch Streiks in Raffinerien, die zu Benzinknappheit führen könnten, oder durch Streiks in Atomkraftwerken, die die Stromproduktion drosseln würden. Théo, der Demonstrant von der Pariser Place Vauban, sagt: „Wir hören nicht auf.“

Team
Text Kathrin Müller-Lancé
Bildredaktion Christine Kokot, Jörg Buschmann
Digitales Storytelling Ayça Balcı