75 Jahre BRD

Neues Deutschland

Von Beginn an haben Migranten die Bundesrepublik entscheidend mitgeprägt. Zuwanderer aus drei Generationen erzählen, wie sie hierherkamen. Und ob sie inzwischen angekommen sind.

17. Mai 2024 - 7 Min. Lesezeit

Der „Gastarbeiter“

Mesut Candir war vier Jahre alt, als sich der Staat gründete, der einmal seine neue Heimat werden würde. Der Bub wuchs in Bursa auf, im Nordwesten Anatoliens. Sein Vater hatte ein Textilgeschäft, sein älterer Bruder war Amateurboxer – und ein Boxkampf sollte dazu führen, dass Mesut Candir im Kulturhaus der alevitischen Gemeinde in Ulm davon erzählt, was ihn einst nach Deutschland brachte.

Sein Bruder boxte einmal gegen einen Deutschen, der mit dem Nationalteam durch die Türkei tourte. Und der erzählte seinem Gegner, dass bei ihm im Busunternehmen im schwäbischen Esslingen ganz dringend Fahrer gesucht würden. So ging Mesuts Bruder nach Deutschland – und holte den Jüngeren, der die Berufsschule in Bursa als Kfz-Mechaniker abgeschlossen hatte, 1963 im VW Käfer nach. Busschaffner wurden nämlich auch gebraucht.

Arbeitskräfte hatte Deutschland in seinen Wirtschaftswunderjahren dringend nötig. 14 Millionen damals sogenannte Gastarbeiter kamen von 1960 an ins Land, die meisten von ihnen über Anwerbeabkommen mit Staaten des Mittelmeerraums, bis die Ölkrise zu einem Anwerbestopp führte.

„In Ulm werde ich auch begraben sein.“

Die meisten gingen wieder heim. Aber viele blieben. Mesut Candir lernte schnell Deutsch, verdiente in verschiedenen Jobs gutes Geld, hatte, so sagt er, „ein schönes Leben“. Einmal musste er noch zurück – zum Militärdienst. Als er wieder nach Deutschland kam, hatte sein Bruder in Ulm ein Gasthaus gepachtet, den stadtbekannten „Wilden Mann“ im heute blitzblank restaurierten Fischerviertel.

Mesut Candir in der Bar, wo er vor Jahrzehnten gearbeitet hat - mit einem Foto von damals.
Mesut Candir in der Bar, wo er vor Jahrzehnten gearbeitet hat - mit einem Foto von damals.

Mesut Candir half mit, und in der Garage verkaufte er Lederwaren, die er aus der Türkei importierte.

Doch in der Gastronomie blieb er nicht, „mit Familie ist das nicht zu machen“, sagt er. Er hatte geheiratet, eine Gastarbeiterin aus Bursa. Die Eltern daheim waren auf die Idee gekommen, die beiden könnten zusammenpassen. „Wenigstens anschauen musst du sie dir“, hatte sein Bruder befohlen, „sonst brauchst Du Dich daheim nicht mehr blicken lassen.“ Nun, sie gefiel ihm, und er ihr auch.

Zwei Kinder haben sie. Und wie bei so vielen Migranten durchkreuzten diese Kinder die Lebenspläne. Candir, inzwischen beim Bushersteller Kässbohrer zum Betriebsrat gewählt, hatte für die Rückkehr schon eine Wohnung in Bursa gekauft und einen Friseurladen für seine Frau. Aber wenn sie im Urlaub in der alten Heimat waren, fragten die Kinder immer öfter: „Wann fahren wir heim?“ Die Eltern begriffen: Für die Kinder hieß die Heimat Ulm. 1996 entschlossen sie sich, Deutsche zu werden.

Sie haben noch eine Ferienwohnung am Marmarameer. Aber das Haus, in dem sie leben, steht in Ulm. Drei Jahrzehnte war Mesut Candir Betriebsrat, er kennt so viele in der Stadt, Freunde, Kinder, Enkel leben nahebei, er fühlt sich wohl. Die Aprikosenhaine rund um das beschauliche Bursa, das er als Kind kannte, sind längst unter dem Beton einer boomenden Millionenmetropole verschwunden, die alte Heimatstadt ist ihm fast ein wenig fremd geworden. „In Ulm“, sagt der 79-Jährige, „werde ich auch begraben sein.“

Die Aussiedlerin

Barbara Sabarth kam 1981 aus Krakau nach Bayreuth, eine Stadt, deren Namen sie damals nicht mal richtig aussprechen konnte. Sie war nicht aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen geflohen wie so viele ihrer Landsleute, die das vom kommunistischen Regime heruntergewirtschaftete Polen damals verließen. Sie folgte ihrem damaligen Freund und späteren Mann nach Franken, wo dieser seinen Doktorvater gefunden hatte. Das gemeinsame Kind hat sie im Mutterleib „eingeschmuggelt“, erzählt sie, hinter sich ein großes Foto ihrer Heimatstadt an der Wand des Raums, in dem sich Bayreuths Deutsch-Polnische Gesellschaft trifft.

Kennengelernt hatten sich die studierte Altphilologin aus Polen und der Soziologiestudent aus Kenia an der Jagiellonen-Universität in Krakau. Es war eine Liebe, die sie kaum öffentlich zeigen konnten, ein europäisch-afrikanisches Paar, das fiel auf in Polen. „Die Leute haben immer geguckt“, so beschreibt sie einen weiteren Grund, ihre Heimat zu verlassen. Doch so privat das Motiv ihrer eigenen Auswanderung war, so sehr bestimmte die Politik, wie es weiterging.

Im Dezember 1981 schlug Polens Militär das Aufbegehren der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność nieder und verhängte das Kriegsrecht. Hunderttausende Polen verließen im folgenden Jahrzehnt ihr Land. Auch aus Russland und Rumänien kamen viele Menschen nach Deutschland – vor allem solche, die deutsche oder jüdische Vorfahren vorweisen konnten. Als der Eiserne Vorhang 1989 endgültig zerriss, flohen noch viele mehr aus den wirtschaftlichen Wirren des Umbruchs in Osteuropa oder aus dem Bürgerkrieg, der Jugoslawien explodieren ließ.

„Mir war so, als hätte ich Polen verraten.“

Für Barbara Sabarth bedeutete das Kriegsrecht, dass es nicht möglich war, mit ihrer Mutter zu telefonieren, nicht einmal, um die Geburt der Tochter zu melden. Acht Jahre bis zum Zusammenbruch des Militärregimes konnte sie nicht nach Krakau fahren – aus Angst, nicht wieder aus dem Land gelassen zu werden. In Deutschland hatte sie zunächst nur ein Touristenvisum. Erst eine Freundin habe sie dazu gebracht, gegenüber den Behörden ihre oberschlesischen Vorfahren ins Spiel zu bringen, erzählt sie. Tatsächlich wurde sie als deutschstämmige Aussiedlerin anerkannt. 1984 hielt sie einen deutschen Pass in den Händen, mit sehr gemischten Gefühlen: „Mir war so, als hätte ich Polen verraten.“

Deutsch hat die Sprachwissenschaftlerin schnell gelernt, ihren Freund geheiratet, in Kenia, weil die deutschen Behörden für einen Eheschluss Papiere verlangt hatten, die nicht zu beschaffen waren. Sie zog ihre beiden Töchter groß, lehrte Polnisch an der Uni, bis heute dolmetscht sie vor Gericht und Behörden, sie wurde geschieden, heiratete einen Deutschen, bekam noch zwei Töchter. Auch bei ihr war es die Familie, die sie in Deutschland hielt. Sie selbst, so sagt die 70-Jährige, sehe sich inzwischen auch als Deutsche sowie immer noch als Polin. In Deutschland vermisst sie vor allem den Familiensinn, mit dem sie in Polen aufgewachsen ist. Die Töchter dagegen, so meint sie, „fühlen sich natürlich als Deutsche“.

Nur dass in der Migration die Dinge selten so eindeutig sind. Als Barbara Sabarths Zweitälteste Vizeweltmeisterin im Degenfechten wurde, wurde die deutsche Flagge gehisst. Bei den Olympischen Spielen in Paris wird Alexandra Ndolo, angefeuert von ihrer Mutter Barbara, wieder fechten – doch diesmal nicht für Deutschland, sondern für Kenia, die Heimat ihres Vaters.

Der Geflüchtete

Irgendwo auf dem Meer, die türkische Küste schon weit hinter sich und die Umrisse einer griechischen Insel noch weit vor sich, ohne Rettungsweste, nur ein kleines Paddel in der Hand, hat Mohammad Mohammad sich gefragt: „Wie nur bin ich hier gelandet?“ Wenn das Schlauchboot mit ihm, seinem Bruder und 53 weiteren Flüchtlingen untergehe, „bekommt das niemand mit“, schildert der junge Syrer seine Gedanken während der Überfahrt nach Europa, die er im Winter 2015/16 wagte – wie Hunderttausende andere auch. Allein nach Deutschland sind seither etwa 900 000 Syrer gekommen.

Es ging gut. Mohammad Mohammad kann in seiner Wohnung in München, in der er mit seinem Bruder lebt, erzählen, wie es zu seiner Flucht kam.

Es ging gut. Mohammad Mohammad kann in seiner Wohnung in München, in der er mit seinem Bruder lebt, erzählen, wie es zu seiner Flucht kam.

Er war noch Teenager, als der Krieg in seine Heimatstadt Damaskus einzog. Er sah die Soldaten, hörte die Einschläge der Geschütze, Freunde und Verwandte starben. Er selbst arbeitete, seit er 13 war, mal hier, mal dort, weil der Vater nach der Scheidung keinen Unterhalt zahlte. Und er ging weiter auf die Veterinärschule, weil die Mutter ihm verbot, die Ausbildung abzubrechen. Das Studium bewahrte ihn davor, zum Militär eingezogen zu werden.

Doch sein jüngerer Bruder stand kurz vor der Einberufung. „Darum hat Mama gesagt: Ihr müsst raus hier!“, erzählt Mohammad. Ein teuer bezahlter Schleuser brachte die Brüder durch die Militärkontrollen in die Türkei. Mohammad arbeitete dort in Cafés und im Schlachthof, der Monatslohn war karg, ein Viertel davon ging drauf für das Bett im Schlafsaal. Sein Bruder hatte nicht einmal einen Job, und so kratzte Mohammad seine Ersparnisse zusammen und bezahlte wieder einen Schlepper.

Eine gefährliche Überfahrt und etliche stundenlange Märsche in winterkalten Nächten über die Grenzen des Balkans später brachte ein weiterer Schleuser die Brüder nach Deutschland. Es war nicht ihr Ziel, ein solches hatten sie gar nicht, aber ihnen begegnete, was sie nicht gekannt hatten: freundliche Polizeibeamte, die sie erst einmal in Auffanglager brachten, wo sie versorgt wurden mit Essen und einem Bett in einer Turnhalle. Mohammad fühlte sich erstmals seit seiner Flucht sicher.

Dann ging alles nach den deutschen Regeln, was er nach dem Chaos des Krieges und der Flucht als befreiend empfand. Registrierung, Asylantrag, Flüchtlingsheim, alles recht langsam, aber wohlorganisiert. Er traf auf engagierte Helfer, die übersetzten und ihn bei Behördengängen begleiteten. Auf Youtube brachte er sich die ersten deutschen Wörter und Sätze bei, den Sprachkurs schloss er mit „sehr gut“ ab. Er verliebte sich in eine Deutsche, zog bei ihr ein – was das Ende staatlicher Hilfe bedeutete. Er suchte sich Jobs als Spüler und Küchenhelfer, bis seine syrischen Zeugnisse anerkannt waren. Helfer brachten ihn auf die Idee, auf die Hotelfachschule zu gehen und eine Lehre zu machen. „Azubi des Jahres“ war er, „ich bin es gewohnt zu arbeiten“, sagt er.

Danach leitete er die Küche eines veganen Restaurants, bis dieses wegen der Covid-Lockdowns dichtmachte. Jetzt arbeitet er als Koch in einem der edelsten Hotels in München. Deutsch spricht er längst so gut wie perfekt, und Bairisch bringt er sich mit Fernsehserien wie „Monaco Franze“ bei. Aus der Schublade holt er einen neu aussehenden Pass: Seit einem Jahr ist er Deutscher.

Fühlt er sich auch so? „Zwei Leben“ habe er geführt, eines in Syrien, eines Deutschland, sagt er: „Ich bin hier, weil sie mir hier ein zweites Leben gegeben haben.“ Was er besonders schätzt an seiner neuen Heimat, ist die Sicherheit, „die ist unbezahlbar“.

Die Zukunft, die er für sich wünscht, ist aber nicht an einen Ort gebunden: „Sie wäre dort, wo ich meine Eltern sehen könnte.“ Acht Jahre hat er seine Mutter nicht gesehen. Sie lebt noch in Damaskus, ein Visum, um ihn zu besuchen, bekommt sie nicht. Mohammad sagt, er könne angesichts der großen Zahl der aufgenommenen Flüchtlinge die Strenge des deutschen Staates sogar verstehen, aber „für mich ist es schwierig“. Denn bei aller Freude über sein neues, deutsches Leben: „Heimweh hat man immer.“

Text: Jan Bielicki; Art Direction: Lina Moreno; Bildredaktion: Jörg Buschmann; Digitales Storytelling: Lina Moreno, Christian Helten, Nicolas Freund; Redaktion: Nicolas Freund; Schlussredaktion: Florian Kaindl

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