Werkstatt Demokratie

Selbstbewusst oder demütig - welchen Staat braucht Deutschland?

Wie kann der Staat die Probleme im Land lösen? Zu diesem Thema tauschen sich SZ-Autor Stefan Braun und Andreas Rumler aus. Nun hat der Leser das letzte Wort.

10 Min. Lesezeit

Beim Dialogformat „Pingpong der Positionen“ lädt die Süddeutsche Zeitung Leserinnen und Leser zum argumentativen Wettstreit mit SZ-Autoren ein. In dieser Folge tauschen Stefan Braun und SZ-Leser Andreas Rumler Gedanken und Argumente zur Rolle des Staates in der Gesellschaft aus. Beim Meinungsaustausch mit unserem Autor hat der Leser nun das letzte Wort.

Der Kampf gegen Covid-19 zeigt, wie wichtig ein starker Staat sein kann - im Kampf gegen das Virus, aber auch zur Rettung der Wirtschaft. Trotzdem würde mancher die Rolle des Staates nach der Krise gerne verkleinern. Klug wäre das nicht. Zu groß ist nach wie vor manche Baustelle gerade dort, wo ein guter Staat gefragt ist.

Kommentar von Stefan Braun, Berlin

Seit Ausbruch der Corona-Pandemie ist vieles, was selbstverständlich erschien, plötzlich ganz anders. Das Leben, so ungezwungen es vorher sein konnte, hat sich sehr verändert. Da ist der garstig schwere Kampf gegen Covid-19; da ist ein Virus, das nicht nur die Körper, sondern auch die Seelen der Menschen angreift. Und da ist ein Staat, der mit ungekannter Strenge Freiheiten beschränkt und zugleich Milliardenhilfen für Betroffene bereitstellt. Fürsorglich, dominant, scheinbar allmächtig.

Irgendwann, das ist klar, muss das wieder vorbei sein. Corona sowieso, aber auch diese Übermacht von Regierung und Verwaltung. Deutschland ist ein demokratisches Land, mit dem Schutz vor einem Staat, der Freiheitsrechte außer Kraft setzt und an zentralen Stellen ins Wirtschaftsleben eingreift. Zurück in eine freie und liberale Zukunft – das ist unverzichtbar.

Eines freilich wäre falsch, nämlich der Versuch, nach Corona alles wieder so zu machen, wie es vor Corona gewesen ist. Oder schlimmer noch: Nach einer Phase, in welcher der Staat besonders dominiert hat, das Pendel in die andere Richtung ausschlagen zu lassen. Die Rolle des Staates also massiv zurückzudrängen und zentrale öffentliche Aufgaben gar ganz in private Hände zu geben. Der Staat hat vor Corona zu viel unerledigt gelassen, als dass er sich nach Corona einfach wieder zurückziehen könnte.

Ja, die Haushaltslage von Bund und Ländern sah gut aus. Und das ist ein Wert an sich. Aber wesentliche Aufgaben des Staates hat der Staat nicht mehr erfüllt. Zentrale Bauteile der lebenswichtigen Infrastruktur in den Schulen, im öffentlichen Verkehr und bei der digitalen Ausstattung waren in einem miserablen Zustand. Schon vor der Krise fehlte zu viel, was für eine gute Zukunft des Landes unverzichtbar ist.

Wer Beispiele sehen will, besuche zwei, drei einfache Polizeidienststellen. Zu viele von ihnen sind – wenn man es ehrlich ausspricht – eine Schande angesichts der Aufgaben und der Arbeitszeiten einer Polizei, die nicht nur in reichen Gegenden, sondern auch in Brennpunktstadtteilen Hilfe und Sicherheit garantieren soll.

Oder man werfe einen Blick in öffentliche Schulen. Deren Zustand und deren Ausstattung sind zu oft zu schlecht, um Kinder und Jugendliche erfolgreich auf eine ziemlich komplexe und digitalisierte Zukunft vorzubereiten. Oder man nehme das Netz im Fern- wie im öffentlichen Nahverkehr unter die Lupe. Es reicht nach vielen Sparrunden und Privatisierungsträumen vielerorts vorne und hinten nicht, um die alternative Mobilität zu gewährleisten, die angesichts der Klimakrise bitter nötig wäre. Allenfalls manche reiche Großstädte sind in der Lage, das adäquat sicherzustellen.

Nun kann man die Kritik für übertrieben halten. Jedenfalls, wenn man sich nach dem Diebstahl eines Fahrrads ein neues leisten kann; wenn man den öffentlichen Nahverkehr nicht braucht, weil man mit dem eigenen Auto fährt – und sei es eines mit Elektroantrieb. Oder wenn man sein Kind auf eine Privatschule schickt, weil dort die Lernbedingungen besser sind. Aber das alles zeigt nur, dass sich einen Staat, der bei zentralen Aufgaben nicht liefert, nur der leisten kann, der alles für sich alleine privat auffängt.

Die Erkenntnis ist nicht neu und hat ihre Gültigkeit doch nicht verloren: Einen schwachen Staat können sich nur die Starken leisten. Deshalb wird ein im besten Sinne engagierter Staat auch nach der Corona-Krise unverzichtbar bleiben. Und zwar für jene, die nicht ausweichen können, wenn Schulen bröckeln, Polizisten unter schlechten Arbeitsbedingungen verzweifeln und Busse und Bahnen zu selten fahren.   

Um seine Bürger zu schützen und ihnen die Möglichkeit der realen Beteiligung zu geben, muss ein Staat zwingend schwach sein - ohne dabei seine Fürsorgepflicht zu vernachlässigen.

Andreas Rumler, Magdeburg  

Sehr geehrter Herr Braun,

in Ihrem Kommentar verwechseln Sie grundsätzlich einen starken mit einem fürsorglichen Staat. Ein starker Staat hat die Möglichkeit seine politischen Ideen, Wertevorstellungen und rechtliche Bestimmungen bis in die kleinste Ebene der Gesellschaft durchzusetzen und zu kontrollieren, auch gegen den Willen der Mehrheitsmeinung und tradierten Werten und Normen. Ein Staat, der sich, um bei Ihren Worten zu bleiben, um die Sanierung von Polizeigebäuden und die Digitalisierung der Schulen kümmert, ist ein fürsorglicher Staat, der um das Wohl aller besorgt ist, der aber nicht notwendigerweise stark sein muss. Beides zusammen vereinfacht die Situation; ein Überwachungsstaat mit Nutzung von Gesundheitsdaten oder einem Sozialpunktesystem verdeutlicht das. Es zeigt aber auch, welche Gefahren darin lauern.

Die Geschichte lehrt uns, dass starke Staaten dazu neigen, unter bestimmten Regierungen, Machtmissbrauch an den Tag zu legen und nur oder in weiten Teilen zu ihrem und ihrer Unterstützer Wohl zu arbeiten. Dabei ist es völlig unabhängig, ob es sich dabei um einen monarchisch-absoluten, einen autoritären, totalitären oder auch einen demokratischen Staat handelt, der davor ebenso nicht gefeit ist, wie das Beispiel Trump eindringlich verdeutlichte. Jeder Staat, der durchgängig und dauerhaft im Sinne des Gemeinwohls arbeiten soll, muss zwingend schwach sein, um die Bürger zu schützen und ihnen die Möglichkeit der realen Beteiligung zu geben. Nur hier ist das Volk tatsächlich Souverän und in seinen Freiheiten geschützt.

Allerdings muss der schwache Staat auch wissen, wie er seiner Fürsorgepflicht nachkommt. Wenn Sparrunden und Privatisierungsträume zu negativen Auswirkungen führen, dann kann und muss auch ein schwacher Staat eingreifen, allerdings beginnend mit leichten Regulierungen. Sicherlich sollte der Staat die Bildungspolitik nicht völlig privatisieren, aber jedes betriebswirtschaftlich arbeitende Unternehmen hat längst die Digitalisierung angeschoben – im Übrigen auch die meisten Privatschulen, die weiterhin in der Regel auch die bessere Bausubstanz aufweisen. Dies zeigt, dass es nicht um die Stärke, sondern um die Fürsorge geht, denn die Macht alle Schulen zu sanieren und aufzurüsten, hätte Deutschland durchaus.

Wir brauchen daher einen schwachen, aber fürsorglichen Staat. Ganz nach dem Motto „So wenig Staat, wie möglich; soviel Staat wie nötig“. Daher muss sich der Staat nach Corona auch wieder aus allen neu besetzten Ebenen zurückziehen.

Ein Staat, der im besten Sinne fürsorglich handeln soll, darf nicht schwach sein. Er muss selbstbewusst sein. Im Willen, zentrale Fragen demokratisch auszufechten – und im Willen, für die Schwächeren zentrale Dienstleistungen sicherzustellen.

Stefan Braun, Berlin

Sehr geehrter Herr Rumler,

vielen Dank für Ihre Antwort. Gleich vorneweg: Ein Argument teile ich, das zweite nicht. Aber der Reihe nach. Ihre Kritik am Begriff des „starken Staates“ finde ich absolut plausibel. Jedenfalls dann, wenn man ihn so definiert wie Sie. Also als Staat, der überall hineinregiert, auch in die untersten politischen Ebenen und bei den kleinsten Fragen. Diese Ausprägung eines starken Staates halte ich für hochproblematisch und in einer Demokratie wie der unseren für völlig unangemessen. Anders ausgedrückt: Wäre der Staat in diesem Sinne ein „starker“, dann dürfte man nicht mehr von einer Demokratie sprechen. Das zu erklären, habe ich auch in meinem Kommentar versucht, indem ich die absolute Ausnahmesituation der Pandemie beschrieben habe, inklusive der zwingenden Notwendigkeit, dass Regierung und Verwaltung das Ausmaß an Macht nach der Pandemie automatisch und selbstverständlich wieder abgeben müssen.

Zugleich allerdings lehne ich Ihre These ab, dass der Staat nicht nur fürsorglich, sondern dafür auch schwach sein sollte. Ein fürsorglicher Staat, der seine zentralen Aufgaben in einer sozialen Demokratie ernst nimmt, kann sie meines Erachtens nicht erfüllen, wenn er schwach ist. Was ich damit meine?

Ich erinnere mich noch sehr eindrücklich an eine Zeit Anfang der 2000er-Jahre, als es in der Wissenschaft, der Politik, aber auch den Medien einen großen Trend gab, der eine solide Haushaltspolitik sehr eng mit der Idee der Privatisierung verknüpfte. Dabei galt es als besonders clever, sparsam zu haushalten, indem man staatliche Aufgaben in die Hände privater Unternehmen legte. Privatisierungen von kommunalen Wasserwerken, städtischen Schwimmbädern, von Autobahnen und Bahnstrecken, dazu der lange Zeit angestrebte Börsengang der Deutschen Bahn und der phasenweise große Einfluss von Unternehmensberatern auf die Schulpolitik der Länder – all das waren Versuche (und Auswüchse) eines Trends, bei dem staatliche Stellen Verantwortung an Private delegierten. Und zwar nicht als vielleicht mal kluger Einzelfall, sondern als großer Trend, der dazu führte, dass vieles nach reinen Wirtschaftlichkeitskriterien organisiert wurde, obwohl es eigentlich zur Grundversorgung durch den Staat gehören muss. Siehe auch Schulen, Polizeien, Busse und Bahnen.

Nein, ein Staat, der im besten Sinne fürsorglich handeln soll, darf nicht schwach sein. Er muss selbstbewusst sein. Im Willen, zentrale Fragen demokratisch auszufechten – und im Willen, für die Schwächeren zentrale Dienstleistungen sicherzustellen.

Es ist Aufgabe jeder Regierung, immer wieder neu auszuhandeln, zu  welchem Grad Eingriffe in die Grundversorgung notwendig und gerechtfertigt sind. Das gelingt einem demütigen Staat besser als einem starken. 

Andreas Rumler, Magdeburg  

Sehr geehrter Herr Braun,

Sie plädieren für einen selbstbewussten, aber nicht schwachen Staat, denn nur dieser könne zentrale Fragen demokratisch ausfechten und zentrale Dienstleistungen für Schwächere sicherstellen. Diese Argumentation möchte ich gerne differenzierter betrachten. Das oberste Ziel des Staates sollte der Schutz der Volkssouveränität und damit der Freiheiten der Bürger sein. Dies ist nur in einer demokratischen Ordnung möglich. Diese Ordnung ist ständig bedroht und muss vom Staat selbst geschützt werden. Hierfür ist Selbstbewusstsein zwingend nötig, und das nicht nur auf der Ebene der wehrhaften Demokratie, sondern ebenso als Prävention im Bereich der Bildung.

Alle Eingriffe und Vorgaben müssen dabei aber immer gut begründet sein und dürfen Freiheitsrechte nur so weit wie unbedingt nötig einschränken. Die Unterstützung und der Schutz von Schwächeren durch zentrale Dienstleistungen sind zum Schutz der Rechte der Bürger und dem Erhalt des sozialen Friedens – und damit des Staates – ebenso notwendig; das versteht auch der „Homo oeconomicus“. Daraus lässt sich die Fürsorgepflicht eines Staates ableiten.

In der Grundversorgung existiert aber kein Automatismus. Es gibt kein Naturrecht auf bezahlbare Schwimmbäder oder Bahnstrecken. Hier stellt sich die Frage nach den Aufgaben des Staates. Sollte der Staat ein Schützer von Freiheiten, ein umsorgender Staat sein oder sich gleich um alles kümmern? Es ist Aufgabe jeder Regierung, immer wieder neu auszuhandeln, bis zu welchem Grad Eingriffe in die Grundversorgung notwendig und gerechtfertigt sind.

Man darf den Privatisierungswahn kritisieren, muss aber akzeptieren, dass Wirtschaft dem Staat nicht immanent ist. Ein zu selbstbewusster Staat kann zu überzogenen Fürsorgepflichten führen und die Bürger in ihrer Selbstverwirklichung und ihren Rechten behindern. Ein schwacher Staat kann in eine solche Falle nur schwer tappen. Das größte Problem an Selbstbewusstsein ist sein Hang zu Macht und Machterweiterung, da diese das Selbstbewusstsein weiter stärken. Ein selbstbewusster Staat neigt eher dazu, sich gegenüber Bürgern durchsetzen zu wollen und damit die Volkssouveränität zu unterlaufen.

Daher ist nicht der selbstbewusste, sondern der demütige, schwache, aber fürsorgende Staat notwendig. Der Staat, der sich bewusst ist, dass er seine Macht vom Volk übertragen bekommt. Der nur zum Schutz dieser übertragenen Macht in gut begründeten Fällen und in starken Grenzen dann auch Selbstbewusstsein zeigen muss. 

Das „Pingpong der Positionen“ findet im Rahmen des SZ-Projekts Werkstatt Demokratie statt. Im Zentrum steht diesmal die Frage: Schutz und Freiheit: Was bedeutet gutes Regieren im 21. Jahrhundert?  

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