Mord auf Malta

Vor einem halben Jahr wurde die Journalistin Daphne Caruana Galizia ermordet. Ihre Recherchen wurden auf der Insel gefeiert und gefürchtet. Rekonstruktion eines Anschlags auf die Demokratie - dessen Hintermänner bis heute nicht gefasst wurden.

Von Mauritius Much, Hannes Munzinger, Bastian Obermayer, Holger Stark und Fritz Zimmermann

Das Feuer, in das Matthew Caruana Galizia starrt, ungläubig und panisch, es brennt grellorange und unheimlich laut. Ausgelöst von einer ferngezündeten Bombe, angefacht vom vielen Benzin im Tank des explodierten Wagens und von dem Wind, der von der Straße unaufhörlich in das Gerstenfeld fährt, auf dem Matthew steht – alleine und verzweifelt. Der Klang eines alles verzehrenden Feuers, vermischt mit dem permanenten Dauerton der eingeklemmten Hupe: Ein Geräusch, das Matthew zuvor nicht kannte, das er aber in seinem Leben nicht mehr vergessen wird. In seinem Kopf drückt derweil ein Gedanke alles beiseite: bitte nicht!

Matthew versucht in dem brennenden Auto etwas zu erkennen, eine Silhouette vielleicht, aber da ist nur Feuer. Würde er klar denken, hätte er längst alle Hoffnung fahren lassen, er hat ja das Kennzeichen und das Fabrikat des Wagens längst erkannt. Aber er denkt nicht klar, natürlich nicht, stattdessen rennt er barfuß wieder und wieder um den Wagen herum. Über Scherben, verschmorte Plastikfetzen und glimmendes Gras, auf der Suche nach einem Stock, nach irgendetwas hartem, etwas metallischen – in der sinnlosen Vorstellung, damit die Türen öffnen zu können. Stattdessen findet er etwas, das aussieht wie ein: menschliches Bein. Genauer gesagt, wie ein Teil eines Beines. Es dauert einige Momente, bis ihm klar wird, was das bedeutet, inmitten dieses Infernos, das nur wenige hundert Meter vom Haus seiner Eltern lodert. Der Gedankengang, den sein überwältigtes Hirn ihm anbietet, ist dann dieser: Das ist kein Stück Holz. Also ist es ein Bein. Und damit ist alles vorbei.

Wenig später stehen zwei Polizisten neben Matthew, sie schreien auf ihn ein, noch immer gegen das Geräusch des lärmenden Feuers: 

„Wer ist in dem Auto? Weißt du wer in dem Auto ist?“

Matthew schreit wieder zurück:

„Meine Mutter ist in dem Auto! Sie ist tot! Sie ist in dem Auto!“

Etwa zur selben Zeit, gut zehn Kilometer entfernt, durchquert ein weißes Sportboot mit grüner Sonnenabdeckung die Einfahrt des großen Hafens der maltesischen Hauptstadt Valletta. An Bord des Bootes namens Maya befindet sich sehr wahrscheinlich George Degiorgio, 55, der in der maltesischen Unterwelt als „der Chinese“ bekannt ist. Zuvor hatte das Boot einige Minuten an einer Stelle gedümpelt, das zeigen Bilder einer Überwachungskamera des Hafenbetreibers.

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Beim Verlassen des Hafens schreibt Degiorgio eine weitere SMS, diesmal an seine Lebensgefährtin: „Besorg mir Wein, mein Schatz.“

Wenn man die abschüssige Straße, auf der Daphne Caruana Galizia am Nachmittag des 16. Oktober 2017 getötet wurde, vom Ort der Explosion etwa eine halbe Minute nach oben fährt, zweigt rechts ein holpriger Feldweg ab. Er führt zu dem Haus, in dem sie mit ihrem Mann Peter, einem Anwalt, mehr als 25 Jahre gewohnt hat. Das Haus, in dem Daphne – jeder kennt sie auf der Insel unter ihrem Vornamen – ihre drei Söhne groß gezogen hat, in dem sie telefoniert, recherchiert und geschrieben hat.

Das Haus, in dem sie den Hörer aufgelegt hat, wenn nachts anonyme Drohanrufe kamen, das Haus, in dem sie die Drohbriefe entsorgt hat, manchmal ungeöffnet, wenn sie dick waren und weich: wenn ihr wieder jemand Scheiße geschickt hatte, als Zeichen seiner Verachtung.

Am Ende des Feldweges versperren eine gut zwei Meter hohe Mauer und ein gusseisernes Tor den Eingang zum Garten des Hauses, das seit etlichen Monaten auch zwei Polizisten bewachen. Peter Caruana Galizia kommentiert die Anwesenheit der Wächter mit einem Achselzucken, was soll er auch sagen – der Schutz kommt zu spät für seine Frau, und er selbst fühlt sich nicht in Gefahr. Er recherchiert ja nicht.

An diesem Tag besuchen nicht nur Reporter der SZ das Haus der Ermordeten, auch eine Kollegin des Guardian und Kameraleute. Das Interview mit dem Witwer ist Teil des „Daphne Projects“ – einer internationale Recherchekooperation, ins Leben gerufen von der gemeinnützigen Organisation Zum Projekt "Forbidden Stories"„Forbidden Stories“Zum Projekt "Forbidden Stories"

Unter diesem Dach arbeiteten Reporter von 18 Medien wie der New York Times, des Guardian oder Le Monde zusammen daran, Daphne Caruana Galizias Recherchen fortzusetzen und ihre Ermordung zu rekonstruieren – aus Deutschland waren der Rechercheverbund aus SZ, WDR und NDR beteiligt sowie die Zeit. Weitere Texte werden folgen, die gemeinsame Recherche wird andauern. Auch um ein Zeichen zu setzen: Wer eine Reporterin tötet, riskiert, damit noch mehr Aufmerksamkeit auf die unliebsame Recherche zu lenken – weil andere Reporter genau diese Arbeit fortsetzen.

Das Haus des Myrte-Baums

Daphne und Peter haben das großzügige Haus, malerisch gelegen auf einer Anhöhe in dem Dörfchen Bidnija im Norden Maltas, 1991 gekauft. „Daphne hat es geliebt“, sagt der Ehemann. Man kennt das Anwesen als „Dar Rihana“, was „Haus des Myrte-Baums“ bedeutet. Sie haben sie etliche Innenmauern wegreißen lassen, um Weite zu haben, erzählt Peter. So gleicht der große Wohnbereich eher einer Leselandschaft: Sofas, Sessel und Couches, umgeben von hohen Stapeln von Magazinen und Büchern. Die Außenmauern sind durchbrochen von großen Fenstern, die viel Licht hereinlassen und den Ausblick auf die umliegenden Felder und Hügel erlauben.

Daphnes Witwer Peter Caruana Galizia im Garten des gemeinsamen Hauses.

Peter führt zu einem langen Holztisch, hier klappte Daphne Tag für Tag ihren Laptop auf und schrieb, ihre Kolumne für den Malta Independent und ihren rastlos bestückten Blog „Running Commentary“. Abends wechselte sie auf eines der Sofas – und schrieb weiter. „Wenn Daphne an einem Artikel arbeitete“, sagt Peter, „war sie nicht zu stoppen. Weder durch Uhrzeiten noch durch sonst irgendwas.“ Er lächelt. „Wobei ich es nie auch nur versucht hätte.“

Die Panama Papers

Im Frühjahr 2016 erhält Daphne, obwohl nicht selbst Teil des Rechercheteams, Dokumente aus dem der SZ zugespielten Datenleak Panama Papers. Damals bleibt sie ganze Nächte wach, erzählt Peter, weil sie wie elektrisiert ist: Konrad Mizzi, ein Minister, sowie Keith Schembri, der Stabschef des Premierministers, sind die heimlichen Eigentümer von Panamafirmen, die kurz nach dem Wahlsieg der Labourpartei 2013 gegründet wurden. Der Zweck: unbekannt. Das Konstrukt: undurchsichtig. Dennoch bleiben beide Politiker im Amt – in den meisten EU-Ländern unvorstellbar. Daphne erhebt später einen noch härteren Vorwurf, den sie allerdings nicht beweisen kann: Dass auch die Frau von Premier Joseph Muscat Begünstigte einer Panama-Firma gewesen sei. Der Premierminister spricht von der „größten Lüge der politischen Geschichte Maltas“ und verklagt Daphne. Die Klage ist noch anhängig.

Nichts belegt bisher, dass Daphne recht gehabt haben könnte. Aber wenn doch: Wäre vorstellbar, dass der Premierminister deswegen Mörder anheuert? Solche Fragen treiben Malta um seit Oktober. Die eine Hälfte des Landes glaubt Daphne und ist empört, dass Muscat noch immer im Amt ist – die andere glaubt Muscat, genauso empört. Die einen huldigen Daphne, die anderen verdammen sie – aber kalt lässt sie keinen.

Unter Beobachtung

Auf einem der Hügel, auf die Daphne von ihrem Arbeitsplatz aus blickte, liegt die Tat-Targa-Batterie, eine historische Militäranlage der Briten aus dem 19. Jahrhundert. Von ihr ist nicht viel mehr übrig ist als ein paar brüchige Mauern, daneben Pferdeställe und, weiter oben, ein Wohnhaus. Ein Ort, an den man nicht zufällig kommt.

Wenn man einmal hier oben ist, kann man über das malerische Auf und Ab der Landschaft bis zum Meer hinüber sehen, auf Felder und Gewächshäuser. Aber auch auf Daphnes Haus, vor allem auf die Zufahrt. Es ist, im Polizeijargon, der perfekte Beobachtungsposten. Ab September habe hier immer wieder ein weißer Peugeot geparkt, oft tagelang, wird später ein Anwohner der Polizei sagen: Manchmal habe ein Mann darin gesessen, manchmal nicht.

Wer auch immer hier oben ausharrte, konnte bequem Daphnes Gewohnheiten notieren. Wie oft sie das Dorf verließ, und wann sie wieder kam. Wer hier wartete, konnte aber auch seine Komplizen anrufen, um zu melden, dass Daphne gerade in ihrem Wagen aus der Einfahrt fuhr, den Feldweg entlang zur Hauptstraße, wo die Explosion stattfand. Das glauben jedenfalls die Ermittler. Sie finden hier später eine ausgedrückte Zigarette – und an ihr DNA-Spuren von Alfred Degiorgio, 53, Spitzname „die Bohne“. Der Bruder von George Degiorgio, der die Bombe von dem Boot aus gezündet haben soll.

Der leitende Ermittler, Keith Arnaud, wird später vor Gericht erklären, wie die Auswertung von Mobilfunkdaten, die rund um Daphnes Dorf gespeichert wurden, die Beobachtung des Anwohners und der Fund der Zigarettenkippe zu einem Gesamtbild ergänzt. Gemeinsam mit einem Spezialteam des US-amerikanischen FBI durchsiebte die Polizei Tausende von Datensätzen und fand, dass sich das Handy von Alfred Degiorgio an acht von den neun Tagen vor dem Anschlag mit einen Sendemast verband, der die Gegend abdeckt. Auch zwei weitere Telefone, die Degiorgios Bruder George und einem Komplizen gehörten, haben sich demnach wiederholt in der Nähe an Mobilfunkmast eingeloggt. Es ist Mitte Oktober, das unsichtbare Netz um Daphne zieht sich zusammen.

Journalistin im Rampenlicht

Auf der anderen Seite des kleinen Tals, in Daphnes Haus, gehen die Dinge in den Tagen vor dem Mord wie gewohnt. Daphnes ältester Sohn Matthew, selbst Journalist, ist vor einiger Zeit aus Paris zurückgekehrt nach Malta, er wohnt und arbeitet zu Hause – genug Platz ist ja. Allerdings arbeitet er weiterhin für ein ausländisches Medium, das Internationale Konsortium für Investigativjournalisten in Washington D.C., er verantwortet den technischen Teil von Enthüllungen wie den Panama Papers. Als Daphnes Sohn wäre es aber auch so gut wie unmöglich, bei einem maltesischen Medium zu arbeiten, zu präsent ist sie selbst.

Daphne zu begreifen fällt von Deutschland aus schwer. Erst spät versteht man weshalb: Jemanden wie sie gibt es hier nicht und gab es wohl auch noch nie. Eine Journalistin, die wirklich jeder kennt, weil sie seit 25 Jahren die Debatten bestimmt in einem Land, das nicht einmal eine halbe Million Einwohner zählt. Seit Daphne Anfang der Neunziger mit Mitte Zwanzig eine Kolumne bei der ältesten Zeitung Maltas bekommt, der Times, sticht sie heraus. Allein schon, weil sie eine Frau ist.

„Die Leute haben mich gefragt, ob ich die Kolumne in Wahrheit schreibe“, erzählt ihr Ehemann. Aber bald versteht das Publikum, dass da, wo Daphne draufsteht, auch immer Daphne drin ist. Ihre Leserschaft folgt ihr auch zu ihrem Blog, den sie 2008 beginnt. Etliche ihrer Blogeinträge werden mehr als 400 000 Mal aufgerufen, das ist mehr als die Auflagen aller maltesischen Zeitungen zusammen.

Am häufigsten schreibt Daphne über die politische Kaste Maltas: Hart und direkt, witzig und wütend, böse und – auch das – verletzend. Dieser Stil gehört genauso zu ihrer Marke wie ihre Recherchen, sie hat ein dichtes Netz von Informanten und Quellen. Sie ist den Zeitungen mit ihren vielen Reportern wieder und wieder voraus, und mit jeder neuen Exklusiv-Geschichte festigt sie diesen Ruf.

Eine ihrer wichtigsten Geschichten kreist um einen iranischen Milliardärssohn, der auf Malta eine kleine Bank gegründet hatte – die nach Daphnes Recherchen im Verdacht steht, Geldwäsche zu betreiben. Unter den Kunden: Muscats Stabschef Keith Schembri, Ex-EU-Kommissar John Dalli und eine Tochter des aserbaidschanischen Diktators Ilham Alijew. Der iranische Gründer der Bank wurde im März 2018 wegen des Verdachts auf Sanktionsbruch in den USA verhaftet. Ihm drohen 125 Jahre Gefängnis. Daphne hatte offenbar den Finger in eine Wunde gelegt.

Wieder die Frage: Ist der drohende Ruin einer Bank ein Motiv? Diktator Alijew geht in seiner Heimat brutal gegen Journalisten vor – tut er das auch im Ausland?

In Daphnes Blog finden sich viele umstrittene Figuren, über die sie recherchiert. Sie legt sich mit jedem an. Egal wer es ist.

Das hat Folgen. 1996 zündet jemand den Fußabstreifer vor ihrer Haustür an, als nächstes liegt einer ihrer Hunde mit durchgeschnittener Kehle vor dem Eingang. Eindeutige Drohungen. 2006 rollen Unbekannte im Schutz der Nacht Lastwagenreifen an die Hauswand und setzen sie in Brand. Ihr jüngster Sohn Paul kommt wenig später vom Ausgehen nach Hause, es ist gegen drei Uhr morgens, die Flammen haben bereits an der Hauswand emporgeschlagen, bis über das Dach, und die Fenster zum Bersten gebracht. Aber die Familie kann das Feuer löschen, mit einem Gartenschlauch. Niemand kommt zu Schaden.

Ist das noch Einschüchterung – oder schon ein Mordanschlag?

Ein früherer Polizeichef in Maltas Hauptstadt Valetta sagte vor einigen Jahren angeblich den Satz: „Ich wäre nur ungern Polizeichef, wenn Daphne Caruana Galizia ermordet wird. Ich wüsste nicht, wo ich anfangen soll.“

Die üblichen Verdächtigen

George und Alfred Degiorgio sind insofern ein naheliegender Ausgangspunkt, als dass ein Geschäftspartner, mit dem George eine gerichtliche Auseinandersetzung gehabt hatte, Ende Oktober 2016 umgebracht wurde. Mit einer Autobombe.

Die Brüder haben einen denkbar schlechten Ruf, sie gelten als rücksichtslose Berufskriminelle. Beide waren in einen spektakulären Banküberfall verwickelt, in dem es nie zu einem Verfahren kam. Alfred, der jüngere, saß vier Jahre wegen eines Bombenattentats auf eine Polizeistation im Gefängnis. Vor Gericht ist ihre Taktik immer dieselbe: Sie schweigen.

Bisher waren die beiden nicht im Fokus der Öffentlichkeit, auch Daphne hat, soweit bekannt, weder über sie geschrieben noch recherchiert.

Der Minister und das Bordell

Eine von Daphnes umstrittensten Geschichten begann so: „In diesem Augenblick ist Maltas Wirtschaftsminister Chris Cardona in einem Bordell in Velbert, in der Nähe von Düsseldorf.“ Ein regelmäßiger Informant hatte sich an einem Abend Ende Januar 2017 mit der Information bei Daphne gemeldet. Nur wenig später steht die Geschichte vom angeblichen Bordellbesuch des Ministers – der tatsächlich an diesem Tag in offizieller Funktion in Deutschland ist – schon auf Daphnes Blog.

Maltas Wirtschaftsminister Christian Cardona.

Ohne zweite Quelle, und ohne dem Minister Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Stattdessen treibt Daphne die Geschichte als eine Art Live-Blog weiter, mit immer neuen Updates, über Cardonas Begleiter, einen angeblichen Dreier, ein angebliches Tattoo: ein Portrait von Che Guevara auf seiner rechten Schulter. Christian Cardona bestreitet vehement, das Bordell besucht zu haben und verklagt Daphne. Der Prozess läuft noch immer, Daphnes Söhne verteidigen die Arbeit ihrer Mutter. Für Daphnes Gegner zeigt diese Episode, dass sie eben nicht unabhängig war, sondern auf der Seite der Opposition, der Nationalistischen Partei, im deutschen Parteienspektrum am ehesten vergleichbar mit der CDU. Ihr schriller Tonfall und ihr fahrlässiges Vertrauen in einzelne Informanten machen es schwer, diese Vorwürfe zu entkräften. Doch auch ihre scheinbare Neigung zu den Nationalisten hinderte sie im vergangenen Jahr nicht, deren frisch gewählten Vorsitzenden anzugreifen, und zwar kaum weniger brutal. Auf die Daphne-Art eben, so sehen es selbst ihre Verbündeten, ihre Freunde, ihre Familie. „Das war eben ihr Stil. Sie sagte immer, sie nimmt keine Gefangenen. Sie schoss, um zu töten“, sagt Ehemann Peter, „ich hatte manchmal Mitleid mit den Leute, aber ich wusste, dass sie am Ende recht hatte.“

Daphnes Ablenkung war der Garten, der das Haus umgibt. Hoch gewachsene Olivenbäume, Orangenbäume und Hunderte Kakteen, in Töpfchen und Töpfen und im Boden. Noch am Tag vor ihrem Tod geht Daphne auf einen Markt, auf dem sie Setzlinge kauft, Pinien, Caruben und anderes mehr. Matthew fährt derweil mit Daphnes Wagen ans Meer, zum Schwimmen. Als er gegen halb sechs zurückkehrt, stellt er ihn, wie so oft, außen vor dem lilafarbenen Tor ab. Seine Eltern hören ihn ankommen, zu dritt schlendern sie eine Weile durch den Garten und überlegen, wo sie die neuen Bäumchen einpflanzen wollen.

Die Bombe

Zu diesem Zeitpunkt sind die drei wohl nicht mehr alleine: zwei der Täter verstecken sich vermutlich ganz in der Nähe im Gebüsch. Die Polizei wird Matthew später erklären, dass die Mörder wohl mit einem speziellen Gerät das Funksignal des Schlüssels abgefangen haben, als er nach dem Schwimmen den Wagen seiner Mutter absperrte. Dafür wiederum müssen sie in unmittelbarer Nähe gewesen sein, als Daphne, Peter und Matthew am Vorabend der Tat durch den Garten streiften. Solche abgefangene Signale lassen sich reproduzieren, und so konnten die Täter den Wagen öffnen, ohne äußerliche Spuren zu hinterlassen – jedenfalls ist das die Vermutung. Sicher ist nur: Die Bombe, hergestellt mit TNT oder einem ähnlichen Sprengstoff, wurde im Wageninneren platziert, direkt unter dem Fahrersitz.

Die Auswertung der Mobilfunkdaten bestätigt, dass zwei SIM-Karten, die die Polizei den Tätern zurechnet, in dieser Nacht in Bidnija sind. Die eine Karte steckt demnach in einem Gerät, mit dem man von unterwegs ferngesteuert elektronische Geräte einschalten kann, wie eine Zentralheizung oder die Gartenbeleuchtung. Oder eben: eine Bombe. „God device“ nennt die Polizei diese Vorrichtung: „Gott Gerät“.

Das Gerät funkt um 1.41 Uhr morgens zum ersten Mal aus Bidnija – die Bombe ist nun scharf. Und bleibt dort exakt bis zum Zeitpunkt der Explosion auf Empfang. Die andere Karte steckt in einem Billighandy, das nach der Überzeugung der Polizei von George Degiorgio verwendet wurde. Dieses Handy verbindet sich fünf Minuten später mit demselben Mobilfunkmast und verschwindet gegen 4.30Uhr aus Bidnija – offenbar als Degiorgio sich aus seinem Versteck in der Nähe des Gartens wagt. Der Hinterhalt ist gelegt.

Der Fehler

Am Morgen des 16. Oktober, um 7.59 Uhr, hält eine Überwachungskamera im Hafen von Maltas Hauptstadt Valletta fest, wie das Sportboot Maya den „Großen Hafen“ gemächlich in Richtung See verlässt.

Eine gute Stunde später, gegen neun Uhr, macht George Degiorgio den wohl entscheidenden Fehler. Er ruft nacheinander zwei Bekannte an und bittet sie, ihm fünf Euro Telefon-Guthaben per SMS zu schicken. Da Degiorgios persönliches Handy zu dieser Zeit vom maltesischen Geheimdienst überwacht wird – weshalb, ist bislang nicht bekannt –, haben die Ermittler das schwarz auf weiß. Degiorgio bekommt das Guthaben und lädt es auf ein anonymes Wegwerfgerät, ein „Burner-Phone“, das die Polizei ohne diese Verbindung kaum zu ihm hätte zurückverfolgen können. So aber schon. In dem Telefon befindet sich ebenjene SIM-Karte, die sich Nachts in Bidnija verbunden hatte, und es kommuniziert nur mit zwei anderen Burner-Phones, die laut Polizei von seinem Bruder und einem Komplizen benutzt wurden. Eine reine Vorsichtsmaßnahme. Die Ermittler glauben deshalb, dass George wusste, dass er abgehört wurde. Mit seinem Fehler hängen alle mit drin.

Der dritte Mann

Ungefähr zur selben Zeit sieht der Anwohner am Beobachtungsposten bei der alten Kanonenabschussstellung wieder den weißen Peugeot. Die Ermittler lokalisieren außerdem Alfred Degiorgios persönliches Handy dort, zudem verortet die Polizei im Umkreis das Mobiltelefon eines weiteren polizeibekannten Gangsters.

Der Mann heißt Vince Muscat – die Namensgleichheit mit Premierminister Joseph Muscat ist Zufall. Im Grunde ist es erstaunlich, dass Muscat auf freiem Fuß ist, er wurde wiederholt schwerer Straftaten verdächtigt, kam aber immer irgendwie davon. Vor vier Jahren überlebt Muscat spektakulär einen Mordversuch: Er bekommt drei Kugeln in Kopf und Nacken. Eine Kugel steckt noch immer im Schädel. Der mutmaßliche Täter wird wenig später selbst erschossen – Muscat hat ein Alibi für diesen Mord.

Gegen 14.30 Uhr parkt der weiße Peugeot noch immer in der Nähe des Aussichtspunktes. Nach dem Mord wird er dort nie wieder gesehen.

Die letzten Stunden

Für Matthew beginnt der Tag spät. Er schläft aus und setzt sich dann zum Arbeiten an den Wohnzimmertisch, gegenüber seiner Mutter. Er wird sich später an einen stillen Morgen erinnern, an dem die Stunden unbemerkt vergehen, ein Morgen, der nahtlos in den frühen Nachmittag übergeht. Der Geruch des wilden Schwarzkümmels zieht durch die offene Terrassentür ins Wohnzimmer, und alles, was an Geräuschen von der Außenwelt auf das Grundstück durchdringt, wird von den Blättern und Ästen der Bäume und Sträucher verschluckt, die sich um das Haus drängen. Sie sind Daphnes Schutzschild. Draußen, man kann es nicht anders formulieren, wird „die Hexe von Bidnija“ gejagt. Auf Blogs wird dazu aufgerufen, sie zu fotografieren, wo immer man sie antrifft. Fotos von ihr am Strand, in Cafés, am Flughafen erscheinen in diesen Blogs, versehen mit abfälligen, aggressiven Kommentaren über ihr Aussehen, ihren Ausschnitt oder darüber, dass eine Hose zu tief sitzt. Der Betreiber des Blogs, der Daphne am aggressivsten verfolgt, selbst Politiker der regierenden Labourpartei, verteidigt sich: Daphne habe Politiker ebenso gejagt, man habe nur ihre Taktik kopiert und „sie ihre eigene Medizin schmecken lassen“. Ihr Bild wurde sogar auf Wahlplakate neben die Gesichter von Politikern der Nationalistischen Partei gedruckt – als politische Gegnerin.

Also vermeidet Daphne bestimmte Orte, am Strand war sie laut ihrer Familie seit fünf Jahren nicht mehr. „Daphne war Freiwild geworden“, sagt Peter. „Wir haben sie langsam vor unseren Augen sterben sehen, schon bevor sie getötet wurde.“

Nur sechs Tage vor ihrem Tod gibt Daphne einer Wissenschaftlerin des Europarats ein langes Interview, in dem sie genau über all das spricht. Es klingt wie eine Ahnung, wenn man sie da sagen hört: „Sie haben mich letztendlich zu einem nationalen Sündenbock gemacht.“ Ihre Feinde hätten die Menschen gelehrt, sie zu hassen – „selbst Menschen, die meine Texte nicht kennen, weil sie kein Englisch verstehen.“

Kurz nach 14.30 Uhr postet Daphne ihren letzten Blogeintrag. Es geht um Keith Schembri, den Vertrauten des Premierministers. Der letzte veröffentlichte Satz ihres Lebens lautet: „Wo auch immer man hinschaut, sind Betrüger. Die Situation ist hoffnungslos.“

Kurz vor 15 Uhr packt Daphne hastig ihre Sachen zusammen, sie ist spät dran für einen Termin in ihrer Bank. Sie eilt nach draußen und kommt wenig später wieder zurück: Sie hat das Scheckbuch ihres Mannes vergessen, ihr Konto ist eingefroren infolge des Rechtsstreits mit Wirtschaftsminister Cardona – in 47 gerichtlichen Auseinandersetzungen muss Daphne sich zu dieser Zeit verteidigen. Sie ruft Matthew zu: „Okay, jetzt gehe ich wirklich!“ Dann steigt sie in den Wagen.

Die Explosion

Gegen 14.55 Uhr stoppt die Maya in den Gewässern vor der Hauptstadt Valletta. Das Burner-Phone, das die Polizei George Degiorgio zuordnen kann, weil er das Guthaben darauf geladen hat, wird in den nächsten Minuten zweimal angerufen werden. Beide Male aus Bidnija, von einem der anderen anonymen Billigtelefone, das die Ermittler Alfred Degiorgio zuordnen – den sie wiederum auf dem Beobachtungsposten verorten. Der erste Anruf dauert 44 Sekunden, der zweite 107. Das passt genau zur Schilderung Matthews: Daphne verlässt das Haus, macht kehrt und kommt ein zweites Mal heraus. Um 14.58 und 55 Sekunden schickt jemand – die Ermittler glauben: George Degiorgio – eine einzeilige SMS an die SIM-Karte, die mit der Zündvorrichtung an der Bombe unter Daphnes Sitz gekoppelt ist. Das „Gott-Gerät“.

Der Wagen geht in die Luft.

Die Polizei glaubt, dass George Degiorgio vom Boot aus die Explosion mit anhört. Das Telefon zum Telefonieren in der einen, das zum Auslösen in der anderen Hand.

In genau diesen Sekunden kommt ein Nachbar Daphne auf der abschüssigen Straße entgegen. Er hört ein Geräusch, das er später mit einem Gewehrschuss vergleichen wird, und sieht wie Daphnes Wagen plötzlich stark bremst. Augenblicke später folgt eine zweite Explosion, die das Auto in Flammen aufgehen lässt und von der Straße in das angrenzende Feld schleudert.

 „Ich habe das noch nie erzählt, weil es sich nicht richtig anfühlte“, sagt der Nachbar Reportern des Daphne-Projekts, „ich habe sie sogar schreien gehört. Aber in dem Moment, in dem sie zu schreien begann, wurde sie zu einem Feuerball.“

Als er aus seinem Wagen steigt, stellt er fest, dass Daphne von der Explosion zerrissen wurde. Er stoppt den Verkehr, damit keine Autos über die Leichenteile fahren.

Die Explosion ist so laut, dass die Fenster in Daphnes Haus erzittern. Panisch springt Matthew vom Tisch auf und rennt barfuß los. Er erinnert sich, wie er die Tür aufreißt, das Bellen der Hunde hört, das grelle Licht sieht und denkt, er würde einfach kollabieren. Aber er rennt weiter, vorbei an den Nachbarn, die von Explosion auch nach draußen getrieben wurden, über den steinigen Feldweg, ohne zu merken, wie die Steine in seine Fußsohlen einschneiden. Irgendwann sieht er die dicken Rauchschwaden vor sich, und einen schwarzen Krater auf der Straße, um ihn herum brennende Bäume, Glasscherben, Plastikfetzen, Autoteile – aber er sieht den Wagen nicht. Er rennt weiter, entdeckt das Auto auf der Wiese und hofft immer noch, es wäre nicht das seiner Mutter. Bis er das Fabrikat erkennt, dann das Nummernschild und schließlich, als er kaum mehr bei sich ist, Teile eines Beins. 

Die Razzia

Die Ermordung einer Journalistin in einem EU-Land sorgt für Entsetzen in ganz Europa. Auch die maltesische Regierung verdammt den Mord, Premier Muscat spricht von einem „barbarischen Akt“ und verspricht, Malta werde „nichts unversucht lassen, um diesen Fall aufzuklären“. Die Regierung lobt eine Million Euro aus für den entscheidenden Hinweis, der zur Ergreifung der Täter führt. Teams von FBI und Europol steigen ein, auch das Bundeskriminalamt (BKA) bietet Hilfe an.

Am frühen Morgen des 4. Dezember 2017 stürmen Polizei und Militär mit gezogenen Waffen eine rostige Baracke am Hafen von Marsa. 

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In jener Baracke am Hafen, zwischen wild zusammengewürfelten Möbeln und Angelzubehör soll der Mord geplant worden sein. Die Razzia kommt für die drei wohl nicht überraschend, die Polizei glaubt, dass sie gewarnt wurden. Und sie haben vorgesorgt: Die Burner-Phones und persönlichen Handys liegen am Grund des Hafenbeckens, direkt neben der am Kai festgemachten Maya. Militärtaucher können die Telefone später bergen. 

Alle drei Tatverdächtige sagen in den Verhören kein Wort zur Sache, alle drei plädieren auf nicht schuldig. Sie werden das Schweigegelübde der Unterwelt nicht brechen. Sicher scheint nur: Wenn sie es waren, dann als Auftragsmörder. Die Polizei glaubt offenbar noch nicht einmal, dass sie die Bombe selbst hergestellt haben.

Ein ratloses Land

Auch ein halbes Jahr nach dem Mord ist Daphne in Malta noch allgegenwärtig, Graffitis erinnern an sie, Mahnwachen, Protestmärsche. Ein Blumenschrein in Valletta wurde zehn Mal vom Ordnungsamt abgeräumt. Zehn Mal dekorierten ihre Anhänger den Schrein von Neuem.

Noch immer ist vollkommen unklar, warum Daphne ermordet wurde und von wem. Ihre Ermordung ergibt nur dann Sinn, wenn jemand ihre Recherchen stoppen wollte. Nur welche?

Die Arbeitshypothese der Polizei lautet: organisierte Kriminalität. Der Kreis derer, die ein Motiv haben könnten, ist in der Tat groß. Die Camorra? Die ’Ndrangheta? Die libysche Öl-Mafia? Alles möglich.

Nur: All das war nie Schwerpunkt von Daphnes Arbeit – anders als die maltesische Politik. In Kneipen, Cafés und Hotels ist das allen bekannt, dort werden fast immer maltesische Spitzenpolitiker als Hintermänner vermutet. Die Polizei ignoriert nach SZ-Erkenntnissen diese Linie bislang jedoch: Kein einziger der Politiker, über die sie in ihren letzten Monaten berichtet hat, wurde bislang vernommen. Als ob die Panama-Firmen des Stabschefs und eines Ministers, ihre Vorwürfe gegen den Premierminister, ihre Fehde mit dem Wirtschaftsminister, als ob all das nicht wenigstens untersucht gehörte.

Und dann erreicht Reporter des Daphne-Projekts der Hinweis, Wirtschaftsminister Cardona sei mit Alfred Degiorgio gesehen worden. Zwei anonyme Quellen berichten unabhängig voneinander, die beiden hätten sich sowohl vor, als auch nach dem Mord in einer Bar getroffen, seien vertraut gewesen, wären sogar gemeinsam kurz Spazieren gegangen um eine nahe Kirche. Angeblich gibt es noch weitere Zeugen, deren Namen dem Ermittlungsrichter bekannt seien.

Der Wirtschaftsminister und einer der mutmaßlichen Killer?

Kann man das glauben? Christian Cardona beteuert, er erinnere sich an „kein Gespräch“ mit einem der Verdächtigen, und es habe „definitiv keine Verabredung“ mit einem von ihnen gegeben. Alles andere seien „haltlose Gerüchte und Spekulationen“.

Nun machte es Cardona natürlich nicht zu einem Verdächtigen, wenn er Degiorgio getroffen hätte. Aber es ist ein Hinweis, dem die Polizei nachgehen muss.

Furchtbarerweise endet dieser Text, sechs Monate nach ihrem Tod, mit einer Frage: Wer ließ Daphne ermorden?

Matthew, ihr ältester Sohn, ist skeptisch, ob die Drahtzieher je verhaftet werden. Das heißt aber noch lange nicht, dass er aufgeben würde: „Wir können uns davon nicht abhalten lassen“, sagt er, „wir müssen weitermachen.“

Auch das Daphne-Projekt wird weitergehen.

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