"Dem entspricht, dass alles Trachten nach Allmächtigkeit, ganz abgesehen von der Frage der Hybris, immer danach trachten muss, Pluralität als solche zu vernichten."
- Hannah Arendt, Vita Activa -
Was für eine angenehme Ruhe das ist ohne rechtsradikales Spektakel. Das ist wirklich das Erfreulichste an diesen Wochen. Die Konzentration, mit der sich öffentlich auseinandersetzen und ernsthaft debattieren lässt ohne die Zeitverschwendung der rhetorischen Manöver, die nur unterbrechen und zerstören wollen. Was für eine Erholung, sich über das politische Spektrum hinweg, mit einer realen Gefahr befassen zu müssen, die unsere sozialen, politischen, kulturellen Praktiken und Überzeugungen bedroht - und nicht mit einer antidemokratischen, rassistischen Phantasie.
Sie könnten einem fast leidtun, die rechten Fanatiker, die mit dem Sprachbild der Gesellschaft als "Körper" operieren und deren programmatisches Material vornehmlich aus Projektionen von "Reinheit" besteht. Wenn eine Gesellschaft als Körper gedacht wird, so das ideologische Kalkül, dann folgen daraus auch die erwünschten xenophoben Assoziationen: Ein Körper ist fest und abgeschlossen (nicht offen und frei). Ein Körper ist begrenzt durch die Haut (nicht durchlässig). Ein Körper ist auch verletzlich und anfällig für Krankheiten. Ein solcher Körper muss geschützt werden vor dem, was vergiften, schädigen, schwächen kann.
Kulturelle oder religiöse Vielfalt wird in diesem Raster der Wahrnehmung als Bedrohung des homogenen, gesunden Volkskörpers imaginiert. Jede Andersartigkeit wird nicht einfach als anders, sondern als verunreinigend definiert. Jede Abweichung von einer Norm gilt nicht einfach als abweichend, sondern als krank und ansteckend.
Das war schon immer eine erstaunlich hypochondrische Identität, die sich da offenbarte. Wie instabil muss die eigene kulturelle oder religiöse Überzeugung bloß sein, wenn sie schon durch die Begegnung mit einer anderen so erschüttert werden kann? Wie geschwächt ist wohl der eigene Glaube, das eigene "kulturelle Immunsystem", wenn schon der Anblick einer Kippa oder eines Kopftuchs auf der Straße oder die Erwähnung von Homosexualität in Schulbüchern Panik auslöst. Als ob es eine Art Tröpfchenübertragung gäbe, durch die sich ein anderer Glaube, eine andere Körperlichkeit, eine andere Lust quasi epidemisch ausbreiten könnte.
Für eine nationalistische Bewegung, die stets behauptet, besonders stolz auf die eigene Geschichte und Tradition zu sein, war das schon immer bemerkenswert schwächlich. Ich könnte mit 50 Schalke-Fans für sehr lange Zeit auf eine Insel gesperrt werden. Und ich wäre wirklich nicht im Geringsten besorgt, dass sie mich anstecken könnten. Ich habe allerdings auch keine Angst, durch Anblick von anderen plötzlich hetero zu werden oder katholisch. Nicht, weil es schlechter wäre, sondern weil es so nicht funktioniert. Aber mit exakt dieser Vorstellung von Ansteckung durch Andersartigkeit arbeiten neovölkische, homo- und transfeindliche Ideologien, ohne zu bemerken, wie instabil sie sich dabei selbst portraitieren.
Und nun taucht im Leben dieser ängstlichen Rechten, die sich jahrzehntelang die rassistische "Kontamination" des Volkes herbeiphantasiert haben, auf einmal eine reale Bedrohung, eine echte Epidemie auf - und was ist? Sie ziehen blank. Mit der Wirklichkeit haben sie nicht gerechnet. Eine Gefahr, die nicht selbst erfunden ist, eine Bedrohung, die nicht durch die eigenen Ressentiments genährt wird, ist unerwünscht. Das überfordert nur. Eine globale Epidemie, die alle Körper angreift, die nicht-weißen wie die weißen, die sich nicht schert um Religiosität oder Sexualität, eine Epidemie, die potenziell alle übertragen und die jeden infizieren kann, eine globale Krise, die nur durch geteiltes Wissen und wechselseitige Fürsorge überwunden werden kann - dafür sind sie... nun ja... nicht prädestiniert.
Weil sie das vermutlich selbst wissen, aber gleichzeitig auch nicht wissen, was sie mit sich anfangen sollen, hatten die Reste der Pegida-Bewegung für den heutigen 20. April, dem "Führergeburtstag", eine Demonstration in Dresden angemeldet. Nun wären einem vielleicht Gründe abrufbar gewesen, warum inmitten einer epidemischen Ausnahmesituation, in der jedes Konzert und jede Lesung verboten ist, auch eine Demonstration an Hitlers Geburtstag hätte untersagt werden können - aber gut. Die Versammlungsfreiheit ist ein elementares Recht. Selbst für Hypochonder. Und so wurde der Auftritt dann unter strengen Auflagen genehmigt: Die Teilnehmerzahl wurde erst auf 50, und dann auf 15 begrenzt. Ausgeschrieben fünfzehn. Das klang zu absurd, um wahr zu sein, also bin ich nachmittags, gemeinsam mit dem Freund und Fotografen Sebastian Bolesch, nach Dresden gefahren.
Ich gebe zu: Nach wochenlangem Lockdown in der eigenen Wohnung hätte mich wirklich jeder Ausflug aufgeheitert. Selbst ein Helene-Fischer-Konzert oder eine Thermomix-Schulung wären mir in diesem weichgespülten Zustand willkommen gewesen. Aber das Häuflein Pegida-Demonstranten, umringt von einem Kordon aus sächsischer Polizei mit Mundschutz, das toppte einfach alles. Das war die ganze Reise wert. Dafür würde ich mich nochmal ein paar Wochen einschließen lassen. Das war das Lustigste seit sehr, sehr langem. Auch die Ansprachen, die "den Mut" der halbvermummten (!) Demonstranten lobten, hier "Gesicht zu zeigen", werden in die Chronik der unfreiwilligen Komik eingehen. Zwei Handvoll Personen sind enttäuscht, durch die Auflagen zum Publikum degradiert und nicht in der Mitte, in der umzäunten Zone der genehmigten 15, zugelassen zu sein. Das kann ich sogar verstehen. Sie versuchen, ab und an mal zu klatschen, was bei ihrer geringen Zahl und auf dem doch sehr leeren Platz vor der Frauenkirche auffällig rasch verhallt. "Wir sind zurück" steht auf einem der Schilder. Nun ja. "Wir sind winzig" wäre passender gewesen, aber das brauchte niemand auf ein Schild zu schreiben.
"Archive handeln vom Verschwinden; die Angst vor Verlust suchen sie durch Anhäufung von Gedächtnis zu evozieren."
- Wolfgang Ernst, Das Rumoren der Archive -
Kein Tag vergeht in dieser Krise, an dem wir uns nicht fragen, was verschwinden wird, was wir verlieren werden, kein Tag, an dem uns die Angst nicht zermürbt, ob wir werden retten können, was uns als Individuen oder als Gesellschaft ausmacht. Kein Tag, an dem wir nicht rebellieren gegen die Beschränkungen, die uns nicht nur einschließen, sondern die uns vorenthalten, was sonst Stoff zum Denken sein könnte. Zu den Orten, die uns im Moment verschlossen sind, gehören Ausstellungshäuser und Museen. In ihren Sammlungen strukturieren und verdichten sie vergangene Erfahrungen, sie rekonstruieren frühere Gewaltformen so wie die Mythen, in denen sie heroisiert oder bagatellisiert werden sollten. In den Museen ist nicht einfach unser kulturelles Gedächtnis bewahrt, sondern es ist erst ausgewählt, gedeutet, kanonisiert. In ihnen können wir das eigene historische Erbe nicht nur entdecken, sondern vor allem kritisch befragen.
Zu den Häusern, die seit Wochen nicht öffnen können, gehört das Deutsche Historische Museum, das immer wieder Ausstellungen entwickelt, die zu eben dieser Reflexion als sozialer Praxis einladen. Weil ich den Präsidenten der Stiftung, Raphael Gross, kenne, habe ich gefragt, ob ich ihn in dieser Ausnahmesituation besuchen darf. Er hat sofort zugestimmt und angeboten, mich durch die aktuelle Ausstellung zu Hannah Arendt zu führen. Wir haben uns für diesen Vormittag verabredet. Ein einsamer Wärter steht an der Drehtür zum lichtdurchfluteten Anbau des Museums und freut sich, dass es etwas zu tun gibt. Der Eingangsbereich, an dem sich sonst Schlangen vor der Kasse bilden, ist menschenleer. Die Rolltreppen ins Untergeschoss stehen still und ohne die üblichen Besuchermassen, die einen sonst ablenken oder vorwärts schieben, lässt sich die grandiose Konstruktion des chinesisch-amerikanischen Architekten I. M. Pei mit all ihren wechselnden Sichtachsen in Ruhe genießen. Selbst die im Fußboden eingelassenen Markierungen für blinde Besucher, die ich zuvor noch nie beachtet hatte, fallen mir nun auf.
Die Dauerausstellung zur Deutschen Geschichte vom Mittelalter bis zum Mauerfall, die sich im barocken Zeughaus-Gebäude befindet, verzeichnete allein im Jahr 2019 rund 860.000 Besucher. Und jetzt? Ob Raphael Gross bei der Frage schmunzelt, lässt sich nicht erkennen. Er trägt Mundschutz und hat sich zudem einen Handschuh übergezogen, mit dem er den Katalog der Ausstellung übergibt, die nun niemand sehen kann: "Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert."
Die Ausstellung ist nicht nur geschlossen. Das wäre schon arg. Aber: Sie wurde nicht einmal eröffnet. "Für alle, die daran gearbeitet haben, ist es natürlich fürchterlich", sagt er nur und dann beginnt Gross eine persönliche Führung durch die Ausstellung, die so beglückend wie traurig ist, weil man spürt, wie sehr sie ihm am Herzen liegt. Bei jeder Vitrine, jedem Objekt bleibt Gross stehen und erzählt über die Figur der großen Philosophin wie über die Konflikte des 20. Jahrhunderts, die sie in ihren Texten verhandelte: totale Herrschaft, das ambivalente Wechselspiel von Emanzipation und Antisemitismus, die Lage der Flüchtlinge, den Eichmann-Prozess, aber auch die Fragen von Wiedergutmachung und Restitution. Gross nimmt sich wirklich Zeit für jedes Detail und kontextualisiert es in einer Geschichte: ob es die deutsche Erstausgabe von Arendts Buch über Rahel Varnhagen aus dem Jahr 1959 ist, bei der Gross erzählt, wie der Untertitel abgeändert wurde, damit auf gar keinen Fall das Wort "Jüdin" auf dem Cover zu lesen wäre (so wurde aus "The Life of a Jewess", dann "Eine Lebensgeschichte") oder die winzige Kamera, mit der Hannah Arendt selbst ihrer Freunde portraitierte (darunter eine Serie von Aufnahmen von Martin Heidegger, die sich wie eine regelrechte Photo-Session ausnimmt).
Wir spazieren von Raum zu Raum bis zum Modell des Krematoriums II von Auschwitz-Birkenau des polnischen Bildhauers Mieczslaw Stobierski, das normalerweise als Teil der Dauerausstellung im Zeughaus zu sehen ist, das hier aber als magnetisches Kraftfeld ins Zentrum der Ausstellung gesetzt wurde. Vor diesem Modell lässt sich nicht ungerührt stillstehen. Es bedrängt einen, es setzt einem zu, es zwingt einen hinein in die Monstrosität des Verbrechens in seiner ganzen widerlich-kleinteiligen Präzision. Wegschauen (oder wegklicken) lässt sich nicht. Also gehen wir um das Werk herum, näher heran auch an die über 3000 Gipsfiguren, an die Wachleute mit ihren Schäferhunden oder die Menschen, die ins Untergeschoss der Anlage gedrängt werden.
Und in dem Moment durchfährt es mich, noch schmerzlicher als all die eingeschlossenen Tage zuvor. Das ist es, was unverzichtbar ist, das ist es, was sich nicht ersetzen lässt, das ist es, warum es Kultur braucht wie Brot: das miteinander Denken in einem Raum, vor einem Bild oder einer Skulptur oder einer Bühne, das genaue Hinhören oder Hinschauen, nicht allein, sondern mit anderen zusammen, das Teilen und Mitteilen eines ästhetischen Eindrucks, einer musikalischen Erfahrung, die Auseinandersetzung über einen poetischen oder essayistischen Text, sich davon erschüttern, verstören, trösten zu lassen - das ist es, was es braucht. Übrigens auch: sich nicht ganz so leicht entziehen zu können, wenn andere um einen herum sind, sich einem Eindruck doch geduldiger, schonungsloser aussetzen zu müssen, in einem öffentlichen Raum, nicht sofort ausschalten zu können, wenn ein musikalisches Werk einen überfordert oder ein Kunstwerk bedrängt und verstört, sondern das, was es auslöst, auch auszuhalten und zu fragen, was genau es eigentlich ist, das irritiert oder berührt. Dafür braucht es eine Begegnung im Raum, in einer Galerie, in einem Konzertsaal, im Theater, dafür braucht es andere Menschen neben einem, mit einem, ein Publikum.
Da kann noch so viel fabuliert werden von der beschleunigten Digitalisierung, von all den Vorzügen der virtuellen Pädagogik, von der dringend aufzuholenden Kultur 4.0, all diesem "Krise als Chance"-Pep-Talk - wenn wir doch vor allem spüren, wie sehr wir abhängig davon sind, soziale, kulturelle, religiöse Erfahrungen auch miteinander teilen zu können. Natürlich gibt es großartige digitale Formate, natürlich produzieren unzählige Institutionen exzellente Angebote an künstlerischer Bildung auf ihren Online-Plattformen. Natürlich gibt es phantastische 3-D-Installationen, die mir auch unterschiedliche Perspektiven auf Objekte oder Bewegung im virtuellen Raum ermöglichen. Auch das Deutsche Historische Museum hat mit dem "Lebendigen Museum Online" (LEMO) für Schulklassen ein viel genutztes digitales Programm. „Aber man muss sich nichts vormachen“, sagt Gross, "bei all dem, was der Digitalisierungsschub auch hilft - das sind doch Krücken. Es ersetzt nicht die Erfahrung, wie ich ein Objekt in einem Raum wahrnehmen kann."
Ich will nicht, dass zu schnell geöffnet wird. Ich würde lieber länger durchhalten und dafür aber als Gemeinschaft beschützter aus dieser Krise hervorgehen. Meine geliebte Großmutter pflegte beim Brotschneiden zu mahnen: "Sägen! Nicht drücken." Danach ist mir auch im Moment: lieber sägen als drücken. Ich weiß nicht, wann der richtige Zeitpunkt sein wird, dass wir öffentliche Orte wieder bespielen können. Aber ich wünschte, die Öffnung von Museen und Bühnen würde als so dringlich wahrgenommen werden wie die Öffnung von Möbelhäusern und Fußballstadien.
Also gut, ein Witz kam noch per E-Mail aus New York, es ist der letzte, versprochen:
Ein Flugzeug mit fünf Passagieren, aber nur vier Fallschirmen, stürzt ab. An Bord: Donald Trump, Boris Johnson, der Papst, Angela Merkel und ein junger Student aus Yale. Donald Trump sagt: "Ich bin der intelligenteste Mann der USA und ich werde gebraucht, um 'Make America Great Again‘ durchzusetzen", schnappt sich den ersten Fallschirm und springt. Boris Johnson sagt: "Ich werde gebraucht, um die Größe und Würde des Vereinigten Königreichs wiederherzustellen", greift sich den zweiten Fallschirm und springt. Der Papst sagt: "Die Welt braucht mich wie sie die heilige katholische Kirche braucht", nimmt den dritten Fallschirm und springt. Bleibt ein Fallschirm übrig. Angela Merkel schaut den Studenten an und sagt: "Du kannst den letzten Fallschirm haben. Ich habe mein Leben bereits gelebt, Deins beginnt gerade." Der Student antwortet: "Machen Sie sich keine Sorgen. Es sind noch zwei da. Der intelligenteste Mann Amerikas hat meinen Rucksack genommen."
"Was wahr ist, streut nicht Sand in deine Augen, was wahr ist, bitten Schlaf und Tod dir ab."
- Ingeborg Bachmann, Was wahr ist, aus: Anrufung des Großen Bären -
Normal. Alles soll wieder normal sein. Das "Danach" soll jetzt beginnen und direkt ins "Davor" zurückführen. Keine Abstufungen, keine Differenzierungen, keine Variablen. Aus der Diskussion um Kriterien für partielle Erleichterungen ist bei manchen eine "Take-back-control"-Phantasie geworden, die verdrängen will, dass es für Einschränkungen vernünftige Gründe gab. Und diese Gründe, eben eine Viruserkrankung, für die es weder Therapeutikum noch Impfstoff gibt, sich nicht plötzlich erübrigt haben. Ich kann mir wünschen, dass es anders wäre, ich kann mich sehnen, jeden Tag, jede Nacht, nach einem Ende dieses klaustrophobischen, unfreien Zustands. Aber das streut nur Sand in die Augen und ändert nichts, an dem was wahr ist: Es gibt immer noch keinen Impfstoff. Und damit keinen Schutz. Das Reservoir an Nicht-Wissen, an Nicht-Verstehen, an Unsicherheit ist nicht erschöpft. Jeder Tag mit dem Virus, jeder Tag mit unserem veränderten sozialen Verhalten generiert der Forschung mehr Material, das analysiert werden kann, generiert den politischen Akteuren mehr Informationen, mit denen Fehleinschätzungen korrigiert werden können. Aber das lässt sich nicht in Stunden oder Tagen erwarten, sondern in Wochen, Monaten, vielleicht Jahren.
"Was wahr ist, so entsunken, so verwaschen
in Keim und Blatt, im faulen Zungenbett
ein Jahr noch und noch ein Jahr und alle Jahre -
was wahr ist, schafft nicht Zeit, es macht sie wett."
Das heißt nicht, dass sich alle Einschränkungen gleichermaßen in ihrer Sinnhaftigkeit oder Legitimität erschließen. Gab es schon Urteile, die revidiert werden mussten? Ja. Gab es schon Kriterien, die erst angelegt und dann wieder verworfen wurden? Ja, auch das. Das ist nicht unbedingt Zeichen von Willkür oder Verschwörung, wie mitunter suggeriert wird, sondern womöglich von sukzessivem Erkenntnisgewinn. Wir nennen das üblicherweise Lernen. Die Alternative scheint mir doch beunruhigender: Wenn keine Irrtümer entdeckt würden, wäre nichts hinzugewonnen, nichts neu verstanden - und nichts korrigiert worden. Das entbindet niemanden von der Kritik. Das entlässt uns nicht aus der Pflicht, jede Anordnung, die uns Rechte und Freiheiten nimmt, die uns unserer ökonomischen oder sozialen Existenz beraubt, zu prüfen und zu widersprechen, wo es geboten ist.
"Du haftest in der Welt, beschwert von Ketten,
doch treibt, was wahr ist, Sprünge in die Wand."
Mir macht allerdings mittlerweile die voreilige Zuversicht mehr Angst als die düstere Warnung. Wenn es Grund gab, zuversichtlich zu sein in der vergangenen Woche, dann doch vornehmlich, weil die Strategie der Verlangsamung zu funktionieren schien. Nicht, weil es keine Verlangsamung mehr bräuchte.
Vielleicht liegt es daran, dass ich seit einigen Abenden die Mini-Serie "Chernobyl" schaue, über die Reaktor-Katastrophe vom 26. April 1986. Oder eher: über die furchtbaren Versehrungen, die sich ergeben, wenn in einer Gesellschaft nicht nüchtern gedacht, nicht kritisch gezweifelt, nicht wahrhaftig gesprochen werden darf. Es ist eine schwer zu ertragende Serie, die niemanden schont vor den Bildzumutungen zerfetzter, zerfallender Körper, aber sie ist zugleich so brillant in der Analyse der Pathologie einer Gesellschaft, die Schwächen und Fehler nur leugnen und bestrafen - und deswegen nicht beheben kann.
"Der Wahrheit aber", so heißt es in Folge 5 von "Chernobyl", "ist es egal, was wir wollen oder brauchen". Bei der BBC gab es eine Analyse der wissenschaftlichen Erklärungen für das Phänomen, dass Menschen, individuell oder als Gesellschaft, Krisen nicht erkennen können (oder wollen). Dazu wurden neurologische wie psychologische Studien herangezogen. Darunter auch die Theorie von der "funktionalen Dummheit", die von den Forschern Mats Alvesson von der Universität Lund und Andre Spicer von der City University in London entwickelt wurde. Die beiden entdeckten, "dass Organisationen oft kluge und begabte Leute einstellen, aber dann Entscheidungsabläufe und Atmosphären kreieren, die sie entmutigen, Bedenken oder Vorschläge zu äußern. Stattdessen wird jeder nur aufgefordert, positive Deutungen von Ereignissen zu liefern - was zu einer sich selbst verstärkenden Dummheit führt“. Das leuchtet irgendwie umgehend ein.
In den verseuchten Wäldern im Sperrgebiet rund um Reaktorblock 4 von Tschernobyl brennt es übrigens seit Wochen. Dabei entweichen radioaktive Substanzen, die sich mit aufsteigendem Rauch über weite Distanzen verbreiten können. Immer wieder flammen Brandherde auf, immer wieder beruhigen die lokalen Behörden, es sei alles unter Kontrolle. In einem Artikel auf Zeit Online war gerade zu lesen, dass das Deutsche Bundesamt für Strahlenschutz entwarnt: Eine Gefährdung der Gesundheit und Umwelt in Deutschland sei nicht zu befürchten. Das klingt gut. Aber ich verfolge die Meldungen über die Brände trotzdem mal weiter.
"alles schmerzt sich einmal durch/ bis auf den eigenen grund und die angst vergeht."
-Jan Skacel, aus: Wundklee -
Heute war mir nicht nach Schreiben. Heute war mir nicht nach dieser Gegenwärtigkeit des Virus, die alles andere zu verschlucken droht. Heute war mir nach keinem sich laufend aktualisierenden Meldungsticker, nach keiner Sondersendung, nicht nach dem Ergebnis der Verhandlungen des Koalitionsausschusses, nicht nach der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin, nicht nach den Berichten über die Ausbreitung des Virus in den Wohnvierteln der Gastarbeiter in Singapur, nicht nach den Videos von Toten in Ecuador, die in bloßen Tüchern eingehüllt auf der Straße oder Hauseingängen liegen und für die es keine Särge gibt, nicht nach der nun doch verspäteten Bewegung der nördlichen Staaten in der EU. Heute war mir nicht nach dringlicher Not.
Als meine Freundin nach Deutschland kam, konnte sie es nicht fassen, dass in diesem Land im Radio, jeden Tag, nach den Nachrichten im Deutschlandfunk in aller Ausführlichkeit die Staumeldungen vorgelesen werden. Wochentags 37-mal, an Samstagen 27-, an Sonntagen 26-mal sendete der DLF Verkehrshinweise. Sie war absolut fasziniert, jedes Mal wieder, wie da jede Sperrung, jedes noch so absurde Hindernis, jede entlaufene Kuh, jede irgendwie begründete Verlangsamung im Straßenverkehr vermeldet wurde. Auf meine Freundin wirkte das wie Baldrian. Eine Gesellschaft, in der ein abgerissener Auspuffrost oder eine Entenfamilie auf der Fahrbahn zwischen Alsfeld-West und Homberg (Ohm) eine Meldung in den Nachrichten wert ist, eine solche Gesellschaft erschien ihr spektakulär sorgenfrei.
Die Staumeldungen im Deutschlandfunk wurden ausgerechnet dieses Jahr eingestellt. Und ich muss zugeben, in diesen Tagen täten sie auch mir gut. Ich würde sie auch vorlesen, wenn es dafür eine Freiwillige braucht.
Freitage fühlen sich inzwischen auch nicht anders an als Dienstage. Es bleibt alles gespenstisch konturlos. Die letzten Tage war ich derart genervt von der Formlosigkeit dieser Situation, dass ich mir freiwillig ein ordentliches Hemd angezogen habe fürs Schreiben. Wenn das noch lange dauert, hole ich am Ende noch das kurze Schwarze aus dem Schrank. Na gut, dafür müsste es dann doch noch sehr lange dauern. Aber trotzdem braucht es irgendein Programm fürs Wochenende, das sich nach etwas Unterbrechung, nach Ausnahme von der Ausnahme, anfühlen könnte. Deswegen empfehle ich jetzt mal etwas weniger Naheliegendes. Zumindest für mich. Die Berliner Techno-Band, "Komfortrauschen", die mich schon durch ihren Namen für sich eingenommen hat. Als Komfortrauschen, vielleicht sollte man das erklären, bezeichnet man ein künstlich erzeugtes Rauschen, das bei der digitalen Übertragung von Gesprächen eingesetzt wird. Damit Sprechpausen nicht als Abbruch der Verbindung missverstanden werden können, wird die sonst verunsichernde Stille mit einem (Komfort-) Rauschen belegt. Und auch wenn ich keine passionierte Techno-Hörerin bin, dann bin ich trotzdem sehr begeistert von diesem Trio, das handgemachten Techno produziert. Ich habe das neulich erst entdeckt und seitdem träume ich von einem Livekonzert von Komfortrauschen, sobald der Ausnahmezustand vorbei ist.
Passen Sie auf sich auf und bleiben Sie zuhause.