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Wer das Volk verstehen will, sollte dessen Vertreter kennenlernen. Bei der Haushaltswoche im Bundestag geht es um Geld – und um viel mehr. Eine Deutschland-Reise im Plenarsaal.

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Text: Nico Fried und Boris Herrmann
Fotos: Stefanie Preuin

Hände hoch! Da vorne in der ersten Reihe. Und da drüben auch. Das ist der entscheidende Moment für Uwe Schmidt. Jetzt wird’s eng.

Und wenn seine Leute sich nicht so verhalten, wie er sich das vorstellt, könnte der Coup in letzter Sekunde noch misslingen. 46 Millionen Euro – futsch. Wie sollte er das seinem süßen Mädchen zu Hause erklären? Wenn das hier schiefgeht, hat Uwe Schmidt ein Problem. Allerdings nicht er allein.

Etwa 98 Stunden früher, Dienstag, 26. November, 10.08 Uhr. „Ich rufe auf: Tagesordnungspunkt römisch eins, Buchstabe a und b.“ Die Erfahrung aus mehr als 47 Jahren in diesem Parlament erlaubt es Wolfgang Schäuble, einen langen Satz praktisch als ein Wort wegzunuscheln: „Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2020.“ Schäuble, der Badener, sagt „Feschtstellung“.

Es ist Haushaltswoche im Bundestag. Einen Etat zu verabschieden, ist das „Königsrecht des Parlaments“, heißt es. Die Regierung entwirft den Plan, aber der Bundestag legt letzte Hand an und stimmt schließlich darüber ab. Haushaltswochen sind wichtige Wochen. Die letzte ist die wichtigste, weil der Etat endgültig beschlossen wird. Und dieses Jahr ist sie noch ein bisschen wichtiger, weil die Zukunft der Regierung in den Sternen steht. Kann sein, dass Olaf Scholz und Angela Merkel bald weg sind. Wenigstens wäre dann die Kohle da. 362 Milliarden Euro, um genau zu sein.

Vier Tage im Herbst. Es geht um Geld und noch viel mehr. Eigentlich geht es um alles – komprimierte Wirklichkeit. Die Haushaltswoche ist eine Deutschlandreise im Schnelldurchlauf, kaum ein Thema wird ausgelassen, jedes Ressort kommt dran. 16 Debatten, jede mindestens 90 Minuten lang. Anstrengend ist es, weil die temperamentvollen Redner eine kleinere Gruppe bilden als die kleinste Fraktion. Aber man kann viel lernen über Politik. Über Deutschland. Und? Wie geht’s uns?

Der Tod braucht kein Mandat. Er nimmt an den Bundestagssitzungen teil, wann es ihm passt. Wolfgang Schäuble hat eben noch einen Abgeordneten der FDP gewürdigt. Jimmy Schulz ist mit 51 Jahren an Krebs gestorben. Er sei mit seiner Krankheit offen umgegangen und habe sich bis zum Schluss leidenschaftlich in der Netzpolitik engagiert, sagt der Bundestagspräsident. Er habe sich „um unsere parlamentarische Demokratie verdient gemacht“.

Auf dem Platz des Verstorbenen liegt ein weißes Blumengebinde. Die Abgeordneten erheben sich zum stillen Gedenken. Bevor diese besondere Woche, in der es wieder laut und heftig wird, richtig beginnt, hält der Bundestag noch einmal inne.

Danach kehrt mit Macht die Routine zurück. Es ist, als fliege einem gleich alles um die Ohren. Denn die erste Runde gehört den Haushaltspolitikern. Sie bedienen sich vor allem zweier Begriffsgattungen: Zahlen und Beschimpfungen. Peter Boehringer von der AfD spricht von Etikettenschwindel, Planwirtschaft, Volksverdummung. Johannes Kahrs (SPD) nennt das Plattitüden und Verschwörungstheorien.

Und nun die Zahlen, bitte. Otto Fricke von der FDP kritisiert, die Bildungsausgaben stiegen nur um 18,9 Millionen Euro. Eckhardt Rehberg von der CDU antwortet, es seien 400 Millionen, man müsse anders rechnen. Die Linken-Politikerin Gesine Lötzsch sagt, Bildung sei mit 100 Milliarden Euro unterfinanziert. Milliarden, nicht Millionen. Man muss da höllisch aufpassen, die Zahlen explodieren. Der AfD-Abgeordnete Bruno Hollnagl schafft die höchste: Zu den sichtbaren öffentlichen Schulden müsse man die unsichtbaren addieren. So komme man auf 7200 Milliarden Euro. Das ist eine Zahl mit elf Nullen. Und das nach nur einer Stunde Debatte.

„Dem deutschen Volke“ steht über dem Westportal des Reichstagsgebäudes. Wären die Besuchertribünen im Inneren genauso breit wie die Inschrift da draußen, nämlich sechzehn Meter, dann müsste sich das Volk beim Besichtigen der Demokratie nicht so zusammenquetschen. 

Die sechs dem Volke reservierten Balkone ragen wie herausgestreckte Zungen von oben in den Plenarsaal hinein. In der zweiten Reihe des linken Balkons sitzen an diesem Morgen Volker und Gudrun Tilch aus Varel in Niedersachsen, 77 und 75 Jahre alt. Frau Tilch hat am äußeren Rand der Polsterbank so wenig Platz, dass sie sich mit einem Fuß auf der Treppe abstützt, um nicht rechts wegzukippen.

Die Tilchs hören aufmerksam zu, manchmal flüstern sie miteinander. Sie finden das alles „hoch interessant“. Volker Tilch, ein pensionierter Papiermacher, und Gudrun Tilch, zeitlebens Hausfrau, gehören keiner Partei an. Sie sind bereits zum dritten Mal im Bundestag, aber dies ist „unsere erste Haushaltsdebatte“. Herr Tilch erzählt das wie ein Safari-Urlauber, der seine erste Giraffe fotografiert hat.

Der Bundestag gilt als das meistbesuchte Parlament der Welt. Das ist einerseits ein gutes Zeichen, andererseits verlangt der Massentourismus allen Beteiligten ein hohes Maß an Disziplin ab. Das von Reisegruppen repräsentierte Volk wird im 55-Minuten-Rhythmus auf die Tribünen geleitet und wieder hinauskomplimentiert. Draußen vor der Glasscheibe warten da schon die nächsten Schulklassen, Trachtenvereine und parlamentarische Butterfahrtgemeinschaften.

Auch die Zeit der Tilchs ist schneller abgelaufen, als sie glauben möchten. Sie bekommen noch mit, wie Eckhardt Rehberg sagt: „Manchmal kriegt man eine Brücke nicht saniert, weil Fledermäuse da sind“, und wie er anmerkt: „Das sind die Probleme, denen wir uns zuwenden müssen.“ Volker Tilch streckt den Daumen hoch: „Ist richtig.“

Das Abgeordneten-Restaurant hinter dem Plenarsaal. Durchs Fenster sieht man das Kanzleramt. Wer von der Lobby aus nicht gesehen werden will, kann sich hinter einem Sichtschutz aus Bast verstecken, oder hinter Pflanzenkübeln. Nur drei Tische sind besetzt. Katrin Göring-Eckardt, Fraktionschefin der Grünen, trinkt Tee. Nebenan drei Männer, die sich angeregt unterhalten. Und von hinten in der Ecke ruft plötzlich jemand: „Können Sie auch ein bisschen leiser, halloooo!“ Es ist Renate Künast, auch Grüne, die offenbar versucht, sich zu konzentrieren, möglicherweise auf das Manuskript ihrer Rede zur Landwirtschaftspolitik. Die drei Männer flüstern jetzt. Man kommt sich vor wie im ICE-Schweigeabteil und will gerade sein Handy lautlos stellen, da betritt Uwe Schmidt das Restaurant. „Moin!“, ruft er.

Zum Glück gibt es einen Nebenraum, in den sich der Ruhestörer klaglos umleiten lässt. Man kann mit Schmidt über alles reden, man darf ihn bloß nicht Herr Schmidt nennen. Zur Begrüßung sagt er: „Ich bin Uwe. Wenn mich einer siezt, denk ich immer, ich hätte was angestellt.“ Uwe Schmidt, 53, SPD, Wahlkreis Bremerhaven, bezeichnet sich als „Hafenmann“. Und Hafenmänner duzen sich. Punkt. Ist ihm etwas egal, ist es ihm „Gottlieb Schulze“. Schmidt, hellblaue Augen, rote Nase, ein Händedruck, der schmerzen kann, klingt nicht nur wie ein Hochseekapitän, der sich nach Berlin verirrt hat. Er sieht auch so aus. Daran ändern weder der weiße Hemdkragen noch der Anzug etwas, die an ihm eher wie ein Politikerkostüm wirken. Damit auch das klar ist: „Ich bin kein Berufspolitiker. Ich bin da reingeraten.“

Auch das charmanteste nordische Understatement kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Uwe Schmidt sogar ziemlich mitten hineingeraten ist in diese Haushaltswoche. Wenn am Schluss nichts schiefgeht, gehört er zu ihren Gewinnern. Seine Trophäe schaukelt seit 1966 im alten Hafenbecken von Bremerhaven.

Die „Seute Deern“, plattdeutsch für „süßes Mädchen“, ist ein 75 Meter langes Segelschiff, erbaut vor hundert Jahren in den USA. Sie hat Holztransporte auf dem Mississippi hinter sich, wurde nach Finnland, dann nach Hamburg verkauft, war mal eine schwimmende Jugendherberge und zuletzt ein beliebtes Restaurant in Bremerhaven. Zusammen mit dem Wrack einer Hansekogge gehört sie zu den wichtigsten Exponaten des Deutschen Schifffahrtsmuseums (DSM). Für Schmidt ist sie ein Wahrzeichen, er sagt, er könne sich seine Stadt ohne die „Seute Deern“ gar nicht vorstellen.

Doch Anfang des Jahres hat es an Bord gebrannt, Wassereinbruch, später sackte das Schiff nach Steuerbord und lag, so Schmidt, „bumms, auf einmal auf dem Hafengrund“. Es wurde wieder gehoben, hält sich seither aber nur an der Oberfläche, weil mehrere Pumpen täglich 4800 Kubikmeter Wasser aus dem Rumpf pusten. Die „Seute Deern“ noch einmal zu sanieren, sei zu teuer, hieß es noch vor wenigen Wochen aus dem Schifffahrtsmuseum.

Uwe Schmidt verkündete also ein kleines Wunder, als er am 14. November per Presseerklärung bekannt gab: „Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages hat in seiner heutigen Bereinigungssitzung zum Bundeshaushalt 2020 beschlossen, 46 Millionen Euro für den Erhalt der Seute Deern bereitzustellen.“ Wie hat Schmidt denn das nur geschafft?

Es ist Mittagessenszeit, als im Plenum der Etat des Ministeriums für Landwirtschaft und Ernährung aufgerufen wird. Doch bei Birgit Malsack-Winkemanns Rede kann einem schon der Appetit vergehen. Der Wilke-Wurst-Skandal steht bei ihr am Anfang. Im mittleren Teil folgen ein Milchskandal, Schimmelkeime im Sahnejoghurt, Kunststoffstücke in Rindersalami, Metall in Kochmettwurst, Glassplitter in Käse, Salmonellen in Walnüssen. Und am Ende Plastikfolienteilchen in Gläschen mit Babynahrung. Malsack-Winkemann sieht die Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) in der Verantwortung. Die AfD-Politikerin fragt: „Kann Vertrauen in diese Regierung tödlich sein?“

In diese Debatte bringen viele Abgeordnete das Leben von draußen mit. Christian Haase, Christdemokrat aus Nordrhein-Westfalen, erzählt von einem Heringsfischer aus Stahlbrode am Strelasund, nahe der Insel Rügen. Zu DDR-Zeiten hat der Mann 1200 Mark pro Tonne Hering verdient, damit war man auch in Ostmark wohlhabend. Mehr als 20 Leute hätten in der Genossenschaft gearbeitet. 2018 waren es noch neun, Anfang 2019 noch drei, jetzt ist der Fischer allein. Trotzdem dankt Haase seiner Parteifreundin Klöckner, weil sie in Brüssel bei den Fangquoten „noch Schlimmeres verhindert“ habe.

Oder die Geschichte von Rainer Spiering. Der Sozialdemokrat berichtet von einem Besuch im Landkreis Gütersloh. Dort steht ein großer Schlachtbetrieb. In der Stadtverwaltung habe man ihm erzählt, was das bedeutet: „Jedes Jahr werden dorthin neue Arbeitskräfte exportiert. Sie werden in Südosteuropa mit irren Versprechungen angeworben“, so Spiering. In dem Betrieb würden pro Tag 20 000 Schweine geschlachtet. Nach einem Jahr seien die Arbeitskräfte am Ende, blieben aber im Kreis Gütersloh. Es seien schon „etwa 7000 Menschen“, sagt Spiering. Und der Schlachter besorge sich einfach neue Arbeitskräfte. 500 000 Euro stünden jetzt im Haushalt, um wissenschaftlich zu untersuchen: „Was ist los auf den Schlachthöfen?“

Das System Landwirtschaft ist aufgebläht wie eine Weißwurst vor dem Platzen. Grundwasserverordnung, Düngeverordnung, Sonderrahmenplan Ländliche Entwicklung, Nitrat-Richtlinie, GAP-Anträge, GAK-Mittel und natürlich das Direktzahlungs-Durchführungsgesetz. Aber es gibt viele Abgeordnete, die genau wissen, wovon sie reden. Der Bundestag ist ein Experten-Parlament. Nur dass die meisten nie in den Medien auftauchen. Wer kennt schon Markus Tressel oder Alois Gerig, Artur Auernhammer, Ulla Ihnen oder Gero Clemens Hocker? Sie vertreten unterschiedliche Interessen, klar. Aber wer behauptet, „die in Berlin“ hätten keine Ahnung, hat selbst keine.

Simone Barrientos eilt mit einer Zigarette im Mundwinkel die knapp 100 Meter vom Reichstag zum Brandenburger Tor. Dort protestieren Tausende Landwirte, viele sind mit dem Traktor angereist. Die Straße des 17. Juni sieht aus wie ein gigantischer Trecker-Parkplatz. Barrientos, Abgeordnete der Linken, roter Mantel, rote Lederstiefel, wehende Locken, ist die kulturpolitische Sprecherin ihrer Partei, sie hat mit Landwirtschaft eigentlich nichts zu tun. Aber sie will verhindern, „dass die AfD die Veranstaltung kapert“.

Der unterfränkische Milchbauer Dominik Herrmann, 35, ist skeptisch, als er von der Abgeordneten aus seinem Wahlkreis gefragt wird: „Was kann ich hier und jetzt für Sie tun?“ Vielleicht das parteipolitische Kalkül zurückstellen, antwortet er schnippisch. Dann erzählt Herrmann von seiner Anreise, drei Tage hat er gebraucht auf seinem Traktor von Wolkshausen nach Berlin. Ab Erfurt fuhr er zwölf Stunden „ohne Pinkelpause“ im Konvoi auf der Autobahn, die psychische Belastung sei größer gewesen als die körperliche. Barrientos sagt, sie könne das gut nachvollziehen. 

Donnerstags dauerten die Sitzungen im Bundestag oft besonders lange, da wisse sie morgens manchmal auch noch nicht, wie sie das bis nach Mitternacht durchhalten solle.

Was der Milchbauer wohl nicht ahnt: Simone Barrientos hat da eine Geschichte, die sie in diesem Moment lieber für sich behält. Wer die Geschichte kennt, wundert sich allerdings, dass sie eine Zigarette nach der nächsten ansteckt und direkt wieder zum nächsten Termin hetzt.

Wenn ein Minister Pech hat, dann steht er zufällig zum Zeitpunkt der Haushaltswoche gerade besonders in der Kritik. Diesmal trifft es Andreas Scheuer von der CSU, den Maut-Minister, allerdings mit zwei Einschränkungen: Erstens, Scheuer steht immer in der Kritik. Zweitens, er tut viel dafür. Viel Zufall ist da nicht.

Als am Dienstagabend der Etat seines Ministeriums aufgerufen wird, sitzt Scheuer in der Regierungsbank. Kein anderer Minister ist da, die Kanzlerin schon gar nicht. Nur Scheuers Parteifreundinnen Dorothee Bär und Daniela Ludwig muntern ihn noch kurz auf, ehe die Schlacht beginnt.

Der FDP-Verkehrspolitiker Christoph Meyer sagt, Scheuers Politik erinnere ihn an den Filmtitel: „Faszination des Grauens“. Victor Perli von der Linken berichtet, er habe den Minister angezeigt. Und als Scheuer ans Rednerpult tritt, ruft die parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Franziska Brantner: „Dass der noch da ist! Wahnsinn, dass der sich das traut!“

Auch die Verkehrsdebatte ist eigentlich sehr interessant. Sie handelt von der Diskrepanz zwischen Mobilität und Klimaschutz. Die hat quasi eigene Wechselkurse: So wie ein Euro etwa 1,10 Dollar ist, sind 60 Lastwagen ein Güterzug.

Doch jetzt geht es hier richtig zur Sache. Scheuer stürzt sich auf die Grünen, als wolle er sie verspeisen. Er zitiert alte Forderungen von Renate Künast, den Bau der 160 Meter hohen Hochmoselbrücke in Rheinland-Pfalz zu stoppen, die doch jetzt unter begeisterter Anteilnahme vieler Bürger eröffnet worden sei. Und ein weiterer Grünen-Politiker habe ihn beschimpft, zu wenig Geld für Radwege auszugeben, dabei stünde mit 1,45 Milliarden Euro mehr bereit als je zuvor. Zur Maut sagt er kein Wort.

Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann macht einen Vorschlag zur Güte: Scheuer und Künast sollten sich doch zu einer Radtour über die Hochmoselbrücke treffen. Wie sich später herausstellt, darf man mit dem Rad gar nicht auf die Brücke.

Es hilft, Uwe Schmidt zu verstehen, wenn man seine Herkunft kennt: „Vadder aufm Fischdampfer, die Mudder Putzfrau bei der Stadt und glühende SPD-Tante.“ Er arbeitete als Angestellter beim Gesamthafenbetrieb im Land Bremen im Frischfisch und im Frostfisch, er hat Kaffeesäcke, Bananen, Baumwolle, Sackgut und Erz verladen, er hat geschweißt, gelascht und gestapelt, „alles rauf und runner, was im Hafen so anfällt“. 34 Jahre lang. Es hat ihm meistens Spaß gemacht, er hat aber auch mitbekommen, wie in der Finanzkrise rund tausend seiner Kollegen rausgeschmissen wurden. Er hat erlebt, was es bedeutet, „wenn du Anfang Januar bei sechs, sieben Grad minus an Bord eines Schiffes kommst und vor dir steht ein philippinischer Seemann mit Lappen an den Füßen“. Auch Uwe Schmidt ist ein Experte im Experten-Parlament.

Am Anfang seiner politischen Karriere stand die Erkenntnis: „Ey Schmidt, dat nützt nix, wenn du vor dem Spind sitzt und rumnölst.“ Im Oktober 2010 ist er in die SPD eingetreten. Sieben Jahre später wurde er als Direktkandidat in den Bundestag gewählt. Wenn er dort etwas gelernt hat, dann das: „Du kannst nicht die ganze Welt bespielen.“ Er versucht stattdessen, kleine konkrete Projekte umzusetzen. Zum Beispiel ein bereits untergegangenes Schiff retten. Und auch wenn es komisch klingt: Der Ort dafür ist der Haushaltsausschuss.

Otto Fricke bestellt Currywurst mit Pommes. Danach sieht er gar nicht aus. Weißes Hemd, Manschettenknöpfe. Groß, schlank, jung geblieben. Liegt vielleicht auch an der etwas höheren Stimme. 

Otto Fricke kam 2002 zum ersten Mal in den Bundestag. Er wurde Haushaltspolitiker, 2005 Vorsitzender des Haushaltsausschusses. 2009 kam die FDP an die Regierung, Fricke machte weiter den Haushälter, 2013 flog die FDP aus dem Bundestag. Vier Jahre lang arbeitete der Jurist in der Privatwirtschaft. 2017 kandidierte er wieder fürs Parlament, wurde gewählt und begann mit 51 Jahren als Haushaltspolitiker praktisch von vorne. Warum bloß?

„Du bist frei, und es macht Spaß“, sagt Fricke. Er sitzt an einem Tisch in der Parlamentarischen Gesellschaft, dem Reichstagsgebäude genau gegenüber. Die PG ist ein Rückzugsort der Abgeordneten, holzvertäfelt, dicke Teppiche, alte Bilder, Salonatmosphäre. In der PG sondierten Union, Grüne und FDP 2017, wenn sie nicht gerade für die Fotografen auf dem Balkon standen, eine Koalition. Vergeblich.

Haushälter, sagt Fricke, seien atypische Politiker. Sie „schauen nicht zuerst, wo man Geld ausgeben, sondern wo man es nicht ausgeben kann“. Fricke redet gerne und er redet schnell. Es amüsiert ihn, dass er einen Ruf als Klugscheißer hat. Er spricht das selbst an. Aber er weiß auch viel. Alles, was Geld kostet, landet im Haushaltsausschuss, gestern die neue Haubitze für die Bundeswehr, heute das reformierte Elterngeld, morgen der Rentenzuschuss. Im Haushaltsausschuss, sagt Fricke, „sieht man, wie dieser Staat funktioniert“.

Haushaltspolitiker sind mächtig. Auch die der Opposition. Sie können Mehrheitsbeschlüsse der Koalition nicht verhindern, aber sie können sie öffentlich machen. Haushälter der Regierungsparteien sind meist in der Defensive, die der Opposition in der Offensive. Dort ist auch Frickes bevorzugter Platz. Und er weiß, wie’s geht: In der ersten Plenumsrunde am Dienstag hat er am Rednerpult vier Blatt Papier hochgehalten. Auf jedes Blatt hatte er ein Symbol für Investitionen gedruckt. Das Blatt mit der Schiene als Symbol für Investitionen in den Bahnverkehr knüllte er in die Hosentasche, sollte heißen: Da passiert nichts. Am Abend lief die Szene in der „Tagesschau“.

Haushälter wie Fricke haben alle Fraktionen. Die AfD stellt mit Peter Boehringer einen fachlich respektierten Vorsitzenden des Ausschusses. Parteiübergreifend anerkennt man die Kompetenz der Haushälter, von Gesine Lötzsch (Linke) bis Alois Rainer von der CSU. In den Jamaika-Sondierungen machten die grünen Frauen besonderen Eindruck auf Angela Merkel. Nach dem Scheitern der Gespräche erzählte die Kanzlerin fast bewundernd, es habe beim Haushalt nichts gegeben, was Anja Hajduk oder Ekin Deligöz nicht gewusst hätten.

Viele Haushälter kennen sich lange. Sie sind politische Geschäftsleute. Sie wissen, wie schnell einer aus der Opposition in der Regierung sitzen kann. Und umgekehrt. Man nimmt, gibt und merkt sich was.

Mittwochmorgen, Tag zwei. Etwa zu jener Zeit, als Angela Merkel ins Kanzleramt einzog, wurden Anissa und Stine geboren. Die beiden 14-jährigen Mädchen sitzen mit ihren Klassenkameraden von der 9e der Gerhard-Hilgendorf-Schule in Stockelsdorf auf den Zuschauerrängen. 

Sie haben bei der Vergabe der Besucher-Slots den Hauptpreis gezogen: die Generaldebatte, auch Elefantenrunde genannt, mit dem Auftritt der Kanzlerin.

Im ersten Teil von Merkels Rede, in dem es lange um die Geschichte der Nato geht, haben nicht nur in Reihen der 9e einige mit schweren Augenlidern zu kämpfen. Am Ende sind aber alle wieder hellwach. Stine sagt: „Endlich hat mal jemand ausgesprochen, was sich niemand zu sagen traut.“ Hm, sie wird doch nicht etwa auf Alexander Gauland anspielen, der unmittelbar vor Merkel sprach? Nein, nein, sagt Stine, sie meine natürlich „die Angela“. Die habe doch gesagt, dass sich die Regierung jetzt dringend um den Klimawandel kümmern müsse.

Anissa ist aufgefallen, dass die AfD-Abgeordneten immer nur applaudieren, wenn jemand von der AfD rede. Bei Merkel hätten sie überhaupt nicht geklatscht. Das findet sie respektlos.

Später wird noch eine Gruppe Flüchtlinge auf der Tribüne sitzen, die sich von einem Sprachkurs bei der Caritas in Hildesheim kennen, unter ihnen der 27-jährige Nigerianer Ernest Idem. Er kam vor acht Monaten über das Mittelmeer nach Europa.

Idem spricht noch kein Wort Deutsch, will aber auf Englisch beten, dass Äntschela Mörkel auch nächstes Mal wieder die Bundestagswahl gewinnt.

Wer sagt es ihm?

An diesem Mittwoch regnet es in Berlin, im Haar von Simone Barrientos steckt eine Sonnenbrille. Zwischen einer namentlichen Abstimmung im Plenum, all ihren Terminen als Kulturpolitikerin und einem Fernsehinterview zur brenzligen Lage in Bolivien hat sie gerade noch Zeit für eine Zigarette. Sie sagt, sie habe schlecht geschlafen, zu viel Gedöns im Kopf. Und sei zu früh aufgestanden, weil sie noch duschen wollte, bevor der Klempner kam. Ein letzter Zug, weiter geht’s.

Jemand hat über Barrientos mal geschrieben, sie führe ein Leben ohne Punkt und Komma. In aller Kürze: Aufgewachsen in Neustrelitz, gelernte Elektrikerin, schwanger mit 17, Vater des Kindes in den Westen getürmt, Ausreisegenehmigung erhalten am 8. November 1989, tränenreiches Abschiedsfest von Familie und Freunden am 9. November in der Havanna-Bar an der Friedrichstraße, am nächsten Morgen problemlos umgezogen, arbeitslos in Westberlin, Verlag gegründet, Künstler vermarktet, selbst auf die Bühne gestiegen, als Sängerin durchs Land getingelt, bei einer Leipziger Buchmesse erstmals zusammengeklappt und zwar in „ein Beet frisch erblühter Krokusse hinein“; versucht, einen Gang zurückzuschalten, von Kreuzberg nach Ochsenfurt in Unterfranken gezogen, in die Linkspartei eingetreten, prompt in den Bundestag gewählt worden, wieder zwei, drei Gänge hochgeschaltet. Und dann wieder zusammengebrochen, neulich im Bundestag.

Es geschah in einer dieser überlangen Donnerstagssitzungen, am selben Tag war bereits der CDU-Politiker Matthias Hauer am Rednerpult weggesackt. „Bei mir war es einfach der Kreislauf“, erzählt Barrientos. Sie sei erschöpft gewesen, habe unregelmäßig gegessen und zu wenig getrunken. Sie will nicht über die Arbeitsbedingungen für Parlamentarier klagen, sie sieht auch ein, warum essen und trinken in den Plenarreihen verboten ist, „wie sähe das denn aus, wenn jeder seine Butterbrotdose mitbringen würde?“ Lieber versucht sie, sich anzupassen: regelmäßig am Wasserspender auf dem Flur vorbeigehen, Vitaminpräparate nehmen. „Ich glaube, irgendeine Form von Unterstützung brauchen wir hier fast alle.“

Donnerstag, Tag drei. Schon viel gelernt in all den Debatten. In Deutschland gibt es Bundeswehr-Kasernen, in denen die Soldaten kein warmes Wasser zum Duschen haben. Ein nagelneuer Hubschrauber der Luftwaffe bleibt am Boden, weil der Weltkonzern Airbus nicht in der Lage ist, ein taugliches Benutzerhandbuch zu schreiben. Hallenbäder sollen wieder mehr Geld bekommen, weil 60 Prozent der Zehnjährigen nicht sicher schwimmen können. Wenn die Linke richtig gezählt hat, beschäftigen die Jobcenter 2000 Ermittler, die mehr Geld kosten, als ihre Suche nach Sozialbetrügern einbringt. Dafür hat die Staatsanwaltschaft Köln nur zehn Stellen, um den Cum-Ex-Skandal mit einem Schaden von 30 Milliarden Euro, 56 Ermittlungskomplexen und 400 Beschuldigten juristisch zu verfolgen. Die Ausbildungsstandards bei Anästhesisten sind endlich angeglichen, man wird jetzt überall in gleicher Qualität betäubt. Für die Prostata-Vorsorge gibt’s mehr Geld und für Online-Paarberatung auch.

Der Etat für 2020 ist ein Rekordhaushalt. In all den Debatten sind sich Regierung und Opposition sogar grundsätzlich einig, dass mehr investiert werden soll. Aber es fehlt an Personal in den Behörden, an Arbeitern auf den Baustellen, an Pflegern in den Heimen. Die Regierung sagt: Wir arbeiten dran. Die Opposition sagt: Ihr arbeitet schon viel zu lang dran. Man könnte es auch so sagen: Der Bund ist so reich, dass er Mühe hat, sein Geld auszugeben. So geht’s Deutschland.

Genau genommen war die Sache schon geritzt, bevor die Haushaltswoche begann. Die Idee zur Rettung der „Seute Deern“ ist ja nicht vom Himmel gefallen. Uwe Schmidt sagt: „Wir haben fleißig dafür geworben im Vorfeld“, seine Mitarbeiter im Wahlkreis, er selbst bei „den entsprechenden Leuten in Berlin“.

Zu denen gehört zweifellos Johannes Kahrs, der SPD-Obmann im Haushaltsausschuss. Kahrs vertritt im Bundestag den Wahlkreis Hamburg-Mitte, ist aber gebürtiger Bremer. Er und Schmidt, der Bremer und der Bremerhavener, kennen sich nicht zuletzt aus dem Seeheimer Kreis, den der Weser-Kurier im Zusammenhang mit dem Geldsegen für die „Seute Deern“ gerade als den „Kungeltreff der SPD“ bezeichnete.

Ganze 17 Stunden hat der Haushaltsausschuss am vorvergangenen Donnerstag in der sogenannten Bereinigungssitzung getagt. Dann waren jene 1,66 Milliarden Euro verteilt, welche die Haushälter noch übrig hatten. Erstaunliche 81 Millionen fließen davon in Hamburger Kulturprojekte. Eines davon: das Reeperbahn-Festival. Oppositionspolitiker lästern, Johannes Kahrs habe sich mal wieder ein Denkmal gesetzt. Hat er auch Schmidt, der nicht im Ausschuss sitzt, bei der Denkmalpflege geholfen? Der wusste jedenfalls am Ende der 17-Stunden-Sitzung: „Yo, dafür haben wir die Piepen.“

Uwe Schmidt wird seither nicht müde zu betonen: „Solche Projekte kannst du nur bekommen, wenn du im Bund mitregierst.“ Da schließt sich ein Kreis vom süßen Mädchen Bremerhavens über den Hamburger Haushaltsobmann zum Finanzminister, der SPD-Vorsitzender werden und in der großen Koalition bleiben will.

Mario Miers, 45, aus Celle, dürfte kein Fan der Groko sein. Er sitzt am Donnerstag auf einem Besucherbalkon, als es um den Etat von Innenminister Horst Seehofer geht. Miers ist auf Einladung des AfD-Abgeordneten Thomas Ehrhorn da. Er trägt lila Schuhe und ein pinkfarbenes Hemd mit Schulterabzeichen, auf denen „Security“ steht. Fragt man nach seinem Beruf, sagt er: „Ich habe eine Dienstwaffe.“ Seine Eindrücke aus dem Parlament: „Absolut lächerlich.“ All die leeren blauen Sitze, Mannmannmann. „Wofür kriegen die eigentlich ihr Geld? Um zu schwänzen?“ Gegenfrage: Warum ist er angereist? „Unser Abgeordneter sagt immer, das ist hier ein großer Kindergarten, und das wollte ich mir mal ansehen.“

Simone Barrientos kann die Klage über die angeblich faulen Politiker nicht mehr hören. „Viele Leute glauben ja immer noch, wir arbeiten nichts, wenn wir nicht im Plenarsaal sitzen.“ Tatsächlich müsse man seinen Sitz hin und wieder verlassen, um auch mal was zu arbeiten.

Am Donnerstagnachmittag trifft man sie allerdings im Liegen an – mit Stiefeln und Aschenbecher auf dem Sofa ihres Abgeordnetenbüros. Da wird sie ab und an für ein paar Minuten von ihrem Büroleiter „geparkt“, sonst hält sie ihr Pensum nicht durch. Der Fall Barrientos, also der Schwächeanfall Barrientos, hat mit dazu geführt, dass nun die langen Nachtsitzungen im Plenum abgeschafft werden. Darauf haben sich die Parlamentarischen Geschäftsführer aller Fraktionen außer der AfD unter der Woche geeinigt. Donnerstags soll nun deutlich vor Mitternacht Feierabend sein. Barrientos sagt: „Dafür wird dann der Mittwoch länger.“

Freitag, Tag vier. Zur Schlussrunde treten wieder die Haushaltspolitiker an. Es gibt unter ihnen ein traditionelles Ritual: Vor der Sitzung verabreden sie ein Codewort, das jeder Abgeordnete in seiner Rede unterbringen muss. Dieses Jahr lautet das Wort: Reeperbahn-Festival. Für die Redner der Opposition ist das die Gelegenheit, Johannes Kahrs noch eins auszuwischen. Vizepräsidentin Claudia Roth entgeht die Häufung nicht, sie droht, einen eventuellen Reiseantrag des Haushaltsausschusses zum Reeperbahn-Festival abzulehnen. Nur einer sagt den Begriff nicht: Johannes Kahrs.

Kurz nach zwölf Uhr. Schlussabstimmung. Die Parlamentarischen Geschäftsführer wissen, was jetzt zu tun ist: Hände hoch! Sie erheben sich aus den vorderen Sitzreihen und zeigen mit hochgereckten Armen ihren Fraktionskollegen an, welche Stimmkarten sie in die Wahlurnen werfen sollen. Blau steht für zustimmen, Rot für ablehnen. Es wird eng da vorne. Mehr als 600 Abgeordnete drängeln sich um ein paar Urnen. Einige Minuten später hat Blau gewonnen. Uwe Schmidts Wahlkreis Bremerhaven bekommt die Millionen, der Rest des Landes die Milliarden.

Gleich neben dem Ankerplatz der „Seute Deern“ in Bremerhaven steht ein alter Schornstein auf dem Rasen. Er gehörte mal zu dem Frachter „Otto Hahn“, dem einzigen zivilen Schiff Deutschlands, das mit einem Kernreaktor angetrieben wurde. Hafenmänner lieben solche Geschichten, der Hafenmann Schmidt findet: „Der Schornstein könnte auch mal wieder angepinselt werden.“

Das wäre vielleicht ein kleines, konkretes Projekt für die Haushaltswoche im kommenden Jahr.