Als in Athen die Demokratie erfunden wurde, war es noch einfach: Jeder Wähler war auch Politiker. Wer wählen durfte, ging auf den Marktplatz und machte Politik. Kein Athener konnte sich beschweren, dass die Politiker sich nicht für seine Interessen einsetzten. Außer Frauen und Migranten, versteht sich. Die durften nicht wählen. Und das wiederum führt zu einem Problem, das auch 2500 Jahre später im Deutschen Bundestag besteht.
Vor einigen Wochen hat die SZ einen Fragebogen an alle Abgeordneten des neuen Bundestags geschickt. 280 von ihnen haben mitgemacht und geben so eine Antwort auf die Frage: Wie gut repräsentieren die Abgeordneten ihr Volk? Das Ergebnis ist eindeutig: Verglichen mit der Gesamtbevölkerung sitzen im Parlament nicht nur zu wenige Frauen und zu wenig Migranten, sondern auch: zu wenig Landbewohner, zu wenige Menschen mit Hauptschulabschluss, zu wenige mit einer Behinderung.
In Artikel 38 des Grundgesetzes steht: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages ... sind Vertreter des ganzen Volkes.“ Des ganzen Volkes. Und was ist mit denen, die fehlen? Kann der Bundestag wirklich auch die Interessen jener Bevölkerungsgruppen wirksam vertreten, die sich nur vereinzelt in seinen Reihen wiederfinden? Wie problematisch sind die blinden Flecken des Parlaments in einer Demokratie, die unter rechtspopulistischer Stimmungsmache ächzt, deren politische Debatte von Lügen und Hassreden torpediert wird, in der die Fronten zwischen den Lagern ohnehin verhärtet sind?
Die Parlamente bilden, wenn auch zeitverzögert, solche gesellschaftlichen Entwicklungen durchaus ab. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde die Wählerschaft durch die schrittweise Herabsetzung des Wahlalters (im Kaiserreich waren nur Männer ab 25 Jahren wahlberechtigt) und die Einführung des Frauenwahlrechts und Emanzipationsbestrebungen immer diverser.
Bei den Leerstellen, den unterrepräsentierten Bevölkerungsgruppen und Lebenswelten, die aus der Datenanalyse hervorgehen, zeigen sich Querverbindungen zu aktuellen politischen Debatten etwa in der Migrations- und Integrationspolitik.
Dahinter steht schlussendlich die große Frage, für wen der Bundestag Politik macht: Für die deutschen Staatsbürger oder für alle Menschen, die in Deutschland leben - und damit für alle, die potenziell von seinen Entscheidungen betroffen sind? Also: Wer ist das Volk und wie ist seine Vertretung - die ureigenste Aufgabe des Parlaments - zu verstehen?
"Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages (...) sind Vertreter des ganzen Volkes".
Artikel 38 des Grundgesetzes
Die Verfassung lässt sich so oder so interpretieren: Womöglich deutet der Begriff des “ganzen Volks” darauf hin, dass die Abgeordneten eben nicht die Interessen einzelner Gruppen im Blick haben sollen, sondern das große Ganze. Andererseits soll das Parlament eben genau der Ort sein, an dem ausgehandelt wird, was dieses große Ganze eigentlich ist. Die Funktion eines Parlaments, dessen Name von parler kommt, dem französischen Wort für reden, ist es nicht nur, über Gesetze zu entscheiden, sondern zunächst einmal, Debatten zu führen. Wäre es da nicht wichtig, möglichst unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen zu lassen? Und beispielsweise dafür zu sorgen, dass sich Menschen mit Behinderung in der Volksvertretung in ausreichender Anzahl Gehör verschaffen können?
„Es wurde immer die Erwartung an die Parlamente gestellt, dass sie ein Abbild der Gesellschaft sind“, sagt der Soziologe Heinrich Best, der parlamentarische Repräsentation international von der Mitte des 19. bis ins 21. Jahrhundert hinein untersucht hat. „Aber diese Erwartung ist nie erfüllt worden.“ Die Politikwissenschaft spricht von der deskriptiven Repräsentation, die das Parlament als ein verdichtetes Spiegelbild der Bevölkerung versteht: Die Abgeordneten sind eine Art repräsentative Stichprobe der Bürger.
Nur: Wie wichtig ist spiegelbildliche Repräsentation? Müssen etwa auch Linkshänder angemessen im Parlament vertreten sein, fragt die amerikanische Politikwissenschaftlerin Jane Mansbridge. Lesen Sie hier den Aufsatz "Should Blacks Represent Blacks and Women Represent Women?" von Jane MansbridgeUnd schreibtLesen Sie hier den Aufsatz "Should Blacks Represent Blacks and Women Represent Women?" von Jane Mansbridge: „Die Perspektiven und Interessen von Linkshändern sollten repräsentiert sein, wenn sie für eine Entscheidung von Belang sind.“
Weil unmöglich alle Minderheiten vertreten sein können, gibt es das Konzept der substantiellen Repräsentation, wonach nicht die Bürger selbst, sondern vor allem deren Interessen vertreten sein sollen. Die Logik: Nicht nur Frauen können sich für Frauen einsetzen, nicht nur Ostdeutsche denken an die Bedürfnisse der Menschen von Thüringen bis Vorpommern. Hinzu kommt, dass die Entscheidungen in modernen politischen Systemen in der Regel entlang der Parteilinien fallen. „Im Plenarsaal bleibt wenig Spielraum für individuelle Bewusstseinslagen, sodass es für das Abstimmungsverhalten kaum einen Unterschied macht, welchen Hintergrund eine Person hat“, sagt Best. Eine Lesen Sie hier die Studie im British Journal of Political Scienceempirische Studie über zwölf europäische LänderLesen Sie hier die Studie im British Journal of Political Science zeigt, dass die Präferenzen von Frauen generell schlechter vertreten werden als die von Männern, unabhängig davon, wie viele Frauen im Parlament sitzen.
Je mehr Diversität, desto besser
Wenn aber Abgeordnete ohne Fraktionszwang frei entscheiden können, wirken sich Merkmale wie Geschlecht und Religion auf das Abstimmungsergebnis aus. Ein solcher Fall war in Deutschland die Entscheidung über die Präimplantationsdiagnostik (PID) im Jahr 2011. Es ging um die Frage, ob in bestimmten Fällen Gentests an ungeborenen Kindern erlaubt werden sollen, um Erbkrankheiten zu erkennen. „Wir stellten fest, dass beispielsweise Mütter eher die liberale Initiative unterstützt haben im Vergleich zu anderen Abgeordneten“, sagt der Politikwissenschaftler Marc Debus von der Uni Mannheim, Lesen Sie hier die Studie in der Zeitschrift für Politikwissenschaftder den Fall mit Markus Baumann und Jochen Müller untersucht hatLesen Sie hier die Studie in der Zeitschrift für Politikwissenschaft. Katholiken hätten dagegen eher für eine Beibehaltung des Verbots der PID gestimmt. Beide Befunde galten auch, wenn die Forscher andere Einflussfaktoren wie Partei und regionale Herkunft herausrechneten.
Also je mehr Diversität, desto besser? „Tendenziell gibt es eine größere Übereinstimmung bei der Interessenvertretung, wenn es auch bei der Sozialstruktur eine Übereinstimmung gibt“, sagt Lars Vogel, Soziologe an der Uni Leipzig. In der Lesen Sie hier die Studie der Uni JenaJenaer ParlamentarierbefragungLesen Sie hier die Studie der Uni Jena hat er mit Best und anderen 2010 die Aussagen von 2000 Bürgern mit denen der repräsentativen Hälfte aller Abgeordneten auf Bundes- und Landesebene verglichen.
Auch empirische Untersuchungen zeigen, dass der persönliche Hintergrund der Abgeordneten besonders in Debatten eine Rolle spielt. Lesen Sie hier die Studie in Political Research QuarterlyEiner Studie aus dem Jahr 2014 zufolgeLesen Sie hier die Studie in Political Research Quarterly äußern sich Männer und Frauen im schwedischen Reichstag zu unterschiedlichen Themen: Frauen reden signifikant häufiger über Gesundheits- und Sozialthemen, während sich männliche Abgeordnete mehr mit Wirtschaft, Finanzen und Verkehr befassen.
Die Bedeutung des symbolischen Werts
Für den Wähler allerdings ist vermutlich etwas anderes entscheidender: eine psychologische Komponente, die die blinden Flecken der Repräsentation womöglich auch für die Demokratie brisant macht. Die Bürger wollen sich selbst im Parlament wiederfinden. „Selbst wenn Frauen nicht unbedingt Fraueninteressen vertreten oder Ostdeutsche die Interessen Ostdeutscher – es hat einen symbolischen Wert, wenn jemand mit diesem Geschlecht oder dieser Herkunft im Parlament oder in der Regierung sitzt“, sagt Demokratieforscher Vogel. Aus Lesen Sie hier die Studie im Journal of PoliticsUntersuchungen etwa von AfroamerikanernLesen Sie hier die Studie im Journal of Politics, Migranten und Ostdeutschen gebe es Hinweise, dass jemand aus der eigenen Gruppe vertrauenswürdiger und kompetenter wirke.
Für die „kleinen Leute“, die tatsächlich oder gefühlt „Abgehängten“, von denen mit dem Erstarken des Rechtspopulismus so häufig die Rede war, wiegt es dann umso schwerer, wenn Lesen Sie hier eine SZ-Datenanalyse nach der BundestagswahlJuristen und Lehrer die häufigsten BerufeLesen Sie hier eine SZ-Datenanalyse nach der Bundestagswahl sind und beispielsweise diejenigen mit einem niedrigen Bildungsabschluss im Parlament stark unterrepräsentiert sind. Nur neun Volksvertreter haben Haupt- oder Volksschulabschluss, in der Bevölkerung sind es mehr als ein Drittel. „Auch Menschen mit Haupt- oder Realschulabschluss bringen wichtige Erfahrungen mit – in einer Welt, die sich so rasch wandelt, brauchen wir auch diese Zugänge“, sagt die Soziologin Christiane Bender von der Bundeswehr-Uni in Hamburg.
Auch wenn von Abgeordneten natürlich ein gewisses Bildungsniveau erwartet wird – die Repräsentationslücke ist bei diesem Indikator besonders ausgeprägt. Ein Grund dafür ist das Rekrutierungssystem der Parteien: Im Wettbewerb um Positionen, aber auch um Wählerstimmen setzen sich tendenziell die Höhergebildeten, Besserverdienenden durch – sie sind es, die eher Zeit und Ressourcen für politisches Engagement haben und womöglich wortgewandter und medienbewusster sind. Mit einem offenen Rekrutierungsprozess verfestige sich dieses Schema bei den Parteien, sagt Vogel, weil bereits etablierte Gruppen dann auch die Nachrücker bestimmten und diejenigen förderten, die ihnen ähnlich seien.
„Im aktuellen System sind die Parteien die einzigen, die Diversität herstellen können“, sagt Thomas Saalfeld, Politikwissenschaftler an der Uni Bamberg. Manche Parteien reagieren, indem sie etwa Frauenquoten für ihre Listen aufstellen. Darüber hinaus mache das Wahlrecht einen Unterschied: So ermögliche es ein Verhältniswahlrecht, balancierte Listen aufzustellen, anders als beim Mehrheitswahlrecht, wo sich pro Wahlkreis nur ein Kandidat durchsetzen kann. Nach wie vor seien die Parteien aber zu oft der „Flaschenhals“ – die Soziologin Bender kritisiert, dass es beispielsweise der einstigen Arbeiterpartei SPD kaum mehr gelingt, kleinbürgerliche Milieus zu erreichen. „Die Parteien müssen auch dahin gehen, wo es nicht so sexy ist – in die sozial schwachen Stadtteile und in die Provinz und nicht nur zur sogenannten Elite nach Berlin Mitte.“
Diese Diskrepanzen spielen Rechtspopulisten in die Hände, die das Narrativ von „denen da oben“, von einer abgehobenen politischen Kaste in Berlin pflegen. „In weiten Teilen der Gesellschaft herrscht die Wahrnehmung vor, dass sich der politische Betrieb losgelöst von den Bedürfnissen der Gesellschaft vollzieht“, sagt Best. Das hat der AfD den Boden bereitet, zusammengenommen mit einer kritischen Bewertung der Migrationspolitik und einer ausgeprägten Skepsis gegenüber der repräsentativen Demokratie überhaupt. „Diese repräsentative Lücke war eine Marktlücke für die AfD“, sagt Best.
Eine uralte Methode könnte helfen
Es gibt eine radikale Lösung für das Problem der Repräsentation: Würden die Parlamente nicht gewählt, sondern per Los bestimmt, wären sie in ihrer Zusammensetzung der Bevölkerung sehr viel ähnlicher. Dafür würden allein schon die Gesetze der Statistik sorgen. Die Lesen Sie hier den Aufsatz von Bender und ihrem Kollegen Hans Graßl bei der Bundeszentrale für politische BildungSoziologie-Professorin Bender schlägt ein VerfahrenLesen Sie hier den Aufsatz von Bender und ihrem Kollegen Hans Graßl bei der Bundeszentrale für politische Bildung vor, demzufolge fünf Prozent der Sitze im Parlament mit Bürgern besetzt werden, die am Wahlabend ausgelost werden. Das sei eine uralte Methode, um Mandate unabhängig von der sozialen Stellung und dem politischen Einfluss zu verteilen. Und Bürger aus politikfernen Schichten könnten so einen Einblick in den Politikbetrieb gewinnen und diesem sogar neue Stimmen bringen, die vielleicht eher den Ton von Menschen treffen, die sich bereits von der Politik abgewandt haben.
Aber die Repräsentation ist nicht die einzige Aufgabe eines Parlaments. Es muss auch in der Lage sein, professionell zu arbeiten und effektiv Entscheidungen zu treffen. „Ein durch Zufall zusammengesetztes Parlament wäre nicht zu kontrollieren“, sagt Thomas Saalfeld. Mechanismen wie die Fraktionsdisziplin haben ihre Berechtigung. Das Streben nach Wiederwahl erzeugt einen Anreiz, Politik im Sinne der Wähler zu machen. „Eher vorstellbar wäre ein Begleitforum mit zufällig ausgewählten Mitgliedern“, sagt Saalfeld. „Eine Art zusätzliche Kammer mit beratender Funktion. Die dafür sorgt, dass in politischen Debatten alle Perspektiven abgebildet werden.“
Hinweis: In einer früheren Version des Artikels hatten wir die Zahl der Abgeordneten unter 30 Jahren etwas zu hoch angegeben.
Methodik: So sind wir zu den Ergebnissen gekommen
Wie ähnlich ist der Deutsche Bundestag der Bevölkerung? Das war die Ausgangsfrage eines Datenprojekts, bei dem Journalisten der Süddeutschen Zeitung einen Fragebogen an alle 709 Abgeordneten des 19. Bundestages per E-Mail verschickt haben. Zu Redaktionsschluss haben 280 Abgeordnete mitgemacht, das entspricht 40 Prozent. Die Verteilung über die sechs Fraktionen entspricht in etwa den tatsächlichen Sitzverhältnissen - ein Hinweis darauf, dass die Ergebnisse repräsentativ sind und sich näherungsweise auf den gesamten Bundestag hochrechnen lassen. Die Parlamentarier machten beispielsweise Angaben zu ihrer Lebenssituation, sexueller Identität, zu Auslandserfahrung, Ernährungsweise oder allgemeinen Lebenszufriedenheit. Weitere Informationen lassen sich aus Datensätzen herauslesen, die der Bundestag selbst veröffentlicht.
Diese Angaben vergleichen wir im zweiten Schritt mit der gesamten Bevölkerung. Die entsprechenden Daten kommen vor allem aus zwei Quellen: dem Statistischen Bundesamt und der Allbus-Umfrage. Das Statistische Bundesamt führt mit Hilfe des Mikrozensus Buch über die in Deutschland lebenden Personen. Dabei wird in regelmäßigen Abständen etwa ein Prozent der gesamten Bevölkerung befragt. Die Daten können Fragen beantworten wie: Wie viele haben einen Migrationshintergrund? Wie hoch ist der Anteil behinderter Menschen? Allbus steht für „Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften“ und wird vom Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften erhoben. Die etwa 2400 Befragten dieser Studie machen Angaben zum Beispiel zur Lebenszufriedenheit oder ihren Wohnverhältnissen.
Diese beiden Datenquellen - die Antworten der Abgeordneten und allgemeine Erhebungen - haben wir kombiniert und analysiert. So konnten wir mit Hilfe von Hochrechnungen feststellen, welche Bevölkerungsgruppen unter- und welche überrepräsentiert sind. Alle Diskrepanzen, die wir in dieser Geschichte benennen, sind signifikant. Das bedeutet: Die Wahrscheinlichkeit, dass es eine Abweichung nur in unserer Stichprobe gibt, nicht aber im ganzen Bundestag, ist geringer als ein Prozent. Teilweise gibt es einen Zusammenhang zwischen den Ergebnissen: Der geringe Anteil an Alleinstehenden im Parlament lässt sich etwa teilweise damit erklären, dass dort wenig sehr junge und sehr alte Menschen sitzen - die wiederum häufig noch keinen Partner haben oder bereits verwitwet sind.
Wir haben die Abgeordneten übrigens auch nach ihrem Lieblingslied gefragt. Es stellt sich heraus: Im Bundestag läuft Musik von Frank Sinatra, Queen, Deep Purple und Udo Jürgens. Alle Lieblingssongs des Parlaments finden Sie hier: