75 Jahre BRD

75 Jahre
Bundesrepublik

Das Grundgesetz hat Geburtstag. Wie hat sich das Land, wie haben sich seine Bewohner verändert? Wie steht es heute um die Verfassung und die darin festgeschriebenen Werte? Und was ist eigentlich noch typisch deutsch? Das fragt die SZ in einer Reihe von Geschichten. Die Übersicht.

1. Februar 2024

Ein Grund zum Feiern

Editorial von Judith Wittwer, Chefredakteurin

Die Bundesrepublik hat Geburtstag, diesmal einen besonderen. Am 23. Mai wird sie 75 Jahre alt, und mit ihr das Grundgesetz. In Berlin steigt aus diesem Anlass ein mehrtägiges „Fest für die Demokratie“, ein Mix aus Staatsakt und Volksparty. Dazu gibt es Bürgerdialoge mit dem Kanzler, der Bundestagspräsidentin und Ministern, die im Tipi-Zelt und auf Bühnen rund ums Kanzleramt und den Deutschen Bundestag empfangen. So viel Nähe war selten.

Nun sind Feiern, zumal Jubiläumsfeste, bekanntlich nie eine restlos heitere Angelegenheit. Sie wollen grundsätzlich Gutes, im besten Fall stärken sie den Zusammenhalt und die Gemeinschaft. Doch jede Geschichte hat ihre Brüche, im Leben von Menschen wie im Leben von Ländern. Manchmal fallen Jubiläen ausgerechnet in Zeiten, in denen man das Naturell eines gedankenverlorenen Grundschülers bräuchte, um ausgelassen feiern zu können.

Gerade ist wieder so eine Zeit. Die Bundesrepublik durchlebt schwierige Jahre. Viele Menschen in diesem Land sind ausgelaugt. Erschöpft von Pandemie, Kriegsdebatten und politischen Grabenkämpfen. Verängstigt durch die multiplen Dauerkrisen dieser Welt. Sie fühlen sich auch ungehört, schlecht vertreten. Sie hadern deshalb mit der deutschen Demokratie, obschon die ja als eine der stabilsten der Welt gilt. Das Vertrauen in den Rechtsstaat und in seine Institutionen schwindet. Und mit dem Vertrauen erodiert auch der Respekt vor dem politischen Personal.

Das Grundgesetz ist die antifaschistische Antwort auf die NS-Diktatur

Immer öfter kommt es vor, dass Politiker beleidigt, Wahlkämpfer beim Plakatieren beschimpft werden. Sogar körperliche Übergriffe gibt es, häufiger als früher. Besonders angespannt ist die Lage vor den kommenden Wahlen im Osten, doch die Stimmung im ganzen Land ist schlecht. Selbst ein beherzter Doppelwumms des Kanzlers würde wohl nicht reichen, um sie schnell wieder zu heben. Auseinandersetzungen werden auch in Berlin immer mehr auf Brechen statt auf Biegen geführt.

Was also gibt es da zu feiern?

Eine ganze Menge. Diese Bundesrepublik hat viel geschafft. Auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs ist ein Rechtsstaat entstanden, in dem die Stärke des Rechts immer größer ist als das Recht des Stärkeren. Das Grundgesetz ist die antifaschistische Antwort auf die NS-Diktatur, das solide Fundament der Republik, eine Garantie. Ein wuchtiges Manifest auch für den Frieden und die liberale Demokratie – seit diesem 23. Mai 1949.

Freiheiten sind keine „Privilegien“

Mit der Wiedervereinigung hat das Grundgesetz seinen provisorischen Charakter verloren. Leicht verständlich und bürgernah ist die Verfassung auch des wiedervereinigten Deutschlands geblieben. Freilich wurden nach der friedlichen Revolution von 1989 auch Chancen verpasst: So mangelte es nach dem Untergang der DDR vor allem im Westen an Reformbereitschaft, nicht nur verfassungsrechtlich. Die Politik achtete zu wenig auf die psychosozialen und kulturellen Facetten dieses Umbruchs. Das rächt sich bis heute: Der Rechtspopulismus sprießt auf dem Nährboden von Enttäuschung.

Zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes feiern wir auch die Beständigkeit der großen Grundrechte, die unantastbare Würde des Menschen, die Glaubensfreiheit, die freie Meinungsäußerung, die Versammlungsfreiheit. Wie wichtig ihre Garantie ist, zeigte die Pandemie, als es plötzlich fast schon selbstverständlich wurde, dass man vieles nicht mehr durfte. Freiheiten sind jedoch keine „Privilegien“, wie das manche Politiker damals sagten. In einer liberalen Demokratie sind Freiheiten der Normalzustand, verankert in der Verfassung.

In der Bundesrepublik steht auch jedem die Freiheit zu, sich auszuklinken und sich vor allem um sich selbst zu kümmern. Glücklicherweise fühlen sich aber noch immer sehr viele Menschen der Gesellschaft verpflichtet. Trotz Gehässigkeiten und trotz Anfeindungen nehmen sie politische Ämter an, unterstützen bedürftige Familien, ohne dafür bezahlt zu werden. Sie engagieren sich im Turnerbund, bei der freiwilligen Feuerwehr. Oder sie helfen bei der Integration von Geflüchteten. Eine große Stärke dieser Republik ist es doch, dass es in ihr viele Bürgerinnen und Bürger gibt, die mit ihrem Willen und ihrer Kraft das Gemeinsame mitgestalten.

Die Brüche? Die gehören nun mal zur Geschichte dazu

Deutschland hat sich immer wieder gewandelt, auch in den Jahren nach dem Mauerfall. Das Land gab sich eine alte, neue Hauptstadt, es bewältigte den Andrang von Flüchtlingen und Energiekrisen, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Und trotz aller Schwächen und Klagen war es Veränderungen gegenüber immer aufgeschlossener, als es sich selbst eingestehen mochte. Die Brüche? Die gehören nun mal zur Geschichte dazu. Sie schärfen die Identität. Am Ende ist dies ein Land, in dem man sich zu Hause fühlen kann.

Es ist also durchaus angebracht, diese BRD und ihr Grundgesetz zu feiern. Die SZ gratuliert der deutschen Republik mit diesem Schwerpunkt, in dem sich alle Ressorts Geschichte und Gegenwart dieser deutschen Demokratie widmen.

Diesen doppelten Geburtstag zu feiern, ist sogar richtig wichtig. Kurz vor der Europawahl im Juni sendet dieses Fest für die Demokratie auch ein Signal über Deutschland hinaus, an die ganze Welt. Eine Welt, in der Autokraten und Imperialisten die Demokratie herausfordern, sie als mindere Staatsform verhöhnen, ihr den Krieg erklären. Die Demokratie aber wird sich als überlegene Staatsform beweisen. Auf ein stolzes Jubiläum!

Projektteam
Redaktion Joachim Käppner, Katharina Riehl
Art Direction Lina Moreno, Christian Tönsmann
Bildredaktion Jörg Buschmann, Stefanie Preuin, Julia Hecht, Natalie Neomi Isser
Digitales Storytelling Lina Moreno, Christian Helten
Logo Steffen Mackert