Thelma von Freymann hat seit 60 Jahren ein SZ Abonnement – ohne Pause.

Im Gespräch erklärt sie, was sie an der Zeitung liebt, worüber sie sich ärgert und was sie für unabdingbar hält: einen weiten Horizont und einen kritischen Geist.

Interview mit einer Leserin

„Ich kann ja nicht vier Wochen ohne die ‚Süddeutsche‘ leben!“

2. Oktober 2025 | Lesezeit: 9 Min.

SZ: Frau von Freymann, Sie lesen seit 60 Jahren die Süddeutsche Zeitung. Wie hat das angefangen?

Thelma von Freymann: In meinem Elternhaus. In der Bibliothek im Hause lag jeden Morgen eine Latte von Zeitungen, die mein Vater las. Wir hatten eine schwedische Zeitung, eine finnische, Fachzeitschriften zum Thema Landwirtschaft und für meine Mutter einmal die Woche eine Damenzeitschrift aus Schweden. Wir hatten ein Radio, das wurde aber ausschließlich zum Nachrichtenhören benutzt. Fernsehen war noch gar nicht erfunden. Die Zeitung war das, wodurch man etwas über die Welt erfuhr.

Für Ihr Studium kamen Sie später nach München.

Ich kam 1965 nach München. Damals gab es ein Sonderangebot der SZ für Studenten zum Kennenlernen und ich dachte: Das probiere ich mal. So kam ich zur Süddeutschen und bin ein Leben lang dabeigeblieben.

Waren Sie nie untreu?

Es hat schon eine ganze Menge Gelegenheiten dazu gegeben, andere Zeitungen zu lesen, wenn ich zum Beispiel in Hotels war. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung ist eine Konkurrenz, die ich schon mal gelesen habe, aber der fehlt der Pfiff.

Das hören wir gern. Aber was meinen Sie genau damit?

Bei der Süddeutschen gibt es etliche Menschen, die Humor haben, die FAZ ist ein bisschen bierernst. Dazu kommt die Tatsache, dass sie Papier spart mit einer Schrift, die sich schlecht liest. Das war, als ich älter wurde, wirklich ein Argument gegen die FAZ. Dieses Augenpulver ist für einen älteren Menschen nichts. Ich habe natürlich auch eine Regionalzeitung, die muss man haben, weil man sonst nicht weiß, wo die Straßen gesperrt sind. Aber da lese ich den politischen Teil meist nicht.

Gibt es eine Geschichte aus der SZ, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Ja! Sie muss irgendwann in den Sechzigerjahren erschienen sein, in einem Winter, in dem es sehr viel Schnee gab. Das war eine Gerichtsreportage, und passiert war Folgendes: Herr Meier kommt morgens aus seiner Wohnung und stellt fest, dass sein Auto zugeschneit ist. Herr Meier schaufelt also sein Auto frei. Als er abends von der Arbeit zurückkommt, hat sein Nachbar, Herr Müller, sein Auto auf den freigeschaufelten Platz gestellt und weigert sich, ihn freizugeben. Als Herr Müller am nächsten Morgen wegfahren will, ist sein Auto bis übers Dach im Schnee vergraben worden! Also schaufelt er. Und als er sich umdreht, liegt Herr Meier mit den Unterarmen auf dem Fensterbrett und schaut ihm grinsend zu. Einer hat den anderen angezeigt, so kam das Ganze vor Gericht und in die Zeitung.

Das hört sich nach einer SZ-Geschichte an!

Erstens kann so etwas nur in Bayern passieren. Und zweitens hat es die Süddeutsche der Mühe wert befunden, das zu erzählen. Das ist jetzt so 60 Jahre her, und wir lachen immer noch darüber.

Wo informieren Sie sich noch, neben der SZ?

Ich habe kein Fernsehen, nie gehabt, nur einmal für ein Jahr probeweise. Ich habe mir seinerzeit eingebildet, Leute, die Fernsehen hatten, wären besser informiert als ich. Aber dann wurde mir klar: Ich bin viel besser informiert als die Fernseher, weil ich die Süddeutsche lese – und zwar wirklich. Das heißt, ich lese nicht nur die Überschriften. Ich lese vor allen Dingen die Hintergrundberichte und die Kommentare.

„Der Humor ist mir inzwischen oft etwas zu angestrengt“

Sie haben seit 60 Jahren ein Abo, haben Sie zwischendurch auch mal eine Pause gemacht?

Nie. Wenn ich nicht zu Hause bin, bestelle ich sie dahin, wo ich mich gerade aufhalte. Früher war ich jedes Jahr vier Wochen auf Kur im Odenwald, aber ich kann ja nicht vier Wochen ohne die Süddeutsche leben!

Was lesen Sie in der SZ? Alles?

Nein! Geben Sie mir bitte mal die Zeitung her. Schauen Sie, ich beginne von hinten: mit Wegwerfen! Einen Teil habe ich schon entsorgt, das war der Sport, der interessiert mich überhaupt nicht. Es geht dort immer nur darum, dass einer besser ist als der andere. Ich bin in Finnland auf dem Lande aufgewachsen in einer Horde von Kindern in ganz unterschiedlichem Alter. Wenn wir da Spiele gespielt hätten, bei denen es darauf angekommen wäre, wer besser ist als der andere, dann hätte das keinen Spaß gemacht, weil immer vorher schon festgestanden hätte, wer gewinnt: die großen Jungs.

Also kein Sport. Was dann?

Im Feuilleton lese ich immer die erste Seite. Außerdem oft die Rezensionen, um zu wissen, was ich nicht lesen muss. Am meisten interessiert mich aber das erste Buch, die Politik: die Seite 2, die Meinungsseite. Alles andere schaue ich durch und lese es, wenn es mich anspricht. Aber die Seite 2 und die Seite 4 lese ich immer, Seite 3 meistens.

Und die Seite 1? Lesen Sie das „Streiflicht“?

Früher ja, aber der Humor ist mir inzwischen oft etwas zu angestrengt. Der Verfasser weiß zu offensichtlich, dass er witzig sein muss.

Wie oft ärgern Sie sich über die SZ?

Selten, weil ich das, was mich ärgern würde, nicht lese oder sofort damit aufhöre.

Der SZ wird oft vorgeworfen, dass ihre Kommentierung erwartbar sei. Zu links, zu grün. Sehen Sie das auch so?

Nein, die SZ ist nicht einseitig, sie gibt unterschiedlichen Standpunkten Platz. Aber ich bin schon froh, dass es mit ihr eine große Zeitung in Deutschland gibt, die begriffen hat, was in Sachen Russland die Stunde geschlagen hat.

Eine politische Linie nehmen Sie also schon wahr?

Ja. Früher war die SZ nicht unfreundlich gegenüber der Bundeswehr, aber es stand sehr wenig darüber drin. Dass sie hier plötzlich eine radikale Kehre gemacht hat, das habe ich schon registriert. Und ich gehöre zu denen, die gesagt haben: Gott sei’s getrommelt und gepfiffen. Gerade weil die Süddeutsche nicht als rechts gilt, sondern als Mitte oder ein bisschen links von der Mitte. Ich komme ja aus Finnland, das ist bis 1917 über 100 Jahre lang russisch gewesen. Wir und die Balten, wir wissen Bescheid. Als der Ukraine-Krieg losging, hat Kaja Kallas voller Bitterkeit gesagt: Sie hätte das ja schon immer gesagt, aber keiner hätte auf sie gehört.

Gibt es nicht unterschiedliche Meinungen zum Krieg in der Zeitung?

Ja, wenn ich lese, dass man das Geld nicht für die Bundeswehr, sondern lieber für Kultur und Soziales ausgeben sollte, dann kann mich das aufregen. Kultur und Soziales sind mir wichtig, aber wenn uns die Russen überrennen, hilft uns Kultur und Soziales nicht. Ich gehöre also zu denen, die der SZ wirklich dankbar sind ... (weint) ..., dass sie dem Ernst der Lage Rechnung trägt und die Bundeswehr meist positiv sieht.

Gab es mal eine Phase, in der die SZ-Kommentare aus Ihrer Sicht weitgehend falschlagen?

Ja, das war 2015 und 2016, als die Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Damals hat die Süddeutsche Angela Merkels Entscheidung, die Mengen an Menschen ins Land zu lassen, sehr begrüßt. Das war beinahe euphorisch und sehr moralisch, man wähnte sich auf der richtigen Seite. Ich fand das ziemlich naiv. Ich habe selbst einen Migrationshintergrund, ich stamme aus Finnland. Ich weiß, wie kompliziert Integration ist! Und ich habe mir 2015 sofort große Sorgen gemacht, ob die Gesellschaft das aushalten kann. Man sieht an dem Erfolg der extremen Parteien, wie schwierig das ist.

Sie ärgern sich auch heute öfter einmal beim Lesen. Sie sind jedenfalls eine unserer fleißigsten Leserbriefschreiberinnen.

Früher hatte ich nicht so viel Zeit, da habe ich nur gelegentlich mal einen Brief geschrieben.

„Es gibt Kollegen bei Ihnen, zu denen habe ich eine Art Brieffreundschaft“

Heute schreiben Sie uns manchmal mehrmals die Woche.

Ja, das ist eine systematische Beschäftigung, weil es meine einzige Möglichkeit ist, mich in den öffentlichen Diskurs einzubringen. Ich bin so schwerhörig, dass ich keinem Vortrag, keiner Diskussion mehr folgen kann, ich kann nirgends mehr unter vielen Menschen mitreden. Also schaue ich jeden Tag in die SZ, ob es ein Thema gibt, zu dem ich etwas sagen kann, das sachlich genug Gewicht hat, um die Zeit eines Redakteurs in Anspruch zu nehmen, der das lesen soll.

Welche Erfahrung machen Sie als Leserbriefschreiberin?

Wenn man Briefe schreibt, in denen wirklich etwas drinsteht, dann werden die offenbar wirklich gelesen. Einmal erlebte ich einen Triumph: Ich habe zu einer Sache einen sehr pointierten, ironischen Leserbrief geschrieben und bald darauf fand ich genau meine Worte in einem Beitrag eines Redakteurs. Der hatte meinen Brief gelesen und das, was ich sagte, wirklich aufgenommen! Geantwortet hat er aber nicht.

Eigentlich hat der Kollege ja Ihre Formulierung gestohlen!

Ach nein, ich fand das großartig. Es gibt auch Kollegen bei Ihnen in der Redaktion, zu denen habe ich eine Art Brieffreundschaft. Meistens bekomme ich aber keine Antwort, das erwarte ich auch nicht. Wenn Redakteure auf jeden Leser antworten würden, hätten sie keine Zeit, neue Beiträge zu schreiben.

Sie waren erst Lehrerin, dann in einem Schulbuchverlag und später an der Hochschule. Wären Sie vielleicht auch gern Journalistin geworden?

Journalistin? Nein, da ist man vermutlich ständig gehetzt. Ein Beruf, der einen zwingt, schneller zu arbeiten, als man es eigentlich gut machen kann, das hätte ich nicht lange ausgehalten.

Wie hat sich die Süddeutsche aus Ihrer Sicht in 60 Jahren verändert? War sie früher besser oder ist sie es heute?

Für mich ist die Süddeutsche so gut geblieben, wie sie immer war. Der ganze zusätzliche Quatsch, der im Laufe der Jahre dazukam, den braucht es für mich nicht. Aber das macht nichts, den tue ich halt ins Altpapier. Vollkommen überflüssig sind für mich Interviews mit irgendwelchen Pop-Leuten oder die Leute-Spalte: Irgendjemand kriegt ein Kind, irgendjemand lässt sich scheiden, da weiß ich meist gar nicht, wer das ist. Aber ich bin 93, ich bin überhaupt kein Maßstab, die Welt besteht nicht aus Fossilien wie mir. Und es gibt viele Leute, die wollen unterhalten werden. Ich brauche keine Unterhaltung.

Heute schreiben viel mehr Frauen als früher in der Süddeutschen. Fällt Ihnen das auf oder ist Ihnen das ganz egal?

Aufgefallen ist es mir schon. Als damals die Debatte darüber losging, dass es zu wenig Frauen in den Medien gebe, da habe ich mal das Impressum angeschaut und festgestellt: Keine einzige Frau. Da dachte ich: Oh, das geht aber nicht. Jetzt ist das anders. Da gibt es auf der Meinungsseite ein paar tolle junge Kolleginnen, die die Dinge sehr gut auf den Punkt bringen. Viel mehr Frauen schreiben als früher. Ich kann aber nicht behaupten, dass ich an der Qualität der Texte erkennen könnte, ob das ein Mann oder eine Frau geschrieben hat. Wenn es nicht ganz spezielle Themen sind, finde ich es eigentlich egal. Sache ist Sache.

Sie haben uns geschrieben, dass Sie vor einigen Monaten Ihrer Nichte ein SZ-Abo geschenkt haben. Machen Sie sich Sorgen, dass die Jüngeren nicht mehr Zeitung lesen?

Ja. Ich besitze kein Smartphone. Aber man sieht ja, wie viel Zeit Jugendliche und auch Ältere damit verbringen. Das finde ich beängstigend. Weil es die kommunikativen Fähigkeiten verkümmern lässt.

Die SZ ist natürlich auch längst im Internet und in den sozialen Medien. Ist das richtig?

Das fragen Sie mich? Ich weiß mit dem Computer gar nicht umzugehen, ich kann E-Mails schreiben, viel mehr nicht. Ich bin Jahrgang 1932! Aber dass auch die Süddeutsche Leser gewinnen muss unter den jüngeren Menschen, das ist klar. Sonst geht sie ein. Dass also dieser Unterhaltungsquatsch sein muss, das sehe ich ein.

Was sollte Ihre Nichte beim Lesen der SZ lernen?

Ich möchte, dass sie merkt, wie viel besser es einem selbst geht, wenn man einen weiten Horizont und einen kritischen Geist hat. Dann fallen einem die Ereignisse nicht wie Steine auf den Kopf, sondern man sieht Zusammenhänge. Und man kann, wenn der Kuwait-Krieg ausbricht, den anderen sagen: Leute, das ist nicht der Dritte Weltkrieg, das wird in einer Woche vorbei sein. Und sie bestätigt zu meiner Freude, dass sie schon jetzt merkt: Dass sie nun täglich die SZ liest, macht etwas aus!

Sie haben studiert und Ihr Leben lang gearbeitet. Untypisch für eine Frau Ihrer Generation.

In Finnland nicht. Alle meine Tanten, in den 1880er-Jahren geboren, hatten studiert. In Deutschland war das anders, da durften viele nicht einmal Abitur machen. Wobei es in meinem Studium auf Lehramt auch hier schon viele Frauen gab. Dass ich mein Leben lang gearbeitet habe, liegt aber auch daran, dass ich ledig geblieben bin.

Dafür war mehr Zeit zum Lesen!

Ja, und für mich passte die SZ einfach sehr gut. Dieses Spritzige, was sie hat, das hat die FAZ nicht. Die Welt ist mir zu konservativ. Dann lese ich noch Die Zeit, die ist als Wochenzeitung ganz anders, die Artikel sind länger. Das Niveau ist das gleiche wie das der SZ, aber was der Zeit fehlt, ist der Humor.

Interview: Katharina Riehl, Lisa Nienhaus; Fotos: Friedrich Bungert; Digitales Storytelling: Leonard Scharfenberg

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