Russland

Ein Zirkus wie eine Zuckerdose

Moskau soll einen neuen Staatszirkus bekommen, doch die Pläne für das Gebäude fallen bei vielen Bürgerinnen und Bürgern durch. Zu kitschig, zu protzig, ein architektonischer Albtraum. Die Lästereien sind ungewohnt offen. Und siehe da: Die Proteste werden erhört.

Russland

Ein Zirkus wie eine Zuckerdose

Moskau soll einen neuen Staatszirkus bekommen, doch die Pläne für das Gebäude fallen bei vielen Bürgerinnen und Bürgern durch. Zu kitschig, zu protzig, ein architektonischer Albtraum. Die Lästereien sind ungewohnt offen. Und siehe da: Die Proteste werden erhört.

31. März 2025 | Lesezeit: 5 Min.

Ein großer Zirkus ist das in Moskau. Und noch steht das Gebäude. Ekaterina Mozhaeva erinnert sich, 3400 Menschen, und alle sahen sie an. Wie sie in der Luft ihre Hose verlor, auf dem Flugtrapez war das, und die Zuschauer lachten und vergaßen das Drumherum, so eine Clownsnummer ist ja immer auch ein großes Ablenkungsmanöver. „Der Clown verschafft etwas Atempause“, sagt die Russin am Telefon.

Mozhaeva ist in ihrer Heimat bekannt als Clownin Antoschka, mit roten, wuscheligen Haaren und Sommersprossen. 25 Jahre lang hat sie beim russischen Staatszirkus gearbeitet. Wenn alle noch auf sie schauten, warteten hinter den Kulissen schon die Pferde oder Bären oder andere Künstler, wurde die austauschbare Manege vorbereitet für die nächste Nummer. Im Großen Moskauer Staatszirkus geht das besonders gut.

Ekaterina Mozhaeva alias Clownin Antoschka ist in den Achtzigerjahren im Großen Moskauer Staatszirkus aufgetreten.
Ekaterina Mozhaeva alias Clownin Antoschka ist in den Achtzigerjahren im Großen Moskauer Staatszirkus aufgetreten.

Als das Zirkusgebäude 1971 im Stil der sozialistischen Moderne eröffnet wurde, am Prospekt Wernadskowo im Moskauer Südwesten, ganz nah an der Lomonossow-Universität, galt es als ein technisches Kunstwerk. Für Zirkusverhältnisse geradezu monumental: 31 Meter hoch, Tausende Sitzplätze, fünf austauschbare Manegen. Für den sowjetischen Staats- und Parteichef Leonid Breschnew gab es einen eigenen Lift, der ihn von der Tiefgarage direkt in die Regierungsloge hob.

Ekaterina Mozhaeva ist in dem Zirkus aufgetreten. Das war noch Sowjetunion damals, Achtzigerjahre, lange her. Sie tanzte, machte Akrobatik, und sie fischte, wenn die Manege zu einem Wasserbecken wurde, mit einem Podium in der Mitte wie eine kleine Insel. Auch in eine Eisfläche ließ sich die Manege verwandeln. „Solche technischen Möglichkeiten gab es sonst nur im Berliner Friedrichstadtpalast“, sagt sie. Ekaterina Mozhaeva ist jetzt 70, als Antoschka tritt sie immer noch auf. Eine Nummer kleiner inzwischen, in Deutschland, Nordrhein-Westfalen, seit den 90er-Jahren lebt sie dort.

Mozhaeva hat über Whatsapp ein Foto von sich aus einem Buch geschickt. Sie trägt darauf ein langes weißes ärmelloses Sommerkleid, ein riesiger braun-weißer Hund steht auf zwei Beinen und umarmt sie wie eine lieb gewordene Freundin. Das Foto ist auf dem Moskauer Boulevard direkt am Zirkus entstanden. Wer in Moskau lebt, kennt das Gebäude, die kreisrunde gläserne Fassade, den flachen, gewellten Aufsatz, der das schwere Kuppeldach trägt.

Eines der prägenden Symbole der Sowjetarchitektur: das alte Zirkusgebäude am Prospekt Wernenskowo.
Eines der prägenden Symbole der Sowjetarchitektur: das alte Zirkusgebäude am Prospekt Wernenskowo.

Das Zirkusgebäude am Prospekt Wernadskowo gilt in Moskau als eines der prägenden Symbole der Sowjetarchitektur. Aber es droht ihm der Abriss. Denn mitten im Krieg will Moskau seine Einwohner mit einem riesigen neuen Zirkusbau beschenken. Oberbürgermeister Sergej Sobjanin hat Anfang Februar die Pläne für das Gebäude vorgestellt. Noch in diesem Jahr soll der Bau beginnen.

 Offensichtlich will Moskau zeigen, dass es in schwierigen Zeiten der Kriegswirtschaft, vieler Toter und Ängste in der Gesellschaft in der Lage ist, ein neues, glanzvolles Symbol zu schaffen. Das Land sucht Ablenkung für die Menschen.

Sehr viel größer soll das neue Zirkusgebäude werden, mit 5000 Sitzplätzen, obwohl der bisherige Zirkus nicht als zu klein gilt. Und mit einer Gesamtfläche von 80 000 Quadratmetern. Das bisherige Gebäude sei veraltet, bei warmem Wetter stickig. Komfortabler sollten die Bedingungen für Zuschauer und Tiere werden, erklärte der Bürgermeister bei der Präsentation. Architektonischer Höhepunkt: ein Wasserfall von der Kuppel aus. Der Komplex werde sich „organisch in die umgebende Landschaft und Bebauung einfügen“. Ein Lifestyle-Treffpunkt solle er werden, wo die Menschen den ganzen Tag verbringen können.

Aber das Projekt ist umstritten.

Kunterbunt wie in Disneyland: Computeranimation des neuen Moskauer Staatszirkus in der Ursprungsversion.
Kunterbunt wie in Disneyland: Computeranimation des neuen Moskauer Staatszirkus in der Ursprungsversion.

Laut den vorgestellten Plänen sollte der Zirkus einen flachen länglichen Anbau mit abgerundeten Enden bekommen, der viele Russen an ein Wurstbrötchen erinnert.

Das geplante kreisrunde Hauptgebäude ist beinahe orientalisch: mit einem leuchtenden bunten Ornamentband als Fassade. Oben verjüngt es sich zu einer Art Zipfel. Kitschig, finden viele Moskauer.

Laut den vorgestellten Plänen sollte der Zirkus einen flachen länglichen Anbau mit abgerundeten Enden bekommen, der viele Russen an ein Wurstbrötchen erinnert.

Kunterbunt wie in Disneyland: Computeranimation des neuen Moskauer Staatszirkus in der Ursprungsversion.
Kunterbunt wie in Disneyland: Computeranimation des neuen Moskauer Staatszirkus in der Ursprungsversion.

Das geplante kreisrunde Hauptgebäude ist beinahe orientalisch: mit einem leuchtenden bunten Ornamentband als Fassade. Oben verjüngt es sich zu einer Art Zipfel. Kitschig, finden viele Moskauer.

Wie in den Neunziger- und Nullerjahren, als gebaut wurde, wie es den Reichen gefiel. Kunterbunt wie in Disneyland, prunkvoll, eklektizistisch.

Die unabhängige Online-Zeitung Meduza sammelte ein paar der Begriffe, mit denen in Russland das künftige Zirkus-Ensemble verglichen wird: „Teehaus mit Musiklautsprecher“, „deutsche Pickelhaube aus der Kaiserzeit“, „Porzellandeckel für eine Zuckerdose“. Oder Monomachs Mütze, das edelsteinbesetzte Machtsymbol Moskauer Großfürsten und der frühen russischen Zaren. Auch dieser Vergleich fiel: die Karikatur eines riesigen Chinkali, der in Russland geliebten georgischen Teigtasche. In der Moskauer Stadtzeitung msk1.ru schreibt ein Leser: „Was für ein Albtraum! Warum fragt niemand die Moskauer, ob sie diese Art von Architektur in ihrer Stadt sehen wollen?“

Auch russische Architekturkritiker und Denkmalpfleger waren entsetzt. Und überzeugt, dass die Pläne für den kolossalen Neubau zugleich den Abriss des alten Zirkusgebäudes bedeuten. Rustam Rachmatullin, der sich in Moskau mit seiner Bewegung Archnadsor für den Erhalt historischer Gebäude einsetzt, sagte der Stadtzeitung über den neuen Zirkus: „Meiner Meinung nach verzerrt dies das Erscheinungsbild des Ortes völlig, der spätstalinistische Architektur, angeführt vom Hochhaus der Moskauer Staatsuniversität, und Architektur der Nachkriegsmoderne miteinander vereint.“

Meduza berichtete, dass fast alle Forscher und Architekturhistoriker sich gegen einen Abriss und einen Neubau an gleicher Stelle ausgesprochen hätten. Selten wurde in jüngerer Vergangenheit über ein öffentliches Projekt so kritisch geredet.

Ein neuer Entwurf, ohne Wurstbrötchen-Anbau

Seit Beginn des umfangreichen Einmarsches in der Ukraine sind die Repressionen in Russland gegen die Bevölkerung deutlich verschärft worden. Offene politische Kritik ist tabu. Was den Menschen noch bleibt, wenn sich Wut gegen den Staat aufstaut, ist eine Art Ersatzprotest, Kritik an völlig unpolitischen Dingen. Hauptsache raus mit dem Unmut.

Nicht zu belegen ist deshalb, ob auch die lebhafte Debatte und die süffisanten Kommentare über den Zirkusneubau diesen Zweck haben. Die erste öffentliche Kritik an den Plänen war jedenfalls so deutlich, dass Bürgermeister Sobjanin die Moskauer bei einem Projekt mit dem Namen „Aktiver Bürger“ mitreden ließ über den Zirkus. Und: „Die Proteste der Moskauer wurden erhört“, berichtete Anfang März die Internetzeitung Moslenta.

Die Stadtbehörden haben entschieden, dass das neue Zirkusgebäude nicht am Prospekt Wernadskowo, sondern an einem anderen Ort im Nordwesten der russischen Hauptstadt entstehen wird. 

Im Namen des Volkes: Der überarbeitete Entwurf ist etwas weniger wurstbrötchenhaft als die erste Variante.
Im Namen des Volkes: Der überarbeitete Entwurf ist etwas weniger wurstbrötchenhaft als die erste Variante.
Und in der neuen Animation ist der als Wurstbrötchen verschmähte Anbau gar nicht mehr zu sehen oder stark verändert.
Im Namen des Volkes: Der überarbeitete Entwurf ist etwas weniger wurstbrötchenhaft als die erste Variante.
Im Namen des Volkes: Der überarbeitete Entwurf ist etwas weniger wurstbrötchenhaft als die erste Variante.
Und in der neuen Animation ist der als Wurstbrötchen verschmähte Anbau gar nicht mehr zu sehen oder stark verändert.
Im Namen des Volkes: Der überarbeitete Entwurf ist etwas weniger wurstbrötchenhaft als die erste Variante.
Im Namen des Volkes: Der überarbeitete Entwurf ist etwas weniger wurstbrötchenhaft als die erste Variante.

Mehr als 250 000 Menschen hätten sich an der Abstimmung beteiligt, die meisten wollen demnach einen neuen modernen Zirkus, aber deutlich weniger wollen ihn am bisherigen Platz. Der bisherige Zirkus werde während der Bauphase weiterhin gebraucht, sagte Sobjanin nun. Wie es danach mit dem traditionsreichen alten Zirkusgebäude weitergehen wird, sei noch nicht entschieden.

Ekaterina Mozhaeva, Clownin Antoschka, sagt am Telefon, eigentlich sei ihr zwar schon das bisherige Gebäude zu groß gewesen, denn Zirkus sei etwas Intimes. „Aber es hat wenigstens Stil.“ Die Pariser Kathedrale Notre-Dame sei ja auch nicht abgerissen, sondern rekonstruiert worden. Vielleicht setzen die Behörden auf eine glanzvolle Neueröffnung des neuen Zirkus – und dass den alten danach kaum jemand vermissen wird.

Text: Frank Nienhuysen; Redaktion und digitales Storytelling: Nadeschda Scharfenberg; Bildredaktion: Christine Kokot; Schlussredaktion: Claudia Frenzel

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