Zackbummboing  

Gibt es ein besseres Lockdown-Hobby, als Apparate zu bauen, die einfache Dinge unnötig verkomplizieren? Über die Faszination sinnloser Kettenreaktionen. 

Von Moritz Geier (Text), Lea Gardner (Animation) und Stefan Kloiber (Entwicklung)

6 Min. Lesezeit

Jennifer George kann das weltweit gestiegene Interesse an ihrem Großvater Rube Goldberg in einer einzigen Zahl erfassen. Suchanfragen, Zugriffe auf ihre Website, all diese Dinge haben zugenommen um exakt 13 Prozent, seitdem die Pandemie ausgebrochen ist, increased traffic, heißt das im Internet, wo Aufmerksamkeit die wichtigste Währung ist. Genau deshalb kennt Jennifer George auch diese Zahl. Die PR-Firma eines interessierten Sponsors hat sie ausgerechnet.

Was für eine Kettenreaktion! Eine Pandemie sperrt die Menschen zu Hause ein, die Menschen suchen nach Beschäftigung, ihre Langeweile bringt sie zu Rube Goldberg, Rube Goldberg wird gegoogelt – und schon sind die Sponsoren da.

Ganz sicher: Rube Goldberg hätte herzlich darüber gelacht.

Kettenreaktionen waren nämlich genau sein Ding, je absurder, desto besser. Reuben Lucius Goldberg, geboren 1883 in San Francisco, war ein US-amerikanischer Karikaturist und Erfinder komplexer Nonsensmaschinen, Maschinen genauer, die eine einfach Aufgabe auf eine möglichst umständliche Weise ausführen. Man muss seinen Namen nur mal bei Youtube eingeben, um sein Vermächtnis zu erblicken: zahllose Videos selbstgebauter Apparate, die Menschen nach ihm benannt haben, Murmeln, die rollen und Ventilatoren anknipsen, Zugluft, die Propeller in Bewegung setzt, Pendel, Hebelwirkungen, Dominos, zackbummboing.

Rube-Goldberg-Maschinen, das zeigt sich gerade, sind großartige Lockdownlangeweilevertreibmaschinen, kein Wunder also, dass die Welt diesen 1970 gestorbenen Mann noch mal neu kennenlernt. Und ein bisschen fühlt sich das Leben dieser Tage ja auch an, als säße man im Maschinenraum eines endlos rumpelnden Nonsensapparats.

Wer war dieser Rube Goldberg, Frau George?

Jennifer George sitzt vor dem Bildschirm, Zoom-Gespräch, man blickt in ihr Wohnzimmer wie in ein volles Aquarium: Möbel schwimmen herum, Lampen, Kerzenständer, allerlei Zeugs. Manhattan halt, wenig Platz. Jennifer George ist eigentlich Schmuckdesignerin, aber hauptberuflich ist sie mittlerweile doch eher so etwas wie die Nachlassverwalterin ihres Großvaters. 

Sie erinnert sich noch gut an ihn, obwohl sie damals noch ein Kind war. Aber wie könnte man einen Mann vergessen, der auch zu Hause stets Fliege trug, die Zigarre im Mund, und der aus Servietten Kaninchen falten konnte, die er dann zu ihr sprechen ließ? Und jetzt, sagt sie, sei dieser Rube Goldberg „bekannter als zu seiner Schaffenszeit und weltweit beliebt“.

Goldberg hatte Ingenieurswissenschaften studiert, aber weil ihm das Zeichnen mehr Spaß machte als sein Ingenieursjob bei der Stadt San Francisco, zog er nach New York und arbeitete als Karikaturist für Zeitungen. Landesweit bekannt wurden seine Comics über Professor Lucifer Gorgonzola Butts, die er von 1929 bis 1931 im Collier’s Weekly veröffentlichte. Dieser Professor baute Maschinen wie den automatischen Rückenkratzer.

Funktioniert so: Die Flamme einer Öllampe entzündet den Fenstervorhang, woraufhin die Feuerwehr einen Strahl Wasser ins Zimmer schickt. Dadurch, völlig klar, greift ein im Zimmer sitzender Zwerg nach dem über ihm hängenden Regenschirm, der an eine Kettenreaktionsvorrichtung befestigt ist, an deren Ende ein Hammer ein Glas zerschlägt. Der Knall wiederum weckt einen Welpen, der schreit, woraufhin seine Mutter dessen Wiege sanft schaukelt. Folglich bewegt sich eine an der Wiege befestigte hölzerne Hand und kratzt einem den Rücken. Logisch, oder?

Die Zeichnungen seien nicht nur Parodien von Maschinen, hätten die Leute damals nicht nur amüsiert, sagt Jennifer George, sondern auch in Staunen versetzt, zum Nachdenken gebracht. Eine Vorrichtung, die den Rücken automatisch massiert, die Garagentür schließt oder ein einfaches Selfie ermöglicht – all das gab es ja noch nicht. „Niemand konnte sich vorstellen, wie man solche wundersamen Maschinen wirklich bauen könnte.“

Heute schießt man das Selfie mit dem Smartphone, aber wie dieses Gerät funktioniert, was es alles hört und ohne unser Wissen tut – wer weiß das schon? Vielleicht ist das auch ein Grund, warum Rube-Goldberg-Maschinen die Menschen noch immer faszinieren. Weil man sie als Kettenreaktion simpler Energieübertragungen begreifen kann. Weil man sie verstehen und auch belächeln kann: die gläserne Maschine.

Seit einigen Jahren organisiert Jennifer George eigene Rube-Goldberg-Wettbewerbe, wegen Corona rief sie im vergangenen Jahr einen Video-Contest ins Leben. Aufgabe: eine Maschine bauen, die einem ein Stück Seife in die Hände fallen lässt. Fast 500 Einsendungen bekam sie, aus zwölf Ländern.

Zum Beispiel von Sev Tay aus Holzgerlingen bei Stuttgart. Sev Tay ist zwölf Jahre alt, US-Amerikaner und heißt eigentlich Francis, sagt er, aber alle nennen ihn Sev, weil er der mittlerweile siebte Francis der Familiengeschichte ist. Seine Rube-Goldberg-Maschine hat er ganz ohne Francis gebaut, also ohne Hilfe seines Vaters (der ist Bauingenieur bei der Navy).

Drei Tage habe er gewerkelt, erzählt Sev Tay im Videochat, neben ihm hören Mutter und Hauskatze zu. „Eine Maschine zu bauen, die eine unnütze Aufgabe erfüllt, das vergeudet viel Zeit“, sagt er und meint das ausschließlich positiv. Was gibt es Besseres, wenn man im Lockdown festsitzt?

Benutzt hat er nur Gegenstände, die er im Haus fand: Spielzeugautos, Lego, Bälle, Schnüre und Bücher. Als am Ende alles funktionierte, sei das awesome gewesen, der Weg dorthin war schließlich nicht so leicht. Kann schon mal frustrierend sein, das endlose Tüfteln.

Jennifer George organisiert nicht nur Wettbewerbe, sie besucht auch Schulklassen, um Kinder über die Erfindungen ihres Großvaters für Technik und Mechanik zu begeistern. „Wissenschaft, Mathe, Physik, Chemie, Maschinenbau – es steckt ja alles drin in der Erfahrung einer Rube-Goldberg-Maschine“, sagt sie. Um ihre Bildungsarbeit zu finanzieren, verkauft sie als Leiterin der Rube Goldberg Inc. Bücher und Fanartikel.

Und Fans gibt es tatsächlich: Der Name ihres Großvaters ist in Amerika sprichwörtlich zum Ausdruck für etwas grotesk Komplexes geworden, das Adjektiv Goldbergian hat sogar einen eigenen Eintrag im US-Wörterbuch Merriam-Webster bekommen.

Von den 1930er-Jahren an zeichnete Goldberg auch politische Cartoons, seine Karikatur „Peace Today“ aus dem Jahr 1947 war eine Warnung vor der atomaren Aufrüstung und ihren Folgen. Für sie gewann er den Pulitzer-Preis.

Über etwas anderes, erinnert sich Jennifer George, sprach ihr Großvater dagegen nur ungern: den Hass, den Antisemitismus, die Drohungen. Einmal habe ein Leser einen seiner Anti-Hitler-Cartoons zurückgeschickt, beschmiert mit Exkrementen. Bevor sein Sohn George aufs College ging, riet Goldberg ihm, seinen Namen zu ändern. Sicher ist sicher. George nannte sich George George.

Seine Tochter muss jetzt los, kurz nach dem Zoom-Gespräch hat sie noch weitere Termine: Vor zwei Schulklassen spricht sie über ihren Großvater, darüber, wie man eine richtige Rube-Goldberg-Maschine baut (überraschende Energieübertragungen, bitte!). Vielleicht auch darüber, wie Rube Goldberg Eingang in die Populärkultur gefunden hat, dass nach ihm benannte Maschinen in Filmen („Pee-Wee’s irre Abenteuer“) vorkommen und in Werbespots („OK Go“).

Sev Tay, der junge Amerikaner aus Holzgerlingen, will später übrigens mal Astronaut werden oder Ingenieur bei der Nasa. Und die Murmel rollt schon. Der Weg zum Wunschberuf, zackbummboing, ist ja letztlich auch nichts anderes als eine Kettenreaktion.