Schritt für Schritt tasten sich die 18 Rettungstaucher vor. Ein Seil gibt ihnen etwas Sicherheit. An dieser Stelle ist die Tham-Luang-Höhle hoch genug, dass sie aufrecht stehen können, noch müssen sie nicht tauchen. Es ist noch ein weiter Weg bis zu den zwölf Jungen und ihrem Trainer, die sie nun endlich, nach mehr als zwei Wochen, befreien wollen.
Sie sind diesen lebensgefährlichen Weg schon viele Male gegangen, geklettert und getaucht. Sie haben tagelang alle Optionen und Risiken abgewogen. Und seit zwei Tagen arbeiten sie in dem Wissen, dass einer ihrer Kollegen, Samarn Kunan, in den gefährlichen Gängen der Höhle gestorben ist.
Jetzt aber drängt die Zeit. Es ist Monsunzeit hier im Norden Thailands.

Meteorologen sagen für die kommenden Tage starken Regen voraus und in der Höhle wird der Sauerstoff knapp. Deshalb sollen jetzt die ersten Jungen aus der Höhle befreit werden.
Von all dem bekommen die Eltern, Geschwister und Freunde der Kinder, die in einem Camp 200 Meter vor der Höhle warten, wenig mit - die thailändischen Behörden haben den Bereich um den Eingang zur Höhle weiträumig abgesperrt.
Yod Khanthawong, 24, hat wenig geschlafen. Ein paar Stunden nur in ihrem Haus, dann setzt sie sich wieder vor ihre kleine Buddha-Figur, schließt die Augen und betet. Denn in der Höhle ist auch ihr Neffe: Titan.
Alle Eltern in Thailand geben ihren Kindern Spitznamen, Titan heißt eigentlich Chanin Wiboonrungrueng. Titan klingt nach Kraft und die wird der Junge jetzt brauchen. Er ist der Jüngste in der Höhle, er ist erst elf Jahre alt.

Für seinen kleinen Bruder Toto ist Titan ein Held. Weil er schon elf ist und ein Fahrrad besitzt und außerdem in einer richtigen Fußballmannschaft spielt. Sie nennen sich Moo Pah, "Die Wildschweine." Für die will Toto später auch mal spielen.
Toto hat viel geweint, fragt jeden Tag nach seinem Bruder, aber die Erwachsenen erzählen ihm nicht viel, sie wollen das von ihm fernhalten, ihn vor der Angst schützen, die schon den Erwachsenen so sehr zusetzt. Doch Toto ist schon alt genug, um das zu spüren, SZ-Korrespondent Arne Perras hat Titans Familie getroffen und am Tag der ersten Rettung diese Reportage geschrieben.er merkt es vor allem an seinen Eltern, die ganz anders sind als sonst. SZ-Korrespondent Arne Perras hat Titans Familie getroffen und am Tag der ersten Rettung diese Reportage geschrieben.
Seine Mutter kommt nur aus dem Sanitätszelt, um mit den Mönchen vor der Höhle zu beten. Einige Tage, nachdem die Kinder verschwunden waren, stand sie im Eingang und rief ganz laut hinein in den Schlund: "Mama ist hier. Komm nach Hause!"
Acht Stunden nachdem die Taucher aufgebrochen sind, sieht es aus, als könnte dieser Wunsch wirklich Wahrheit werden. Als würde sich erfüllen, was Experten für kaum möglich hielten: Der erste Junge ist gerettet, hat den schwierigen Tauchgang geschafft. Bald folgen ihm drei weitere.
Die Kinder werden ins Provinzkrankenhaus nach Chiang Rai geflogen. Jeder wird isoliert behandelt, um das Risiko von Infektionen zu vermeiden.
Sie haben eine niedrige Körpertemperatur und nach mehr als zwei Wochen in der Dunkelheit müssen sie zum Schutz vor Tageslicht Sonnenbrillen tragen. Sie werden geröntgt, ihnen wird Blut abgenommen.
Sie haben die lange Zeit in der Höhle bis jetzt offenbar erstaunlich gut überstanden. Die Dunkelheit, neun Tage lang die Ungewissheit, überhaupt gefunden zu werden.
Jetzt wissen die Ärzte: Es geht ihnen gut.
Für die Angehörigen heißt es allerdings zunächst weiter: warten. Sie erfahren nicht, wer die Geretteten sind. Aus Rücksicht auf die Eltern, deren Kinder noch in der Höhle sind.
Die rettende Stimme klingt fremd und der Mann, der plötzlich vor den Jungen aus der schlammigen Flut auftaucht, spricht Englisch. Er will wissen, wie viele hier sind. Sie antworteten prompt. Und der Taucher wiederholt voller Freude: "13? Brilliant!"
Dann macht er diese unscharfen und verwackelten Bilder, von den Jungen, die sich auf dem lehmigen Hügel, tief im Innern der Höhle zusammenkauern und die sich kurze Zeit später aus der Höhle in Thailands Norden auf Fernseher und Handybildschirme in aller Welt verbreiten werden.
Das Schicksal der vermissten Fußballer ist längst auch ein globales Medienereignis und diese Bilder liefern endlich Gewissheit: Die zwölf Jungen und ihr Fußballtrainer, sie leben. Einige tragen Rettungsdecken, die die Taucher mit in die Höhle gebracht haben. Sie alle sehen müde und ausgezehrt aus, aber sie lächeln sogar in die Kameras, grüßen ihre Verwandten.
Am 23. Juni radelte das Team nach dem Training zur Höhle. Sie wollten dort den Geburtstag eines ihrer Freunde feiern und zusammen mit ihrem Trainer Akkapol Chanthawong, 25, ein kleines Abenteuer erleben, wie sie es schon so viele Male zuvor getan hatten.

Sie durchwateten den zu diesem Zeitpunkt noch sanft dahinplätschernden Bach im vorderen Höhlenteil und kletterten immer tiefer. Warum ihr Trainer sie nicht daran hinderte, das ist eine der Fragen, die nach der Rettung noch zu klären sind.
Einheimische wissen, dass es in der Monsunzeit äußerst gefährlich sein kann, in Höhlen zu gehen, ein Warnschild vor der Höhle weist auf die Gefahren hin. Zu schnell kann der starke Regen Bäche anschwellen und Höhlen überfluten lassen.
Genau so kam es. Der Monsun sperrte die Jungen ein. Sie flüchteten vor dem einströmenden Wasser immer tiefer in das verwinkelte Höhlensystem, um sich in Sicherheit zu bringen.
Die Tante hatte Titan noch kurz vor dem Fußballtraining gesehen. Wenn er wiederkäme, dann würde sie mit ihm gebratenes Hühnchen essen gehen, das hatte sie ihrem Neffen versprochen. Aber Titan kam an jenem Tag nicht nach Hause. Und die Tante kann sich nicht erinnern, dass sie jemals so viel gebetet hätte wie seit dem 23. Juni, jenem Tag, an dem Titan in der Höhle verschwand.
Höhlentauchen ist extrem gefährlich. Immer wieder geraten Taucher in den finsteren Gängen in lebensgefährliche Situationen. Und mehrere Höhlenforscher verdanken diesen beiden Briten ihr Leben.
Stanton und Volanthen sind Spezialisten für engste Passagen bei miserabler Sicht, doch die Verhältnisse in der Höhle Tham Luang sind selbst für Taucher mit ihrer Erfahrung "krass", wie die beiden in einer E-Mail an einen Kameraden schreiben.
Ein paar Tage später bringen die Taucher dann auch handgeschriebene Nachrichten aus der Höhle. Jeder der Jungen richtet ein paar Worte an seine Familie. “Es geht uns gut” heißt es da, “Macht Euch keine Sorgen”. Titan schreibt: "Tante Yod, sei bereit, um mit mir Fried Chicken essen zu gehen."
Zusammen mit Nahrung werden Medikamente, vor allem Antibiotika, Aufbau- und Beruhigungsmittel, in die Höhle gebracht. Ein Arzt und Mitglieder der Navy Seals bleiben bei den Kindern, um sie medizinisch zu betreuen und auf ihre mögliche Rettung vorzubereiten.
Denn schon kurz nach der ersten Euphorie über die Entdeckung der Jungen ist klar, dass das noch kein Happy End ist, sondern erst der Anfang einer dramatischen Rettungsaktion.
Mehr als 1000 Helfer arbeiten vor der Höhle. Einige Soldaten besprechen sich, Helfer laden Lebensmittel von kleinen Lastwagen und selbst die Freiwilligen, die das Essen aus großen Metallbottichen schöpfen, wirken angespannt. Man sieht Arbeiter daliegen, wie erschlagen, ein paar Minuten versuchen sie zwischendurch zu schlafen, bevor es wieder weitergeht.
Tagelang wird nach einem Weg gesucht, die Kinder aus der Höhle zu holen. Wie gefährlich das geplante Tauchmanöver ist, wird der Welt am 6. Juli, vier Tage nach der Entdeckung der Kinder, vor Augen geführt. Saman Kunan, ehemaliger Elitetaucher der Navy, kommt bei einem Tauchgang in der Höhle ums Leben. Er hatte Sauerstoffflaschen ins Innere gebracht, auf dem Rückweg ging ihm selbst die Atemluft unter Wasser aus.

Die niederschmetternde Nachricht vom Tod des Helfers schürt die Ängste der Angehörigen. Wenn die Profis das nicht überleben, wie sollen dann je die Kinder aus der Höhle tauchen?
Die Vorbereitungen der Rettungskräfte gehen dennoch weiter. Einen Tag vor Beginn der Rettungsaktion war Gouverneur Narongsak Osotthanakorn noch vor die Kameras getreten und hatte verkündet: “Sie können gegenwärtig noch nicht tauchen."
Wenige Stunden später haben die Retter aber offenbar keine Wahl mehr. Narongsak Osotthanakorn sagt: "Jetzt und die kommenden vier Tage. Die Bedingungen sind ideal, was das Wasser angeht, das Wetter und die Gesundheit der Jungen."
Die Taucher werden in wenigen Stunden zu einer der aufwendigsten und schwierigsten Höhlenrettungen aufbrechen, die es jemals gegeben hat. Alle anderen Optionen sind keine Optionen mehr.
Sie haben sich so intensiv und akribisch auf den Einsatz vorbereitet, wie es in dieser kurzen Zeit möglich war. Sie haben in unzähligen Tauchgängen die schwierigen Passagen geübt.
Und sie haben sich einen Plan überlegt, wie sie die Jungen sicher nach draußen bringen. Dazu gehört ein Kommunikationssystem mit Walkie-Talkies. Das haben die Taucher aufgebaut, um in Echtzeit kommunizieren zu können. Aber das Equipment darf nicht nass werden, und der Fels begrenzt die Reichweite schnell.

Einige Hundert Meter nach dem Höhleneingang haben die Taucher ihren Stützpunkt errichtet.

Dahinter sind weite Teile der Höhle noch überflutet und die Jungen müssen durch die Höhle tauchen.
Durch die gesamte Höhle haben die Taucher eine Führungsschnur gelegt und immer wieder Pressluftflaschen deponiert, sollte an einer Stelle der Sauerstoff knapp werden.
Jeder Junge wird von zwei oder drei Tauchern begleitet. Einer schwimmt vorneweg. Der zweite trägt die Pressluftflasche des Jungen.

Sich mit Atemgerät in trübem Wasser und wenig Bewegungsfreiheit vorzuarbeiten, erfordert extrem viel Übung, jeder Handgriff muss in der schlammigen Suppe sitzen, noch so kleine Fehler können tödlich sein.
Dabei ist keiner der Jungen je getaucht, manche haben nicht einmal gelernt zu schwimmen. Können alle in den finsteren engen Gängen längere Zeit durch ein Mundstück atmen, ohne dabei die Nerven zu verlieren? Die Panik wird ihr größter Feind sein. Der australische Anästhesist und erfahrene Höhlentaucher Richard Harris, der die Kinder vor ihrer Rückkehr medizinisch betreut, verabreicht ihnen deshalb Beruhigungsmittel, bevor es ins Wasser geht.
Und die Kräftigsten sollen zuerst aus der Höhle geholt werden. Das Rettungsteam hatte das schon vor Tagen so beschlossen und angekündigt, es klang irgendwie brutal, nach Charles Darwin und "Survival of the Fittest", aber vielleicht gibt es in dieser extremen Lage auch keine andere Wahl, wenn man so viele Leben retten will wie möglich. Und die Marinetaucher wissen: Dieser Einsatz ist erst dann vorbei, wenn der Letzte raus ist aus der Höhle.
"Hooyah!" schreibt die Spezialeinheit der thailändischen Marine am Dienstagabend thailändischer Zeit auf Facebook. Soll heißen: Es ist geschafft. Alle zwölf Jungen und ihr Trainer sind gerettet. Als der Hubschrauber mit dem letzten Geretteten vor der Tham-Luang-Höhle abhebt, geht gerade die Sonne unter.
Acht Stunden zuvor, um 10.08 Ortszeit hatte der letzte von drei Rettungstagen begonnen. Am Dienstagmorgen versammeln sich wieder Krankenwagen, Soldaten und zahlreiche Helfer vor der Höhle. Die Zeit drängt: Nach dem am Montag einige Stunden die Sonne schien, prasselt jetzt wieder der Regen auf die Retter hinab.
Das erschwert die Arbeit der Taucher, aber auch damit werden sie fertig.
Als Letzte verlassen Titan und ein weiterer Spieler so wie der 25-jährige Trainer am Abend die Höhle.
Verdünnten Brei haben die acht Jungen, die in den beiden Tagen zuvor schon gerettet worden waren, dort als Erstes zu essen bekommen. Und Brot und etwas Schokolade. Das typische Thai-Food, um das sie gebeten haben, dürfen sie noch nicht essen. Bloß nichts Scharfes, nachdem sie so lange nur so wenig zu sich genommen hatten.
Jeder wird nun zunächst isoliert behandelt, um das Risiko von Infektionen zu vermeiden. Alle werden geröntgt, Blut wird abgenommen. Nach mehr als zwei Wochen in der Dunkelheit müssen sie zum Schutz vor Tageslicht Sonnenbrillen tragen.
Am nächsten Tag haben aber schon die Ersten Besuch von ihren Verwandten bekommen. Auch Titan wird seine Tante, seinen Bruder und seine Mutter wohl bald wiedersehen. Noch trennt eine Glasscheibe die Jungen von den Angehörigen – aus Angst vor Infekten. Aber nicht mehr lange, dann können sie wieder zusammen Hühnchen essen.