SZ Gute Werke
Ein falscher Schritt – und das Leben gerät aus dem Tritt
Es war ein trüber Herbstnachmittag, als Maria Schulz in den Bus stieg. Sie wollte zu einem Vortrag fahren über Pflege im Alter, doch kaum schloss die Tür, wurde sie selbst zum Pflegefall. Maria Schulz stand am Fahrkartenautomaten, hielt sich mit einer Hand an der Stange fest, als der Bus losfuhr, sie ins Straucheln geriet und hinfiel.
„Ein Sturz, fünf Brüche“, resümiert Maria Schulz zwei Jahre später an ihrem Küchentisch. Ihren Humor hat die 80-Jährige sich bewahrt, doch laufen kann sie nur noch mit Gehhilfe, die Schmerzen in Rücken und Beinen sind manchmal kaum auszuhalten. Fast alles hat sich an diesem schicksalhaften Herbstnachmittag für sie zum Negativen verkehrt.
Vor dem Unfall war Maria Schulz, die wie alle anderen Betroffenen in diesem Text anders heißt, keine reiche Frau, aber sie kam über die Runden. Doch seitdem reicht das Geld nicht, weil wegen ihrer Beschwerden Zusatzausgaben fällig sind, die Krankenkasse übernimmt diese nicht alle. Sie hat nicht genug, um Taxifahrten zu bezahlen, wenn ein Weg für sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu beschwerlich ist. Ihr Hörgerät ist kaputt, doch die Reparatur würde mehre hundert Euro kosten. Sie kann ihrem Enkel, der eine geistige Behinderung hat, keinen Schweinebraten mehr kochen, den er so liebt, weil ihr Ofen kaputt und ein neuer zu teuer ist.
Ihre Geschichte zeigt: Armut kann jeden treffen – manchmal trifft sie einen von einem Moment auf den anderen. Und es trifft viele.
Fast täglich hat Eva Häringer mit Schicksalen wie dem von Maria Schulz zu tun. Seit fünf Jahren arbeitet die 55-Jährige in der Sozialen Beratung der Caritas München Süd. „Oft reicht ein Schicksalsschlag, der die Menschen aus der Bahn wirft“, sagt sie. „Vor allem, wenn die Betroffenen ohnehin schon in einer finanziell angespannten Situation leben, kaum Rücklagen bilden konnten.“ Der Verlust des Arbeitsplatzes, eine Krankheit, eine Trennung – es kann dann schnell existenziell werden.
In den Jobcentern, Beratungsstellen und Sozialbürgerhäusern der Stadt können sie solche Fälle aus dem ja eigentlich reichen München zuhauf schildern. Da ist das Schicksal von Sara Jassim. Sie war mit ihrem Mann eben aus Nordrhein-Westfalen nach München gezogen, ihre Tochter drei Monate alt, als sie erneut schwanger wurde. Die Eltern freuten sich sehr. Doch wenige Wochen später starb ihr Mann bei einem Autounfall.

Die seelische Belastung ist seit diesem Tag enorm, hinzu kommen finanzielle Sorgen – Sara Jassim ist nun auf Hilfsleistungen angewiesen, Geld für einen Erholungsurlaub, wenn auch nur eine kurzen, hat sie nicht. In wenigen Wochen ist der Geburtstermin.
Oder Amir Abdullah, der drei Herzinfarkte erlitt, daraufhin seinen Imbisswagen aufgeben musste, in dem er den Münchnern Hendl verkaufte; dann verließ ihn auch noch seine Frau. Er arbeitet seitdem als Fahrer, der Verdienst liegt nur knapp über dem Bürgergeldsatz. Die Unterhaltszahlungen an seine drei Söhne kann er nur leisten, indem er Schulden aufnimmt.
Oder Petra Tomić. Sie wurde von ihrem Ehemann geschlagen, ihr gelang es, sich von ihm zu trennen. Nun ist sie in Sicherheit, doch sie kann nicht mehr als drei Stunden pro Tag arbeiten – wegen der Folgen der Verletzungen, die der Ehemann ihr zugefügt hat. Wie soll sie genug Geld verdienen, um ihren beiden Kindern ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen?
Neulich hatte sie Fieber, lag zwei Tage im Bett, danach kam sie kaum noch hoch
Als Maria Schulz auf dem Boden des Busses lag, hatte sie höllische Schmerzen. Der Notarztwagen kam mit Blaulicht, brachte sie ins Krankenhaus. Mehrmals wurde sie operiert, wochenlang lag sie in der Klinik, danach musste sie auf Reha. Die rechte Hüfte ist neu, ein Implantat im Oberschenkel reicht bis zum Knie.
Der Tag teilt ihr Leben in ein Davor und ein Danach. Ihr behinderter Enkel lebte, seit er ein Jahr alt ist, bei ihr. Sie brachte ihm Lesen und Schreiben bei, obwohl der Kinderarzt sagte: „Der wird wohl nie lesen und schreiben lernen.“ Sie übte mit ihm Fahrradfahren, bis er nicht mehr umfiel, obwohl es viel länger dauerte als bei anderen Kindern. Sie begleitete ihn so oft auf dem Weg in die Arbeit, bis er alleine fahren konnte.
Seine Klimmzugstange hängt noch immer am Türrahmen seines Zimmers, sein Bett und seine Regale sind noch da, doch der junge Mann lebt inzwischen in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung. Seit dem Unfall kann sich Maria Schulz nicht mehr um ihn kümmern. Das macht ihr zu schaffen, sie vermisst ihn, sieht ihn nur noch alle zwei Wochen. Jetzt wohnt nur noch ihre 23 Jahre alte Katze bei ihr.
Wenn Maria Schulz ihre Wohnung im ersten Stock verlässt, hält sie sich mit einer Hand am Treppengeländer fest, zieht langsam das linke Bein nach, ehe sie den nächsten Schritt macht. An der Haustür hat sie ihren Rollator geparkt, ein Gehstock ist daran befestigt. Jeden Tag macht sich die 80-Jährige auf, denn sie weiß: „Egal, wie sehr es schmerzt, ich muss raus, sonst schmerzt es am nächsten Tag noch mehr.“ Neulich hatte sie Fieber, lag zwei Tage im Bett, danach kam sie kaum noch hoch.
Einmal pro Woche schaut eine Pflegerin vorbei, die sie duscht. Jemand hilft ihr, die Wohnung zu putzen. Und dann sind da noch ihre Nachbarinnen und Nachbarn: Eine Frau aus der Wohnung nebenan bringt ihr einen neuen Sack Katzensand aus dem Supermarkt mit, wenn ihrer aufgebraucht ist. Eine andere ist bei der Lebensmittelrettung, gibt ihr immer etwas ab. Wenn es mal zehn Semmeln sind, macht Maria Schulz eben Semmelknödel.
Eine ihrer Mitschülerinnen war Uschi Glas
„Es ist wichtig, dass die Menschen Hilfe annehmen“, sagt Caritas-Mitarbeiterin Eva Häringer. „Oft ist aber zuerst eine Hürde da – und große Scham.“ Kommen die Menschen in ihre Beratung, würden sie sich meist erst einmal rechtfertigen, warum sie in diese missliche Situation geraten sind, so Häringer. Obwohl es oft unverschuldet geschehen ist. Die Beratungsstellen helfen den Betroffenen, die passenden Anträge zu stellen und unterstützen sie finanziell, damit sie möglichst schnell wieder in den Alltag zurückfinden.
„Wichtig ist aber auch, dass das Umfeld Hilfe anbietet“, betont Häringer. Denn ein Schicksalsschlag führe oft in die Einsamkeit. Die Betroffenen seien verunsichert, der Freundeskreis halte sich zurück. Dabei sei es wichtig, schnell ein Netzwerk aufzubauen. „Manchmal hilft ein Anruf, den man bekommt, schon enorm“, sagt Häringer. „Betroffene sind dankbar für jede Normalität.“
Maria Schulz ist es gelungen, trotz allem irgendwie zurechtzukommen. Sie ist eine gesellige Frau, kann gut organisieren. Schon vor dem Unfall musste sie mit Problemen umgehen, ihr Leben verlief nicht geradlinig. Sie wuchs in Landau an der Isar auf, besuchte die gleiche Klasse wie Uschi Glas. Doch ihre Lebensläufe verliefen nach der Schulzeit unterschiedlich. Maria Schulz wurde keine bekannte Schauspielerin, sie arbeitete in der Gastronomie, heiratete früh, ließ sich bald wieder scheiden. Immer wieder hatte sie große Probleme mit der Gesundheit: Sie erkrankte an Krebs, verlor enorm an Gewicht, hatte einen Schlaganfall, doch sie berappelte sich. Mittlerweile hat sie fünf Kinder, 13 Enkel, sieben Urenkel.


Sie hört gerne Hörspiele und Luciano Pavarotti, möglichst jeden Tag geht sie spazieren. Wenn es ein guter Tag ist, schafft sie es bis zum Wald.
17 Prozent der Münchner Bevölkerung sind armutsgefährdet, so steht es im Armutsbericht der Stadt. Das bedeutet: Einem Ein-Personen-Haushalt steht weniger als 1540 Euro Nettoeinkommen zur Verfügung. Und das bedeutet auch: Passiert etwas Unvorhergesehenes, erkrankt jemand für einen längeren Zeitraum oder verliert er seinen Job, dann reicht das Geld schnell nicht mehr. „Oft ist dann sogleich die Wohnung gefährdet“, sagt Eva Häringer, die Beraterin der Caritas, weil die Mieten in der Stadt exorbitant hoch sind, es viel zu wenige Sozialwohnungen gibt. „Und dann geht sofort die Spirale nach unten los.“ Unten zu landen geht in München besonders schnell, wieder nach oben zu kommen, ist umso schwerer.
Vor wenigen Tagen stürzte Maria Schulz vor der Haustür, als sie die Einkaufstüte aus dem Rollator heben wollte. Sie lag am Boden, schaffte es nicht aufzustehen. Doch dann kam eine Nachbarin vorbei und half ihr auf. „Ich gebe nicht auf“, sagt sie. Auch wenn noch nicht alle Rechnungen für diesen Monat bezahlt sind und sie nicht weiß, wann sie ihrem Enkel endlich wieder einen Schweinebraten kochen kann.