SZ Gute Werke
Arm trotz Arbeit
Am Ende eines Monats ist einfach kein Spielraum mehr. Entweder es geht ins Minus auf dem Familienkonto. Oder es bleibt nur ein kleiner Rest. Aufatmen kann man dann mit der nächsten Lohnzahlung. Sparen, wie sie es vorher konnten, geht jetzt nicht mehr. So erzählt es Dalia Hamad. Genauer gesagt, sie übersetzt das, was ihre Mutter soeben auf Arabisch gesagt hat. Dass alles teurer geworden ist, habe sie selbst in der Pause auf dem Schulhof gemerkt, fügt die 18-jährige hinzu. Früher habe sie 99 Cent für ein Getränk bezahlt, plötzlich kostete es 1,39 Euro.
Dalia Hamad trägt eine weite Jeans und ein weißes Kopftuch. Sie ist in Syrien geboren und lebt seit sechs Jahren in Deutschland. Ihr Name ist von der Redaktion geändert worden, so wie alle übrigen Namen in dieser Geschichte. Sie sitzt umgeben von ihrer Familie im Wohnzimmer einer Sozialwohnung im Osten der Stadt, bunte Teppiche, gemusterte Vorhänge. Sie leben zu fünft hier in der Dreizimmerwohnung. Dalia Hamad selbst, Vater, Mutter, die zwölfjährige Schwester und der fünfjährige Bruder. Die Kinder teilen sich ein etwa zwölf Quadratmeter großes Zimmer. Der Junge, Malik, ein Vorschulkind, legt sich abends zum Schlafen eine faltbare Matratze auf den Boden, zwischen die zwei Betten der Schwestern.
Eine Familie, wie es viele in München gibt. Ein Gehalt, wenig Platz, wenig Erspartes und kaum Möglichkeiten, Dinge, die außerhalb des Alltags anfallen, zu besorgen. Etwa ein Hochbett oder einen Schreibtisch für die Hausaufgaben. Seit der Pandemie werden solche Haushalte immer mehr belastet. Erst stiegen die Energiekosten, dann die Lebensmittelkosten, dann wurde einfach alles teurer, später kamen die Nachzahlungen. Wenn dann noch die Berufsschule ein Tablet voraussetzt, stellen sich viele die Frage: Wie soll ich das stemmen?
Dalia Hamads Vater Zaid ist 43 Jahre alt. Er fährt Linienbus im Süden Münchens, in Vollzeit. „Das ist gut für unsere Situation“, sagt er. Neun-Stunden-Schichten, plus eine Stunde Hinweg und eine Stunde Rückweg. Dazwischen viel, viel Sitzen am Steuer. Er merke es vor allem in den Knien und im Rücken, er fasst sich ans Kreuz, redet von Schmerzen und fügt sofort hinzu: „Aber immerhin muss ich nichts Schweres tragen oder heben.“ An die Arbeitsverhältnisse habe er sich gewöhnt, sagt er. Auch in Syrien habe er viel gearbeitet, sogar zwei Jobs gehabt. Zaid Hamad scheint ein unerschütterlicher Optimist zu sein, er lächelt viel.
Ob er und seine Frau Wünsche für sich haben? Sie lachen. Das Wort Priorität falle ihm dazu ein, sagt Zaid Hamad. Die Priorität Nummer eins seien ganz klar die Kinder. Ob Schulbedarf oder neue Kleidung, das müsse ja erst mal alles besorgt werden.
Der Familienvater ist stolz darauf, nicht mehr auf Leistungen des Jobcenters angewiesen zu sein, so wie früher, als er sich als Geflüchteter in München neu orientieren musste. „Ich bin selbst zuständig für mein Leben“, sagt Zaid Hamad. Preise vergleichen und sich stets fürs Günstigere entscheiden – das ist trotzdem Alltag. Urlaub steht nicht auf dem Plan, höchstens eine Fahrt nach Berlin zur Familie der Frau. „Da ist vieles günstiger“, sagt Dalia Hamad.
Auf das verzichten zu müssen, was für die Mehrheit der Gesellschaft normal ist, das nennen Soziologen „relative Deprivation“. Eine Art von Armut, die vor allem im Vergleich, in der Relation, zur wohlhabenden Gesamtgesellschaft empfunden wird. „Die Distanz zum Rest der Gesellschaft hat Bestand“, sagt der Soziologieprofessor Fabian Pfeffer. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Soziale Ungleichheit und Soziale Strukturen an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, sowie Gründer eines neuen Forschungszentrums mit dem Namen „International Stone Center for Inequality Research“.
Pfeffer forscht zu Vermögensungleichheiten oder untersucht Szenarien einer gerechteren Gesellschaft. Der Satz „Auch im reichen München gibt es Armut“ müsste aus seiner Sicht etwas anders lauten: „Gerade im reichen München gibt es Armut.“ Denn in einer Stadt mit vielen Gutverdienern und Vermögenden wirke ihre relative Armut besonders stark auf die Betroffenen.
Wer in Deutschland als armutsgefährdet gilt, ist nach Einkommen definiert. Wessen Haushaltsnettoeinkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland beträgt, gehört dazu. Im Jahr 2022 hieß das: Verdient ein Paar mit zwei Kindern unter 14 Jahren insgesamt weniger als 2496 Euro monatlich, ist es von Armut betroffen. Die Zahl findet sich im Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung und gilt für ganz Deutschland. Im reicheren München dagegen sind es laut Münchner Armutsbericht im Jahr 2021 schon 3230 Euro – ein Umstand, der dem grundsätzlich höheren Einkommen im Mittel geschuldet ist.
Die Ungleichheit der Einkommen wächst
In München ist vieles teurer als anderswo: die Miete, die Butterbreze oder der Kinobesuch. Hier können aber auch viele Menschen mehr Geld ausgeben. Die Kaufkraft ist hier durchschnittlich deutlich höher als in anderen Städten. Nach der städtischen Statistik von 2023 hat eine Münchnerin oder ein Münchner jährlich rund 10 000 Euro netto mehr zur Verfügung als eine Berlinerin oder ein Berliner.
Gleichzeitig wächst die Ungleichheit der Einkommen in Deutschland, sie ist sogar laut dem Verteilungsbericht des WSI auf einem Höchststand seit der Wiedervereinigung. Dem Armuts- und Reichtumsbericht des Bundes zufolge lebten im Jahr 2021 insgesamt 16,6 Prozent der Menschen in Deutschland in Armut. 2010 waren es noch 14,5 Prozent.
Die wachsende Armut spiegelt sich auch in den Schuldnerberatungen wider. Inge Brümmer leitet die Schuldnerberatung der Münchner Arbeiterwohlfahrt und des Deutschen Gewerkschaftsbundes in München. Sie berichtete bereits im vergangenen Jahr von einer steigenden Nachfrage bei der Beratung. Innerhalb eines Jahres seien die Anfragen um zehn Prozent gestiegen. Brümmer warnte vor den Folgen der Inflation: „Viele Menschen machen sich große Sorgen und sind verunsichert, wie sie die Zukunft bewältigen können.“
In München leben 17 Prozent der Menschen in Armut, das sind die aktuellsten Zahlen des Münchner Armutsberichts. Also wie im deutschen Durchschnitt. Aber der Reichtum hier ist deutlich höher als im deutschen Durchschnitt. Eben deshalb ist die Entbehrung für die Betroffenen, das, was Fabian Pfeffer relative Deprivation nennt, deutlicher zu spüren. Und diese Gruppe wird größer.
Inaya Malonga arbeitet als Pflegehilfskraft in einem Altenheim, die 44-Jährige kümmert sich um Menschen mit Demenz. Ihr Lohn liegt knapp über der Grenze zum Beantragen von Sozialleistungen. Nach ihrer Schicht kehrt sie in die Zwei-Zimmer-Sozialwohnung zurück – und muss zusehen, dass sie ihren drei pubertierenden Kindern zwischen elf und 15 Jahren eine warme Mahlzeit anbieten kann.
Das Sorgerecht teilt sich die Kongolesin mit dem Kindsvater – eigentlich. Doch dieser stecke gerade selbst in finanziellen Schwierigkeiten, sagt sie, deshalb seien die gemeinsamen Kinder, alle drei hier in Deutschland geboren, nun komplett zu ihr gezogen. Der Unterhalt für sie bleibe aber manchmal aus. Die Beziehung zu ihrem Ex ist stark belastet, vor einigen Jahren musste sie im Frauenhaus Zuflucht suchen.
Doch darüber will sie jetzt gar nicht reden. Sie sitzt auf der Couch in ihrer Wohnung, über die sie eine löchrige Decke gelegt hat. Gegenüber steht ein alter Fernseher, ein Drucker. Gleich daneben die Küchenzeile, der Herd ist sichtbar außer Gefecht, die Spülmaschine sieht aus wie ein Museumsstück. Malonga schaut auf ihr Hab und Gut und sagt nur: „Alles hier ist kaputt.“ Doch auch darüber will sie nicht reden. Nicht über den laut brummenden Kühlschrank im Abstellraum, der vermutlich viel zu viel Strom frisst. Und auch nicht über ihre abgewetzten Schlappen. Was ihr wirklich Sorgen bereitet, sind ihre Kinder.
„Die Kinder haben keinen Platz, um ihre Hausaufgaben zu machen“, sagt sie. Entweder sie machen sie im Bett oder auf der Couch. Außerdem teilen sie sich zu dritt ein kleines Zimmer, „schwierig“, sagt Malonga, „manchmal auch eine Katastrophe“. Die drei Kinder schauen sich verstohlen an, während die Mutter das sagt. Es wäre für die Elfjährige eigentlich wichtig, einen Raum für sich zu haben, findet die Mutter.
Zur Kirche schaffe sie es nur selten, wegen der Schichten am Wochenende.
Die beiden älteren Jungs teilen sich ein Doppelbett, die kleine Schwester schläft im Bett daneben. Die Matratzen haben längst ausgedient. Kürzlich kam eine Nachricht von der Schule der kleinen Tochter: Alle Kinder müssten sich bitte Tablets besorgen. „Aber woher soll ich das Geld nehmen?“, fragt Malonga.
Sie weiß, dass sie einen besser bezahlten Job braucht. Schreibt Bewerbungen für eine Ausbildung in der Pflege, mit der richtigen Qualifikation könnte sie im Beruf aufsteigen, das ist ihre Hoffnung. „Wir kämpfen noch“, sagt sie mit einem leicht ironischen Lächeln im Gesicht. Ihr Glaube an Gott, sagt Malonga, helfe ihr. Zur Kirche schaffe sie es aber leider nicht mehr so häufig, wegen der Schichten am Wochenende.
Sie öffnet auf ihrem Handy die Bank-App, um nachzuschauen, wie viel monatlich an Miete und Stromkosten abgeht. Dabei weiß sie es doch genau. Dann sagt sie noch, der Stress setze ihr zu, sie verschränkt die Arme, zieht ihren Cardigan enger um den Körper.
Ein Leben in prekären Verhältnissen schränkt die Handlungsmöglichkeiten ein. Das belegten mehrere Studien, so Soziologe Fabian Pfeffer. Zum Beispiel lebten viele Betroffene in kürzeren Planungszeiträumen, hätten sozusagen notwendigerweise kleinere Zeithorizonte. Weil das Geld für langfristige Pläne sowieso niemals ausreicht.
Armut sei im öffentlichen Raum tendenziell leichter wahrnehmbar als Reichtum, sagt Pfeffer. Wenn etwa die Obdachlosigkeit zunimmt, merke die Gesellschaft das schnell. Wenn dagegen der Wert der geerbten Immobilie von ohnehin Wohlhabenden steigt, sei das weniger offensichtlich. „Das macht es schwer, Armut richtig zu verstehen und einzuordnen. Wir betrachten sie als ein vom Reichtum getrenntes Phänomen. Dabei gehören die beiden zusammen.“
Pfeffer zufolge ist es nicht ausreichend, bei der Betrachtung von Ungleichheit nur auf das Einkommen zu achten. Das Vermögen sei eine in Deutschland vernachlässigte Komponente und „eine ganz andere Dimension der Ungleichheit“. Dabei sei die ungleiche Verteilung von Vermögen in Deutschland eine der stärksten weltweit – und habe in den vergangenen Jahren zugenommen. Deshalb plädiert Pfeffer für die Wiedereinführung der Vermögensteuer und bereitet Studien vor, um die gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen davon aufzuzeigen.
„Wollen wir eine Gesellschaft sein, die Armut produziert oder eine, die Armut bekämpft?“
Eine Entwicklung macht Pfeffer besonders Sorgen, und diese sei im Kontext der steigenden Armut zu sehen: „Der Frust in unserer Gesellschaft nimmt zu. Betroffene in Armut und die gesellschaftliche Mitte werden gegeneinander ausgespielt. Das führt zu steigender Spaltung.“ Darauf weisen auch die Autoren des Verteilungsberichts vom WSI hin. „Reduzierte Teilhabe, Misstrauen in staatliche Institutionen und Verzicht auf politische Partizipation könnten in einen hoch problematischen Kreislauf münden“, steht da.
Laut einer Befragung des Statistischen Bundesamts von 2023 stimmen unter den Menschen in Armut und mit prekären Einkommen über ein Drittel folgender Aussage zu: „Die regierenden Parteien betrügen das Volk“. Bei der oberen Mitte zeigte nur etwas mehr als ein Viertel Zustimmung.
Pfeffer sagt, man sollte nicht über Arme, sondern über Armut sprechen. Das stelle klar, dass Armut ein strukturelles Phänomen sei: „Die Art und Weise, wie wir darüber sprechen, entscheidet, wo wir das Problem und die Lösung sehen.“ Es existierten starke Narrative, die den Armen die Schuld für ihre Armut zuschrieben. Aus Pfeffers Sicht ist es wichtig, diesen Narrativen entgegenzutreten. Nicht die persönlichen Lebensentscheidungen der Menschen seien der ursprüngliche Grund, sondern die gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen. Die Frage sei: „Wollen wir eine Gesellschaft sein, die Armut produziert oder eine, die Armut bekämpft?“
Die 18-jährige Dalia Hamad beginnt im kommenden Jahr eine Ausbildung zur Erzieherin. Gerade macht sie ein sogenanntes Einführungsjahr, das bereits gering vergütet wird. Sie hat Lust auf die Arbeit. „Die Kinder lieben mich, das gibt mir viel Energie“, sagt sie.
Es ist eine gute Perspektive für sie. Sie weiß, wie dringend Erzieherinnen gebraucht werden. Aber auch, dass sie dadurch mit ihrem zusätzlichen Gehalt zur Familienkasse beitragen kann. Sie wird damit auch zu einer Miternährerin, kann mit für ihre kleinen Geschwister sorgen – und sich auch ab zu etwas Kleines gönnen, vielleicht. Von einer eigenen Wohnung will sie gar nicht erst anfangen zu träumen. Ein eigenes Zimmer? „Mal schauen.“