Hilfswerk "SZ Gute Werke"

Wer als Kind arm ist, wird es lange bleiben

Auch im reichen München leben Kinder und Jugendliche, die Hunger haben und kein eigenes Bett. Oft schämen sie sich dafür - und der Armut zu entkommen, ist verdammt schwer.

29. November 2024 - 8 Min. Lesezeit

Alexander war zwölf, als er den Gerichtsvollzieher in die Wohnung bat. Er kochte ihm einen Kaffee, suchte die Unterlagen vom Finanzamt heraus und erklärte dem Mann die Situation der Familie: Die Mutter chronisch krank, der Vater hatte einen Arbeitsunfall, das Geld ist knapp. Als Alexanders Eltern vom Einkaufen nach Hause kamen, sagte der Gerichtsvollzieher zu ihnen, sie könnten stolz sein auf ihren Sohn.

Aylin Okan (alle Namen geändert) schüttelt den Kopf, als sie die Geschichte erzählt. Natürlich ist sie stolz auf ihren Sohn. „Aber ich will das so nicht. Ich möchte ihn vor diesen Sorgen schützen“, sagt sie mit Tränen in den Augen. „Eigentlich waren sie die Erwachsenen und haben sich Sorgen um uns gemacht“, sagt Aylin Okan über ihre beiden Kinder, Alexander und Dilan, heute 13 und zehn Jahre alt. Damals, als sie Rheuma bekam und eine Depression, als sie monatelang die Wohnung nicht verlassen hat. „Jetzt gehe ich wieder raus“, sagt die 48-Jährige. „Ich lerne von meinen Kindern.“

Ihr Mann und sie hatten nicht immer Geldsorgen. Sie arbeiteten lange bei einer Tankstelle, dort haben sie sich auch kennengelernt. Sie haben geheiratet und ihrem Sohn zur Einschulung eine gemeinsame Reise ins Disneyland nach Paris geschenkt. Die Zeiten sind vorbei. Aylin Okan sagt, ihre Tochter habe sich nie beschwert, dass sie mit ihr keine Reise zur Einschulung machten. „Sie sagt: Immerhin war ich ja dabei.“

Vor Kurzem haben Aylin Okan und ihr Mann zufällig erfahren, dass die Klasse von Alexander ins Skilager fahren wird. Er hatte es ihnen nicht erzählt, wollte sie nicht belasten. Dachte, es sei ohnehin kein Geld da für die Klassenfahrt. Die Nachbarn sagten, sie wollten zusammenlegen, damit Alexander mitfahren kann. Er hat sich geschämt. Inzwischen haben sie eine Lösung gefunden, über die Schule wird die Fahrt für ihn bezahlt.

Dabei sein, mitmachen. Nachmittags mit Freunden ins Kino oder einen Döner essen gehen, ein Teil der Gesellschaft sein – das ist für Kinder und Jugendliche, die in Armut aufwachsen, schwieriger als für andere. Sie verzichten auf vieles, was für Gleichaltrige ganz selbstverständlich ist.

In München sind die Gegensätze besonders groß. Hier sind die Unterschiede zwischen Arm und Reich größer, Einkommen und Vermögen sind ungleicher verteilt als im Rest des Landes, das zeigt der Münchner Armutsbericht. 265 000 Münchnerinnen und Münchner sind von Armut bedroht – und besonders betroffen sind Alleinerziehende, Familien mit mehr als zwei Kindern sowie Menschen mit Behinderung und chronischen Krankheiten.

Kinder sind arm, weil ihre Eltern arm sind. Ein Roller für den Schulweg, ein Laptop, um Referate vorzubereiten und den Schulabschluss zu schaffen oder einfach nur eine Regenjacke für jedes Kind – im reichen München leben Familien, die sich das nicht leisten können.

Leben Kinder, die Hunger haben, weil der Kühlschrank leer ist. Die in der Schule frühstücken, weil zu Hause niemand für sie Frühstück macht. Kinder, die Ausreden suchen, wenn die Klasse ins Schullandheim oder Skilager fährt, weil kein Geld dafür da ist. Und die sich dafür schämen.

Diese Armut lässt sich nicht einfach abschütteln, wenn aus Kindern Erwachsene werden. Armut beeinflusst ihre Zukunft. Je länger ein Kind in Armut lebt, desto gravierender sind die Folgen. Wer als Kind arm war, stirbt als Erwachsener früher. Arme Kinder haben ein größeres Risiko, krank zu werden, ihr Vertrauen in das politische System ist niedriger als bei Gleichaltrigen. Arme Kinder kommen später in die Kita, machen seltener Abitur.

„Familienarmut ist immer auch Kinderarmut“, sagt Sabina Schutter, Vorstandsvorsitzende von SOS-Kinderdorf und promovierte Soziologin. „Hier werden Kinder in Mithaftung genommen.“ Der Weg aus der Armut heraus ist Bildung, von der Kita bis zum Schulabschluss – aber wer welchen Abschluss macht, das hängt in Deutschland stark davon ab, in welcher Familie man aufwächst. „Wenn der Bildungserfolg von der sozialen Herkunft der Eltern abhängig ist“, sagt Sabina Schutter, „dann wird Armut von Generation zu Generation weitergegeben.“ Ein Kreislauf, aus dem es schwierig ist auszubrechen.

„Armut ist nicht vom Himmel gefallen, sie hat oft Ursachen. Dass Alleinerziehende nicht arbeiten können, weil sie für ihre Kinder keinen Kitaplatz haben, zum Beispiel“, sagt Schutter. Wenn Kinder gut betreut sind, dann können Eltern arbeiten. Und auch wenn der Job die Existenz nicht vollständig sichere, sei es ein Schritt in die richtige Richtung und ein Beispiel für die Kinder, sagt Schutter. Außerdem müssten Familien leichter an die Leistungen kommen, auf die sie einen Anspruch haben.

„Wir waren in Deutschland auf dem Weg, einen entscheidenden Schritt zu gehen. Der ursprüngliche Gedanke hinter der Kindergrundsicherung war ein Paradigmenwechsel in der Bekämpfung von Kinderarmut. Die Idee, dass Familien nicht mehr auf den Leistungsträger zugehen müssen, sondern dass es genau umgekehrt ist, das hätte tatsächlich etwas verändert“, sagt Schutter.

Armen Familien fehlen Waschmaschinen, die funktionieren. Sie brauchen Kleiderschränke, die nicht auseinanderfallen. Kinderbetten. Aber es ist nicht nur das. „Früher waren wir jede Woche eingeladen“, erzählt Aylin Okan. „Jetzt lädt uns keiner mehr ein. Die haben Angst, dass wir Geld von ihnen wollen. Und tun jetzt so, als ob sie uns nicht kennen. Eine frühere Freundin sagt, wir seien jetzt asozial.“ Aylin Okan jammert nicht. Sie sagt, sie sei froh um jeden lieben Menschen, der ihr zur Seite steht. Früher hat sie andere unterstützt und will das auch heute noch tun; kocht für eine Nachbarin, die mit gebrochener Hüfte im Bett liegt.

Ihr Mann und sie brauchen ja gar nicht viel, sagt Aylin Okan. „Mir ist das egal, ob meine Sachen 20 Jahre alt sind. Aber die Kinder sollen nicht verzichten müssen.“ Aylin Okan sagt, sie brauche kein Geld, um in den Urlaub zu fahren. Den Sommer verbringen sie am See oder sie gehen zu viert ins Schwimmbad. Sie hat sich die Vornamen ihrer Kinder auf die Unterarme tätowieren lassen. Was sie sich wünscht: dass sie Dilan ein eigenes Zimmer einrichten kann, mit einem Bett, einem Schreibtisch und einem Stuhl. Und ein Fahrrad – das, was Dilan jetzt hat, ist ihr viel zu klein.

Die Zehnjährige schläft bei ihrer Mutter, sie braucht ihre Nähe. Dilan hat Probleme in der Schule, Legasthenie und Dyskalkulie wurden diagnostiziert. Sie wird gemobbt, wurde von Mitschülerinnen verprügelt, die Schultoiletten sind vollgeschmiert mit Beschimpfungen, dass sie dumm sei und fett, so erzählt es ihre Mutter. Dilan hat ihren Eltern gesagt, dass sie nicht mehr in die Schule könne, sonst tue sie sich etwas an. Die Eltern haben nachts abwechselnd Wache gehalten bei ihrer Tochter, krank vor Sorge. Nun ist Dilan in einer psychiatrischen Klinik für Kinder und Jugendliche, abends darf sie nach Hause zu ihrer Familie.

Wenn Dilan einen Wunsch hat, fragt sie ihre Mutter, ob diesen Monat Geld übrig ist. Diesen Monat hat sie sich drei Granatäpfel gewünscht.

„Armut entwürdigt die von ihr Betroffenen nicht nur, sondern schließt sie auch von der aktiven Teilnahme am gesellschaftlichen Leben weitgehend aus“, so steht es im Armutsbericht der Stadt München. Die Zahl der Münchner Kinder, deren Familien Bürgergeld oder andere Sozialleistungen beziehen, ist von Dezember 2021 zu Dezember 2022 deutlich gestiegen. Bei den unter 18-Jährigen im Bürgergeldbezug zum Beispiel um 5,9 Prozent, auf 25 845 Kinder und Jugendliche. Wie viele Familien diesen Anspruch hätten, aus Scham oder Unwissenheit aber keinen Antrag stellen, dazu gibt es keine Zahlen.

Claudia Weber arbeitet, sie putzt, kümmert sich in einer Kanzlei um die Post und was sonst noch dort anfällt. Sie verdient dabei so wenig, dass das Geld nicht reicht zum Leben für sie und ihre Kinder, 15 und 14 Jahre; sie bekommt Bürgergeld dazu. Zu dritt leben sie in einer Zweieinhalbzimmer-Wohnung im Münchner Süden. Ihre Kinder, sagt sie, wüssten schon, dass sie nicht jeden Tag mit einem Wunsch ankommen können. Dass es ein Paar Turnschuhe gibt und nicht mehrere, eine Jeans, nicht fünf. „Ich kaufe mir ja auch nicht jeden Monat etwas Neues“, sagt die 56-Jährige.

Aber klar, sie kauft ihren Teenagern Turnschuhe und auch die Jeans, die alle tragen. Weil sie dazugehören wollen, natürlich wollen sie das. „Du musst mitschwimmen, sonst fressen sie dich“, sagt Claudia Weber. Sie haben das ja erlebt. Ihre Kinder wurden an ihrer Schule gemobbt, verprügelt. Sie haben Anzeige gestellt. Die Kinder gehen inzwischen auf eine andere Schule, nun ist es besser.

Claudia Weber hat als junge Frau ihre Berufsausbildung abgebrochen. Jetzt bekommt sie die Jobs, die keiner machen will. Sie hat versucht, sich selbständig zu machen als Haushaltshilfe, aber der Versuch ist gescheitert, sie musste Insolvenz anmelden. Ihr Sohn möchte Handwerker werden, erzählt Claudia Weber. Eine Ausbildung soll er machen, und die Tochter auch, das ist ihr wichtig.

Eine Berufsausbildung macht einen Unterschied. Wenn Jugendliche und junge Erwachsene keine abgeschlossene Ausbildung haben, sind sie häufiger von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen.

Claudia Weber hofft, dass sie selbst bald mehr Geld verdient. Ihre Kinder und sie wünschen sich einen neuen Fernseher, der alte ist kaputt. Ins Restaurant gehen sie nicht, zu teuer, aber auch der Imbiss wird immer teurer – ein Kebab-Teller für zwölf Euro, sagt sie, das muss man sich leisten können. Sie brauchen eine neue Waschmaschine, und sie würden gerne einen Tag in die Therme Erding fahren.

Sie sagt, sie sei froh, dass ihre Kinder auf der Mittelschule sind. Wären sie auf der Realschule oder auf dem Gymnasium, würden sie sich mit den Jugendlichen dort vergleichen – und jeden Tag erleben, worauf sie verzichten müssen, weil sie arm sind. „Andere Familien fahren zwei Wochen in den Urlaub. Das können wir nicht“, sagt sie. Ob der Urlaub den Kindern fehlt? Nein, sagt sie, das glaube sie nicht. Sie kennen es ja nicht anders.

Einen guten Schulabschluss zu schaffen ist schwierig genug. Aber oft brauche es noch mehr, sagt Sabina Schutter. Selbst wenn ein Kind aus armen Verhältnissen einen besseren Bildungsabschluss schaffe, bedeute das nicht zwangsläufig Erfolg im Beruf. „Um Karriere zu machen, braucht es soziale Kompetenzen. Dass man sich zu Wort meldet, ohne sich zu schämen. Dass man sich traut, einen Kollegen zum Mittagessen einzuladen, all das. Aus ärmlichen Verhältnissen eine wirkliche Aufsteigerbiografie hinzubekommen, ist eine enorme Leistung, die von vielen Faktoren und Förderern auf diesem Weg abhängt.“ Dabei, und das ist Sabina Schutter wichtig, brauche unsere Gesellschaft genau das: dass Menschen aus dem Kreislauf der Armut ausbrechen und beruflich erfolgreich sind.

„In den kommenden fünf Jahren wird der demografische Wandel für die Gesellschaft noch deutlicher spürbar werden“, sagt Sabina Schutter. „Wir können es uns gar nicht leisten, irgendein Kind zurückzulassen, ohne Bildung und ohne Teilhabe. Da sprechen wir noch gar nicht vom Ziel einer gerechteren Gesellschaft. Sondern das ist zwingend notwendig, um unsere Gesellschaft am Laufen zu halten.“

In einem guten gesellschaftlichen Zusammenhalt stecke auch wirtschaftlich Potenzial, sagt sie. „Wenn wir alle Kinder so gut wie möglich fördern, egal ob mit oder ohne Migrationshintergrund, wenn wir da investieren, dann haben wir die Chance, die deutsche Wirtschaft stark voranzubringen.“ Das ist das eine. Und das andere, sagt Sabina Schutter, sei die Menschlichkeit. „Wenn wir uns gemeinsam entscheiden, dass wir die Kinderarmut wirklich bekämpfen wollen, dann ist die Art der Maßnahmen gar nicht mehr so relevant. Dann wird man sich auf den besten Weg einigen.“

Alexander war von Anfang an gut in der Schule, wechselte nach der Grundschule aufs Gymnasium. Er ist nun in der siebten Klasse und einer seiner größten Wünsche ist: ein Programmierkurs. Englisch mag er nicht so, Latein liegt ihm mehr. Seine Eltern sagen, wenn es ihm in der Schule zu viel wird, dann könne er ja auf die Realschule wechseln. Aber er will das durchziehen.

Seit einiger Zeit haben seine Schwester und er ein neues Hobby, dreimal die Woche gehen sie zum Training: Sie haben angefangen zu boxen, machen einen Kurs für Kinder, die Mobbing erlebt haben. Der Sport gibt ihnen Selbstvertrauen, sagt ihre Mutter. „Dort schaut sie niemand schief an, wenn sie etwas nicht gleich können.“ Boxen, stark werden – auch das wollen sie durchziehen. Und auch das kostet Geld.

Text: Kathrin Aldenhoff; Illustration: Claudia Klein; Digitales Storytelling: Lisa Sonnabend

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