SZ Gute Werke
Wenn dunkle Löcher einen zu verschlucken drohen
Das große Bett ist wie eine Insel für Olga M. Es ist ihr Refugium: nachts zum Schlafen, wenn sie überhaupt Ruhe findet, und tagsüber zum Malen und Zeichnen, wenn sie sich darauf konzentrieren kann. Eine Nachbarin hat das Holzgestell und die Matratze für Olga M. und ihren Mann Vitali S. organisiert. Die beiden sind ihr unendlich dankbar für das Möbelstück, das andere nicht mehr benötigen, auch wenn es nun so viel Platz in ihrer Wohnung einnimmt. Es sind solche Gesten der Anteilnahme, die dem Ehepaar Zuversicht und Lebensmut schenken.
Vor allem Olga M. geben sie etwas Kraft. Sie lassen sie wieder auftauchen aus den dunklen Löchern, die sie manchmal zu verschlucken drohen: etwa nach einem Telefonat mit ihrem ältesten Sohn, der in der Ukraine für den Militärdienst erreichbar bleiben musste; oder wenn sie von den Bombenangriffen in Kiew hört, die ihre gebrechlichen Eltern schrecklich ängstigen. Die größte Sorge für Olga M. und Vitali S. aber ist die um ihre Tochter. Die 16-Jährige ist an Leukämie erkrankt.
„Jeder Husten und jeder Schnupfen macht uns Angst“, sagt ihr Vater. Als die Ärzte nach vielen Monaten Schmerzen vor ein paar Wochen erst Nierensteine bei dem Mädchen festgestellt haben, waren sie zugleich erleichtert und erschüttert. Schon wieder stand ein Aufenthalt im Krankenhaus an. Die Operation verlief gut. Aber so rasch wie andere junge Patienten erholt sich die Schülerin nicht davon. Das Gespräch mit ihren Eltern findet ohne sie statt. Sie liegt an diesem Tag noch im Krankenhaus.
Die Sorgen um ihre Familie und ihre Heimat, die Schwierigkeiten beim Neuanfang in München belasten Olga M. sehr. Die einst starke Frau, die beruflich erfolgreich war und eigenes Geld verdient hat, ist in eine Abhängigkeit gerutscht. Immer wieder fühlt sie sich niedergeschlagen und kraftlos. Auch Stefan P. (Name auf Wunsch geändert) weiß, wie sich Depression anfühlt, wenn auch aus anderen Gründen. Die Krankheit in ihren unterschiedlichen Ausprägungen trifft viel mehr Menschen in Deutschland, als man erwartet. Man geht davon aus, dass 5,3 Millionen Menschen in unserem Land innerhalb von zwölf Monaten an einer Depression zu leiden haben.
Olga M., 52, ist akademisch ausgebildete Künstlerin. 20 Jahre lang arbeitete sie am Nationaltheater in Kiew als Kulissendesignerin und Grafikerin. Ihre Bilder waren auf Ausstellungen zu sehen. Fantasievolle Arbeiten, voll mit Verweisen auf Märchen und Mythologien. Gerne würde Olga M. ihre Zeichnungen auch in München zeigen. Albrecht Dürer sei ihr Lieblingskünstler, sagt sie. In ihren eigenen Kunstwerken taucht immer wieder das Gesicht ihrer Tochter auf. Julia (Name geändert) hat anscheinend ihr Talent geerbt. Sie sollte 2019 in der Ukraine auf eine Schule mit künstlerischem Zweig gehen. „Sie hat die Aufnahmeprüfung als beste bestanden“, erzählt Vitali S. „Wir waren so stolz auf sie.“ Dann wurde sie krank und bekam die alles verändernde Diagnose: Leukämie.

Vor allem wegen Julia ist die Familie nach München gekommen. Drei Jahre war sie in einer Kinderklinik in Kiew stationär in Behandlung. Drei Jahre, in denen sich Mutter und Vater täglich um sie kümmerten. Medikamente besorgen und Infusionen wechseln, Essen bringen, das Kind waschen, das alles müssen Eltern in der Ukraine selbst leisten, erzählt Olga M. „Neben dem Beruf.“ Ihr Gesicht wird grau, ihre Augen füllen sich mit Tränen, als sie davon spricht. Schon diese belastenden Jahre haben sie anscheinend an den Rand ihrer Kräfte gebracht. Sie geht für einen Moment aus dem Zimmer.
Kurz nach den ersten Angriffen aus Russland im Frühjahr 2022 hörte die Familie: Wir können hier nichts mehr für sie tun, wir brauchen jetzt jedes Bett für die Verletzten. Gehen Sie nach München! Die Therapie gegen die Krebserkrankung erfolgte schon in der Ukraine nach einem Fahrplan des Klinikums der LMU, sagt Vitali S. So machten sie sich im März vor zwei Jahren mit ihrer geschwächten Tochter und ihrem zweiten Sohn Alex (auch dieser Name ist geändert) auf den Weg. Die vier nahmen mit, was sie tragen konnten: ein bisschen Kleidung, einen Scanner und eine Mappe mit den Bildern von Olga M. Dreieinhalb Tage waren sie unterwegs in eine ungewisse Zukunft.
Ursprünglich wollten sie nur ein paar Monate in Deutschland bleiben. Aber wer hätte zu dieser Zeit verlässlich voraussagen können, dass der Angriffskrieg auch Ende 2024 noch anhält? Die Familie ist immer noch hier, hat über das Wohnungsamt eine vorübergehende Bleibe gefunden. Sie soll bald abgerissen werden. Wie schafft man es, optimistisch zu bleiben, wenn im Leben immer wieder neue Probleme auftauchen? Wenn die Psyche reagiert?
Schlafstörungen und Schuldgefühle, Antriebslosigkeit und wenig Appetit, Schwierigkeiten sich zu konzentrieren, sich kaum noch über etwas freuen zu können, nur noch wenig Interesse an seinem Umfeld zu haben, sich selbst als minderwertig zu empfinden, bis hin zu Selbstmordgedanken – laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe sind ein Bündel solcher Symptome Anzeichen für eine Depression.
In Städten werde Depression häufiger diagnostiziert als auf dem Land
Depressionen gehören zu den häufigsten und hinsichtlich ihrer Schwere und Auswirkung am meisten unterschätzten Erkrankungen. Experten der Depressionshilfe gehen davon aus, dass etwa 45 Prozent der Menschen in Deutschland im Laufe ihres Lebens einmal davon betroffen sind. Etwa ein Viertel, weil sie selbst erkrankt sind oder waren, ein weiteres Viertel indirekt, weil sie mit an Depression erkrankten Personen zusammenleben. Etwa fünf Prozent sind selbst als depressiv einzuschätzen und gleichzeitig Angehörige von Erkrankten.
Es gibt vielerlei Ursachen für diese hohen Zahlen. Dazu gehören eine genetische Prädisposition, gravierende Erfahrungen in früher Kindheit sowie Faktoren im Alltag. Der Mediziner Cornelius Schüle sieht auch Gründe dafür in den stetig steigenden Anforderungen unserer Gesellschaft. Mit der Beschleunigung im beruflichen und auch privaten Alltag steige der Stresslevel, sagt er. Liegt der Fokus auf einem Lebensaspekt, für den man Freundschaften und Hobbys opfert, könne die Belastung irgendwann zu viel werden, sagt er. Dann vor allem, wenn die Wertschätzung ausbleibe und noch andere Schwierigkeiten hinzukommen, könne sich aus einem Zustand der Erschöpfung, einem Burn-out, eine Depression entwickeln.
Schüle ist Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des LMU Klinikums München. Er leitet die Schwerpunktstation für Depression und die psychiatrische Akut- und Aufnahmestation der Klinik an der Münchner Nussbaumstraße und rät dringend, sich bei Anzeichen von Burn-out oder depressiver Verstimmung Hilfe zu holen. Er weiß: Vor allem Männer sind weniger bereit, zum Arzt zu gehen. In Städten werde Depression häufiger diagnostiziert als auf dem Land. Dort teile man seine Probleme weniger offen mit einem Mediziner, sagt der Psychotherapeut, sei dafür besser sozial eingebunden.
Mit 16 bekam er seine erste Psychose, mit 18 landete er in der Klinik
Für Depression aber gibt es bewährte Therapiemöglichkeiten. Die Einnahme von Antidepressiva etwa, die nach vier bis sechs Wochen Wirkung zeigen. „Je schwerer der Grad der Depression, desto größer der Stellenwert der Medikamente“, sagt Schüle. Aber auch er und seine Kollegen setzen auf psychotherapeutische Begleitung. Die Nachfrage ist größer als das Angebot, weiß auch er. Aber für akute Fälle gibt es vielerorts niederschwellige Erstkontaktmöglichkeiten. Dort bekommen Betroffene und Angehörige ein offenes Ohr und wichtige Informationen für die nächstmöglichen Schritte. Eine erste Anlaufstelle kann etwa die Krisen- und Lebensberatung „Münchner Insel“ im Untergeschoss am Münchner Marienplatz sein. Auch das deutschlandweite Servicetelefon 116117 (ohne Vorwahl) ist eine Möglichkeit, Kontakt zu therapeutisch geschulten Ansprechpartnern aufzunehmen.
Stefan P. ist seit Jahren psychisch erkrankt. Ohne Medikamente und viele Therapien wäre er vielleicht nicht mehr am Leben. In seiner Kindheit im ländlichen Oberbayern hat er Gewalt und Missbrauch erfahren. Mit 16 bekam er seine erste Psychose, mit 18 landete er in der Klinik. „Ich habe Dinge gesehen und Stimmen gehört, die es gar nicht gab“, erzählt er. Heute kann Stefan P. (sein Name ist auf Wunsch geändert) mit klaren Worten darüber sprechen. Schizophrenie, Depression, posttraumatische Belastungsstörung – solche Begriffe kommen ihm leicht über die Lippen. Sie gehören zu seinem Leben. „Was mir in der Vergangenheit passiert ist, habe ich so einigermaßen abgehakt“, sagt er und ist stolz darauf, sein Leben in den Griff bekommen zu haben. „Putzen, kochen, waschen, das alles kriege ich gut hin“, sagt Stefan P.
Er lebt seit Jahren in einer Wohngemeinschaft in München und traut sich inzwischen zu, in eine eigene Wohnung zu ziehen. So wie Olga M. gibt auch ihm sein künstlerisches Talent Halt und Hoffnung. „Ich strukturiere mich durch meine Hobbys“, sagt er. Er lese viel, am liebsten Sachbücher. Schon lange holt er autodidaktisch nach, was er während seiner Jugendjahre nicht konnte: lernen. Stefan P. schreibt Songtexte, komponiert und zeichnet. Vor einigen Jahren hatte ihm ein Plattenlabel ein Angebot gemacht. Er habe es ausgeschlagen mit dem Gedanken: „Das schaffe ich doch eh nicht.“
Heute bedauert er die Ablehnung, weiß aber auch, dass er auf viel festeren Beinen steht. Inzwischen arbeitet Stefan P. zweimal die Woche halbtags in einem Second-hand-Projekt. Das mache ihm Spaß, er schätze seine Kollegen, sagt er. Bald schon möchte er seine Stunden aufstocken. Eigentlich aber träumt er davon, als Grafikdesigner Geld zu verdienen. Er weiß, ohne Schulabschluss wird sich dieser Berufswunsch wohl kaum ermöglichen lassen. Als Quereinsteiger? „Das wäre schön.“ Was ihm allerdings fehlt, ist ein gut funktionierendes Notebook, mit einem Grafik- und Editionsprogramm, mit dem er auch wieder auf höherem Niveau Musik machen kann. Sein altes ist vor einiger Zeit kaputtgegangen.
Auch Vitali S. hat Wünsche. Die Gesundheit seiner Tochter geht ihm über alles. Er würde Julia und Alex gerne das Meer zeigen oder die bayerischen Berge, damit auch sie wieder etwas Freude am Leben bekommen. Bei beiden haben die Ärzte depressive Phasen diagnostiziert. Der Vater selbst möchte arbeiten und ein Teil der deutschen Gesellschaft werden, auch wenn er auf Frieden in seiner Heimat hofft. Täglich lernt er Deutsch und schreibt Bewerbungen. Vitali S. ist studierter Flugzeugingenieur und würde am liebsten Lokführer werden. Das technische Verständnis hätte er dafür. „Die Bahn sucht doch Lokführer“, sagt er. „Ich habe das auf Plakaten gesehen.“ Aber sein Aufenthaltsstatus ist unsicher. Gerne würde er die alte Drei-Zimmer-Wohnung etwas renovieren. Aber wie lange die Familie dort noch wohnen darf, ist ebenfalls offen. Trotz aller Unsicherheiten wirkt Vitali S. wie ein Fels im tosenden Meer. Er blickt zu Olga M., und da ist ganz viel Liebe.