Ausstellung „10 im Quadrat“
Wenn Welten aufeinanderprallen
Ausstellung „10 im Quadrat“
Wenn Welten aufeinanderprallen
Warmes Licht strahlt auf die nackte Haut von Laura Glauber. Unter ihr bloß etwas Tüll, hinter ihr die gebogenen, weißen Wände eines Fotostudios. Es ist die Angst, sich mit allen Makeln und Fehlern zu zeigen, die sie als Musikerin schon länger beschäftigt.
Zu leicht sei es, sich als Künstlerin hinter Klamotten und Make-up zu verstecken. Also schlug die Fotografin Shahin Hefter vor, sie in Unterwäsche zu porträtieren. „Da habe ich echt ein paar Tage überlegen müssen“, sagt Laura, 28. Und dann legte sie sogar ihre Beinprothese für das Fotoshooting ab.
Das Ergebnis: ein ästhetisches Schwarz-Weiß-Porträt von einer Frau mit starkem, selbstbewusstem Blick.
Das Ergebnis: ein ästhetisches Schwarz-Weiß-Porträt von einer Frau mit starkem, selbstbewusstem Blick.
„Face your Fears“ heißt das Konzept der Münchner Fotografin Shahin. Mit der Aufforderung, sich in ihren Porträts einer ganz persönlichen Angst zu stellen, holte die 26-Jährige die zehn Musikerinnen und Musiker der Ausstellung 10 im Quadrat aus ihrer Komfortzone. „Das war total krass“, sagt Laura, Sängerin der Band Lauraine, aber „sie hat mir auch total ein schönes Gefühl im Vorfeld gegeben.“
Bei 10 im Quadrat, organisiert von der Junge-Leute-Seite der Süddeutschen Zeitung, treffen zwei Welten aufeinander. In einem Zeitraum von eineinhalb Monaten hatten zehn Fotografinnen und Fotografen die Aufgabe, zehn Musikerinnen und Musiker zu porträtieren. Entstanden ist eine Ausstellung, die den ganzen Mai über im Feierwerk-Farbenladen besichtigt werden kann. Zu sehen: im Idealfall zehn Fotostrecken zu je zehn Porträts, ergibt – richtig gerechnet – hundert Porträtfotografien. Vor der Kamera junge Münchner Musikerinnen und Musiker, hinter der Kamera junge Münchner Fotografinnen und Fotografen. Außerdem die Headlineshow der beteiligten Musikerin Diana Goldberg, 28, am selben Abend wie die Ausstellungseröffnung. In der Feierwerk Kranhalle gleich nebenan.
Die Herausforderung an dem Projekt? Dass Porträts etwas sehr Intimes sind. Sich von fremden Fotografen ablichten zu lassen, fiel nicht allen Musikerinnen leicht. Es braucht das Vertrauen, dass der Mensch einen richtig liest und der Künstlerpersönlichkeit entsprechend darstellt. So hatte der 23-jährige Musiker Tianping Christoph Xiao, bekannt als Plainhead, deutlich weniger Schwierigkeiten, sich vor der Kamera von Freunden locker zu machen. Aber „eine Person zu treffen und direkt abgelichtet zu werden“, war durchaus ungewohnt.
Ein Dienstagnachmittag im Café Jasmin. Der 28-jährige Münchner Fotograf Daniel Nguyen hat sich mit Malva Scherer dort verabredet, wo sie am liebsten an ihren Songtexten schreibt. Sie quatschen bei einer Tasse Kaffee mit Hafermilch und einer Tasse Ingwertee mit Minze. Die Kamera ruht am Tisch und wartet auf ihren Einsatz. Daniel möchte den Musikern erst menschlich näherkommen, bevor er sie fotografiert. Porträtfotografie bedeutet für ihn, „dass man intime Momente teilen kann, dass man sich gegenüber Personen öffnet und sich auch kennenlernt“, sagt er. Er ist sich des notwendigen Vertrauensvorschusses bewusst. Für seine Fotoreihe traf er sich daher mit den Musikerinnen und Musikern deutlich ausführlicher als nur für ein flottes Fotoshooting.
Er begleitete sie bei alltäglichen Situationen und porträtierte sie dabei „schnappschussartig“.
Er begleitete sie bei alltäglichen Situationen und porträtierte sie dabei „schnappschussartig“.
Bedenkt man Daniels Fotokonzept, so lässt sich der Zeitaufwand des Projekts 10 im Quadrat erahnen. Um den Farbenladen mit hundert Porträtfotografien zu füllen, bedurfte es im Vorfeld hundert Treffen. Immer wieder mussten Fotoshootings verschoben und vereinzelt sogar wiederholt werden, weil das Ergebnis nicht gefiel. 10 im Quadrat sorgte gleichermaßen für Reibung wie auch für Vernetzung. „Ich finde es super, sich in der kreativen Szene mit Menschen auszutauschen, die nicht nur aus der Musik kommen, und kreative Visionen zu teilen“, sagt Seda Yagci, 28 und Münchner Pop-Artist. Vor allem das Gefühl für Ästhetik brauche es in beiden Sparten, betont Seda. Und so entstanden neue Kontakte und Jobmöglichkeiten.
Schlussendlich wurden allerdings nur neun von zehn Fotografinnen und Fotografen auch zu Ausstellenden – aufgrund des hohen Arbeitsaufwandes stieg einer der Fotografen aus dem Projekt aus. Aber auch das gehörte zum Prozess, den die 20 Mitwirkenden gemeinsam bestritten. Verständnis für die Entscheidung kam von allen Seiten. Verständnis dafür, dass ein Künstlerleben selten linear verläuft.
Die größte Gemeinsamkeit aller Beteiligten? Ihr junges Alter. Die meisten stehen noch am Anfang ihrer Karriere, sind gar noch Studierende oder Newcomer in der Münchner Musikszene. In den Musikstilen fand sich dafür eine umso größere Bandbreite wieder: von Hip-Hop über Pop bis Alternative-Post-Punk.
Mariam Haitham Khalid hat mit ihrer Fotoreihe einen Einblick in die Räume, wo diese Musik entsteht, erhaschen können. Die 20-jährige Fotografin porträtierte die „Models“ in ihren Zimmern, Studios und Bandräumen. Weil sie analog fotografierte, haben ihre Porträts einen besonders stimmungsvollen Charakter: Mit überkreuzten Beinen sitzt Quirin Schacherl, der 22-jährige Leadsänger der Band Raketenumschau, auf einem Klavierhocker in seinem Zimmer.
Um ihn herum mehrere Schallplatten und zwei Keyboards. Zwei Gitarren stehen am Boden, zwei weitere hängen an der Wand hinter ihm. Sein Blick verträumt, das Foto durch den leicht rosaroten Filter getrübt.
Um ihn herum mehrere Schallplatten und zwei Keyboards. Zwei Gitarren stehen am Boden, zwei weitere hängen an der Wand hinter ihm. Sein Blick verträumt, das Foto durch den leicht rosaroten Filter getrübt.
Zurück im Fotostudio mit Shahin Hefter. An diesem Tag ist sie mit Isabel Leila Gütlein, 21 Jahre alt und bekannt unter dem Künstlernamen Gündalein, verabredet. Musik läuft im Hintergrund, Schoko-Bons stehen zur Stärkung bereit. Shahin hat einen dunkelblauen Trichter aus biegbarem Plastik gebastelt, den sie Isabel reicht.
Eine Metapher: Die Münchner Rapperin und Sängerin begleitet die Angst, alles zu geben und am Ende doch enttäuscht zu werden. Wie in die Öffnung eines großen Trichters sämtliche Energie in ein Projekt zu stecken, wovon schlussendlich kaum etwas bleibt.
Shahin dunkelt den Raum ab und greift zu ihrer Kamera. Isabel soll zur Seite schauen – „mit strongem Ausdruck“. Im Raum bloß Stille und die Furcht vor Enttäuschung.
10 im Quadrat 2023, Feierwerk Farbenladen, Hansastraße 31, 81373 München, Samstag und Sonntag im Mai, von 16 bis 20 Uhr.
Die Fotografinnen und Fotografen
Shahin Hefter
Eine Frau mit auffälligem, goldenem Kopfschmuck und goldbraunem, ebenmäßigem Make-up. Ihr leicht getrübter Blick geht nach links oben. Das Besondere an dem Foto: Ihr rechtes Auge erscheint viel größer als das linke - eine Lupe verzerrt die Verhältnisse. Es ist ein Porträt, das Shahin Hefter für das Independent-Magazin PAP aufgenommen hat.
Shahin, 26, reizt das Abstrakte und Surrealistische. Fotografie solle nicht einfach nur schön sein, sagt sie. Sie hält es für generisch, was viele machen. „Ich finde es schon wichtig, dass man auch einen eigenen Bezug reinbringt - ein Augenzwinkern, aber auch etwas Kritisches.“ Um das zu erreichen, greift sie mittels Nachbearbeitung und sogar mit Künstlicher Intelligenz in ihre Fotografien ein. Ein weiteres Foto für dasselbe Magazin zeigt eine Frau in schwarzem, durchsichtigem Kleid mit so etwas wie einer futuristischen Maske vor dem Gesicht. Ihre Haare hat Shahin im Nachhinein zu drei Zacken geformt. Sie mag es, Bilder zu verfremden.
Shahin hat ein Auge für das Komische. Kleinigkeiten nimmt sie oft stärker wahr als das Offensichtliche. „Mich interessieren meistens die Sachen, die andere in sozialen Umfeldern gar nicht so wahrnehmen”, sagt sie. In Gesprächen driftet sie gedanklich ab, beobachtet, wie das Licht gerade fällt und sieht komische Schatten. Es ist weniger das Flüchten aus einer sozialen Situation, als dass ihr in dem Moment andere Dinge bedeutsamer erscheinen. Das Beobachten liegt ihr einfach mehr als die Interaktion.
Ein Vormittag in der Hochschule München in Maxvorstadt. Als Fotodesign-Studentin kann sie das Studio im Keller des Gebäudes für ihre Shootings nutzen. Shahin baut einen Steher auf, von dem kleine Figuren an durchsichtigen Fäden hängen. Sie werden später nur als Schatten hinter der Musikerin Diana Goldberg am Foto auftauchen. Shahin macht das Licht aus – nur ein kleiner, runder Scheinwerfer strahlt auf Diana. Mit pinken Socken, die ihrem sonst so schwarzen Outfit widersprechen, tapst Shahin um Diana und versucht, das Lichtspiel im perfekten Winkel einzufangen. Diana gibt sie klare Anweisungen: „Vielleicht noch ein bisschen trauriger schauen“, sagt sie. Diana muss lachen.
Für die Ausstellung 10 im Quadrat porträtiert Shahin die Musiker und Musikerinnen mit ihren Ängsten – „Face your Fears“ hat sie das Konzept genannt. Es sind Porträts über die Sorge, etwas zu verpassen, oder die Angst, sich offen zu zeigen. Sie will Bühnenmenschen von einer menschlicheren, weniger perfekten Seite ablichten. Wie ein solches Foto von ihr selbst aussehen würde? „Ich glaube, ich hätte eine Tüte auf dem Kopf“, sagt Shahin. Gesehen zu werden, ist ihre Angst, im Mittelpunkt zu stehen. „Das Foto an sich wäre die Angst.“ Ganz bewusst hat sie sich den Platz hinter und nicht vor der Kamera ausgesucht.
Chiara Hövelmann
Vom Wasser weichgezeichnete Haare, Blubberblasen, die emporsteigen. Eine junge Frau schwebt durch das Bild, ihr Körper leicht gebogen, als würde sie zur Drehung ansetzen. An den Füßen hat sie blaue Flossen. Es sind Unterwasseraufnahmen aus der Adria, dem Meer bei Istrien. Jene kroatische Halbinsel, wo Chiara Hövelmann, 22, mit ihren Cousinen die Sommer verbrachte. Mit 14 Jahren hatte sie eine Unterwasserkamera geschenkt bekommen und dadurch einen neuen Zeitvertreib gefunden.
Am Tagesprogramm änderte sich durch das Geschenk wenig. Weiterhin ging Chiara, die zur Hälfte Kroatin ist, jeden Tag schnorcheln – nur von diesem Moment an mit Kamera. Anfangs fotografierte sie wild drauf los, bald aber begann sie mit der Unterwasserfotografie zu spielen. „Wir haben dann angefangen, Kleider unter Wasser anzuziehen“, erzählt Chiara. Und sie fand Gefallen daran. Als sie sich einige Jahre später für ein Studium entscheiden musste, klang Fotodesign an der Hochschule München nach einer plausiblen Option.
„Ich habe mich da mit diesen Unterwasserfotos beworben, ohne dass ich wirklich Ahnung von Fotografie hatte“, sagt Chiara. Aber weil sie unter den Bewerbern und Bewerberinnen herausstach, wurde sie genommen. Erst im Studium, das sie aktuell noch absolviert, begann sie, sich differenzierter mit Fotografie auseinanderzusetzen. Und so wurde die Urlaubsspielerei zum Karrierewunsch. Vergangenes Semester führte sie dieser für ein Praktikum nach Paris. Eine Stadt, zu der auch Chiaras Auftritt passt: Klobige Schuhe, lockere Hose, selbstbewusst steht sie auf beiden Beinen und hat ihre kurzen, dunklen Haare mit Spangen zurückgesteckt.
Sie landete in einem Pariser Fotostudio, in dem sie als Set-Assistentin für Kampagnen-Shootings mitarbeiten durfte, beispielsweise von Dior oder Isabelle Marant. Bei einem der Shootings für Isabelle Marant wurde eigens ein Model aus New York eingeflogen, „einfach nur für die drei Stunden“, erzählt Chiara. Der Fotograf lichtete sie vor einem hellblauen Hintergrund mit analoger Kamera ab. Auch Isabelle Marant selbst, die Person hinter der Modemarke, war am Set, und Chiara kam mit ihr ins Gespräch. „Es war nur so eine Minute, die ich mit ihr reden konnte, so draußen beim Rauchen.“ Aber diese Minute blieb ihr in Erinnerung. Sie sprachen darüber, wie männlich dominiert die Fotografie-Branche sei – das gab Chiara einen zusätzlichen Motivationsschub, weiterzumachen. „Ich wäre am liebsten in Paris geblieben, aber ich will natürlich mein Studium hier fertig machen“, sagt sie. Als Fotografin gibt sie sich mittlerweile unter dem Künstlernamen Chiara Toki aus.
In ihrem Studium probiert sie sich an experimenteller Modefotografie. „Ich mag es ganz gerne, wenn man beim Shooting nicht ganz genau weiß, was rauskommt“, sagt Chiara. So wie bei ihren Unterwasseraufnahmen von früher soll alles ein bisschen surrealistisch ausschauen. Wenn sie die Möglichkeit hat, shootet sie nach wie vor manchmal unter Wasser. „Es ist halt immer schwer in München, weil man hier kein Meer hat. Und einen Pool zu mieten, ist jetzt auch nicht so leicht.“ In einem der Fotoshootings, die sie umsetzen konnte, entstand ein Video, in dem sie sich unter Wasser rauchend inszeniert.
Experimentell ist auch ihr Konzept für die Ausstellung 10 im Quadrat. Chiara meint, Musikerinnen und Musiker seien viel in Bewegung. Deshalb lässt sie sie vor der Kamera springen, als wären sie auf der Bühne. Sie fotografiert sie dabei mit Mehrfachbelichtung, dadurch sei „alles auch so ein bisschen dem Zufall überlassen“.
An diesem Vormittag shootet sie mit dem Musiker Tianping Christoph Xiao, auch als Plainhead bekannt. Sie möchte diesen „Star-Vibe“ einfangen – die Musikerinnen und Musiker sollen sich so kleiden, wie sie es auch auf Konzerten tun würden. „Zum Beispiel auch im Pailettenanzug oder Glitzeranzug“, sagt Chiara. Chris mustert sich: braune, lockere Cordhose, schwarzes Baggy-Shirt, dunkelblaue Kappe – er grinst. „Dein Outfit ist auch cool“, ergänzt Chiara hastig und lacht.
Julian Janssen
Heute gibt es Honigmelone in dicken Spalten zum Frühstück. Dazu ein Brot mit veganer Streichcreme, Heidelbeeren und ein Glas Bio-Orangensaft. Julian Janssen ist gerade aus seiner „Powerdusche“ rausgehüpft und sitzt nun auf einem Ameisenstuhl am Küchentisch seiner WG. Der Tisch aus Vollholz, die Küche großzügig - ziemliches Kontrastprogramm zu einer abgeranzten Studenten-WG. Licht fällt durch das Glas der großen Balkontür herein und Julian erzählt von seinen Plänen für die Ausstellung 10 im Quadrat.
„Heute habe ich drei Shootings“, sagt er. Sein Zeitplan ist straff – aber nicht ohne Grund. Erst drei Wochen vor Ausstellungseröffnung ist Julian Teil des Projekts geworden, da er für eine andere Fotografin spontan einsprang. Seine Idee für die zehn Porträts: kunterbunte, humorvolle Bilder. Bei seinen Fotoshootings stimmt Julian die Outfits der Musiker und Musikerinnen mit der Farbe des Hintergrunds ab. Er mag es simpel, weshalb er meist mit natürlichem Licht fotografiert. „Dadurch habe ich viel Zeit, mich mit den Leuten zu beschäftigen und sie davon abzulenken, dass das gerade eine künstliche Situation ist.“
Für sein erstes Shooting an diesem Tag hat er sich für ein blaues Setting entschieden. Der Musiker Tianping Christoph Xiao steht vor der Kamera. Sämtliche Möbel aus Julians Zimmer sind in eine Ecke geschoben, damit ein riesiges, mit blauem Stoff bespanntes Stativ vor seinem Fenster Platz findet. Möglichst viel natürliches Licht soll diese Konstruktion einfangen. Julian hat alle seine blauen T-Shirts auf einen Haufen gelegt und zusätzlich noch eine schnittige, blaue Sonnenbrille und blaue Eye-Pads besorgt. Er selbst trägt eine chromblaue, lockere Hose, dazu ein schwarzes T-Shirt mit einem weißen Top darüber. Sein Grinsen breit, seine Haare gekräuselt.
Julian ist ein aufgedrehter und gleichzeitig sehr verkopfter Mensch. Er lacht viel. Und wenn er lacht, dann klingt das wie ein lautes, wortwörtliches „Ha-ha-ha“. Für seine Fotoshootings hat er tausend Ideen und besorgt jede Menge kreatives Zeug. Für jeden Musiker und jede Musikerin überlegt er sich ein individuell zugeschnittenes Konzept und sieht jedes Shooting als ein Kennenlernen.
Verkopft ist er aber vor allem, wenn es um berufliche Dinge geht. Fragt man ihn nach seinen Zukunftsplänen, so bekommt man eher unklare Antworten. Die Fotografie sieht er als ein wichtiges Detail seines Lebens, ohne der etwas fehlen würde. „Es ernährt mich nicht, sondern ich mache es, weil es Spaß macht und man auch mal bisschen Quatsch machen kann“, sagt der 29-Jährige. Aus ähnlichen Gründen legt er auch manchmal auf, probiert sich als DJ. Geld verdient er mit Jobs im Bereich der Moderation. Er moderiert die Kindersendung Checker Julian, hat vereinzelt Schauspieljobs und probiert sich auch im Synchronsprechen aus.
Ob er irgendwann mal als Fotograf arbeiten will? An der Ausstellung 10 im Quadrat finde er es durchaus cool, so viele Personen auf einmal zu fotografieren - „weil man ein bisschen hineinschnuppern kann, wie es wäre, wenn man es beruflich macht“. Wichtig ist Julian aber vor allem, dass er bei der Fotografie seine kindische Seite nicht verliert. Es mache ihm einfach Spaß, sich nicht immer so ernst zu nehmen. „Ich finde es auch mal schön, sich daran zu erinnern, dass man mal ein Kind war“, sagt Julian.
Mariam Haitham Khalid
Mariam Haitham Khalid reizt das Unmittelbare und das Unerwartete. Deswegen fotografiert sie ausschließlich analog. Ihr gefällt es, dass man nicht so fokussiert darauf ist, das perfekte Bild zu schießen. Dass man nicht tausend Aufnahmen von einer Szene macht, sondern einmal abdrückt und weitergeht, sagt die 20-jährige Münchnerin.
Der größte Reiz an der Sache: „Man weiß nicht ganz genau, was für Bilder man hat, bis man sie entwickeln lässt“, sagt sie. So ging es ihr auch beim Paris-Urlaub mit einer Freundin vor zwei Jahren, bei dem ihre Begeisterung für die analoge Fotografie entstand. Kurz zuvor hatte sie sich ihre erste Kamera gekauft, 35mm Point and Shoot, und saß nun vor ihren entwickelten Bildern, die – ohne dass sie es gewollt hatte – als Serie funktionierten.
„Paris in Pink“ taufte sie die Fotostrecke und band sie zu einem kleinen Heft. Nächtliche Szenen von einem Schlagzeuger im Jazz-Club, rot leuchtende Schilder, auf denen „Amour“ oder „Le Cancan“ steht, leere rosarote Stühle auf der Straße vor einer Bar. Nach diesem Parisurlaub hat Mariam nie wieder zu einer Digitalkamera gegriffen, sie ist „seitdem obsessed mit analoger Fotografie“, sagt sie.
Doch als Fotografin sah sich Mariam nie – zu hartnäckig das Stigma vom erfolglosen Arbeiten in der Kreativbranche. Sie war einfach „diejenige, die Bilder von anderen gemacht hat“, mehr nicht. Auch in ihrer Familie gab es keine Vorbilder, die sie eines Besseren belehren hätten können. „Ich hatte nie die Vorstellung, ich kann da eine geile Karriere daraus machen“, sagt Mariam. Jetzt ist das anders. Noch dieses Jahr will sie sich für ein Fotodesign-Studium bewerben, später will sie auch ihre Leidenschaft für Fashion und Styling miteinbeziehen. Vielleicht auch was mit Modekampagnen oder Bewegtbild machen, Art- oder Creative-Director werden.
„Ich wollte das, was ich mir immer vorstelle in meinem Kopf, echt machen, wollte es physisch machen“, sagt sie. Mariam ist eine sehr in sich gekehrte Person. „Ich bin nicht so gut mit Worten“, sagt sie über sich selbst – ihre Gedanken und Fotografien seien oft ausdrucksstärker. Lange war sie schüchtern und hatte Probleme, sich zu öffnen. Die Ausstellung 10 im Quadrat sieht sie daher auch als Möglichkeit, mit anregenden Personen ins Gespräch zu kommen.
Oft ist Mariam in ihren eigenen Tagträumen unterwegs. Diese versucht sie in ihren Fotos auf ästhetische Art und Weise zum Leben zu erwecken. „Ich kann selbst entscheiden, wie ich eine Welt zusammenstelle, wenn ich Bilder mache“, erklärt Mariam. Sie zeigt ein Foto von ihrer Cousine am Handy. „Da habe ich ein Set aufgebaut mit meinen Lieblingssachen und habe sie eingekleidet mit meinen Klamotten“, sagt sie. Ihre Cousine sitzt am Parkettboden von Mariams Zimmer: roter Minirock, weiße Strumpfhose, Ballettschuhe an den Füßen. Um sie herum mehrere Kerzen, ein Plattenspieler und ein paar von Mariams Lieblingsplatten. „Im Endeffekt war das wie ein Selbstporträt, nur von einer anderen Person“, sagt Mariam. Im warmen Kerzenlicht und der verträumten, abendlichen Stimmung erkennt sie sich wieder.
Die Szene von diesem Shooting mit ihrer Cousine überträgt sie auch auf die Musiker und Musikerinnen von 10 im Quadrat. Isabel Leila Gütlein, bekannt als Gündalein, fotografiert sie am Sofa im Wohnzimmer der Musikerin. Mariam arrangiert die Kunstwerke im Hintergrund, stellt Isabels Lieblingsschuhe ins Bild und ein Tischmikrofon auf den gläsernen Couchtisch. Eine kleine Studioleuchte mit rosaroter Folie ist auf das Sofa gerichtet. „Du kannst dich einfach hier hinchillen“, sagt sie zu Isabel. Mariam tritt zurück, stellt sich auf Zehenspitzen und hält ihre überdimensionierte Kamera vor ihr Gesicht. Sie probiert ein paar unterschiedliche Winkel aus – es sieht so aus, als würde sie testweise mit dem Auge statt dem Finger abdrücken. Nur ungefähr fünf Schüsse gibt sie sich für das Porträt von Isabel. Denn das ist der Reiz an der Sache.
Lukas Lindner
Lukas Lindner, der ohnehin schon schmal und groß gebaut ist, stellt sich auf Zehenspitzen und schwankt von einem Fuß auf den anderen. Aus jedem Winkel ein Foto – sicher ist sicher. Er ist perfektionistisch veranlagt und macht lieber ein paar Aufnahmen zu viel. Laura Glauber, Sängerin der Band Lauraine und sein heutiges Model, erklärt er Step by Step, was er mit ihr vorhat. Am wichtigsten sei ihm, „dass sich die Person vor der Kamera wohlfühlt“, sagt Lukas. Immer wieder zeigt er ihr daher die Zwischenergebnisse am Bildschirm seiner Kamera. „Das sieht ja aus wie ein Passfoto“, sagt Laura und lacht. Alles so geplant, antwortet Lukas.
Lukas ist 22 Jahre alt und wohl noch zu jung, um sich für ein Metier zu entscheiden. Oder einfach zu vielseitig interessiert: „Ich studiere Elektrotechnik, interessiere mich für Start-ups und fotografiere“, sagt Lukas. Für das Studium ist er aus einem kleinen Ort in der Nähe von Karlsruhe nach München gezogen, seinen starken Dialekt hat er sich erst mal abgewöhnen müssen. Er erzählt von seinen Anfängen als Fotograf: „Ich hab’ mit 13 angefangen, mit einem Kumpel zusammen so Sneaker-Bilder zu machen.“ Besondere Sneaker waren es keine und der Instagram-Account, auf dem sie die Fotos posteten, hatte kaum Follower. Trotzdem „bisschen schade, dass wir es nicht beibehalten haben, weil sonst wären wir damit ziemlich früh dran gewesen“, sagt er. Fotografie war für Lukas einfach mehr Hobby als Beruf. Zumindest bis vor eineinhalb Jahren.
Der Wendepunkt kam mit einer Instagram-Nachricht. Eine kleine Modemarke aus Düsseldorf schrieb ihn an und fragte, ob er für sie fotografieren könne. „Da habe ich einfach direkt Ja gesagt“, erzählt Lukas. Erst danach fiel ihm ein, dass er dafür ein Gewerbe „und den ganzen Kram“ anmelden musste. „Ab da wurde es etwas ernster“, sagt Lukas. Auch heute fotografiert er noch regelmäßig für die Modemarke Bad Portier.
Er zieht an den Deckenschienen für die Studioleuchten, Lauras Gesicht soll etwas mehr Licht von links bekommen. Für die Ausstellung 10 im Quadrat schießt Lukas von jeder Musikerin und jedem Musiker zwei Fotos: Er möchte einerseits simple, authentische Porträts im Studio machen und andererseits deren Künstlerpersönlichkeit in einem Foto festhalten. „Und das lege ich dann als Doppelbelichtung übereinander“, erklärt Lukas. Für das zweite Bild geht er mit ihnen auf die Straße. Dort kann er etwas experimenteller fotografieren.
Seine Fotografien sind stimmungsvoll und nostalgisch – passend zu seiner Persönlichkeit, sagt er. „Ich mag es sehr so moody, ich finde das immer schwer zu beschreiben, aber ich mag es so melancholisch.“ Am liebsten sind ihm neblige Szenen oder Shots, die abends entstehen. Inspiration holt er sich auf Instagram oder auch von Filmen, „wenn es um Farben geht“. Momentan sind ihm die Bilder aus dem Film „Die Fabelmans“ im Kopf hängen geblieben.
Daniel Nguyen
Entscheidend war das eine Jahr, das er in Indonesien verbrachte. Kurz zuvor hatte sich Daniel Nguyen eine analoge Kamera am Flohmarkt gekauft. Seine Motive: Skateboarder und andere Personen, die ihm durch das Bild rannten. Am besten, sie wussten gar nicht, dass sie fotografiert werden. „Egal, wo ich unterwegs war, habe ich einfach die Kamera auf die Leute gehalten“, erzählt Daniel. Und das mit Erfolg: Mit seinen Fotografien aus dem Jahr in Indonesien bekam er ein Feature bei Sabukaru, einem großen japanischen Magazin für Subkultur.
In Indonesien hatte er seit Ewigkeiten wieder regelmäßig fotografiert und merkte da erst so richtig, dass seine Arbeit gut ankam. Also machte er weiter. Es folgte eine Ausstellung seiner Bilder in Konstanz, später zog Daniel zum Studieren und Arbeiten nach München. „Als ich dann nach München gezogen bin, habe ich erst in Agenturen gearbeitet und nebenher meine ersten Fotojobs gehabt, so kleinere. Und irgendwann habe ich den letzten Agenturjob gekündigt, um nur noch Fotos zu machen.“ Heute ist er 28 Jahre alt und freier Fotograf.
Seine Fotografien sind dem authentischen, unvollkommenen Stil treu geblieben. Daniel fängt Momente ein, so wie sie gerade auf der Straße passieren. Möglichst unverschönt und ungestellt. Er ist immer auf der Suche nach „so ein bisschen was, was dem Bild Charakter gibt, so ein paar kleine Fehlerchen“. Es geht ihm darum, die „Person so darzustellen, wie ich sie wahrnehme. Ich konstruiere sehr ungern Sachen oder fake Situationen.“
An diesem Nachmittag trifft sich Daniel mit der Münchner Sängerin Malva Scherer im Café Jasmin. Er hat die vergangenen zwei Wochen gekränkelt, also bestellt er sich Ingwertee mit Minze und einen doppelten Espresso dazu. Seine Kamera liegt neben ihm am Tisch - sie shooten heute für die Ausstellung 10 im Quadrat. Malva und er unterhalten sich, als wären sie Freunde, die sich auf einen Kaffee treffen. Nur ab und an greift er zur Kamera und macht ein, zwei Fotos. „Ich werde immer mal wieder fotografieren, aber du musst gar nicht darauf achten“, erklärt er Malva.
Daniel trägt blaue, lockere Jeans und einen hellgrauen Pulli, unter dem eine Silberkette hervorleuchtet. Auf seinem Kopf sitzt ein dunkelgrauer Beanie. Ein richtiger Skaterlook eben. Daniel interessiert sich sehr für Streetwear und Popkultur. „Ich kenne die meisten Hip-Hop-Alben aus den Neunzigerjahren, aber auch jetzt noch“, sagt Daniel. Skater ist er seit seinem elften Lebensjahr. Damals lebte er mit seiner Familie in Balgheim, einem Dorf mit gerade mal tausend Einwohnern. Mit 14 begann er, sich mit den Kameras seines Vaters auseinanderzusetzen. Das Skaten war seine erste Inspiration zur Fotografie und verfolgt ihn seit jeher. „Wir haben früher auch viel gefilmt und es war immer so ein Ziel, ein Skate-Video zu machen“, sagt Daniel.
Damals wie heute geht es ihm um die Dokumentation vom Leben draußen auf der Straße. Es geht ihm um ehrliche Streetfotografie und authentische Porträts. „Auch beim Skateboarden habe ich immer dokumentarisch gearbeitet“, sagt Daniel. Um die Personen vor der Kamera dazu zu bringen, sich zu öffnen, trifft er sich ausführlich mit ihnen und versucht, jeden einzelnen ein Stück weit kennenzulernen – „dass man intime Momente teilen kann“, erklärt er. Er probiert nicht nur Ereignisse festzuhalten, sondern auch das, was davor und danach passiert, die Emotionen, die hochkommen. „Das finde ich so aufregend und davon kann ich nicht genug kriegen“, sagt Daniel.
Deza Realdy
Deza Realdy steigt aus seinem schwarzen Audi: dunkle Baggy-Jeans, Jeansjacke, samtene Kappe, auf der eine stylishe Sonnenbrille sitzt. Es ist ein bewölkter, regnerischer Tag in der Vorstadtgegend am Rande von Sendling. Gerade mal acht Grad am Thermometer. Deza holt ein schwarzes, ledernes Kameratäschen mit goldenem Reißverschluss aus dem Kofferraum - mehr braucht er nicht.
Mehr hat er auch gar nicht. „Ich hab nur meine Kamera und das war’s“, sagt er. Eine Nikon D5300, um genau zu sein. Obwohl das mehr eine Einsteiger-Spiegelreflexkamera ist, ist er zufrieden damit. Er mag es, „das Meiste aus dem Wenigsten rauszuziehen“, sagt er. Fast immer shootet er im Freien, experimentiert mit Perspektiven und bringt die Models in „crazy Posen“.
Für die Ausstellung 10 im Quadrat hat er „eine Serie aus zehn unterschiedlichen Perspektiven“ vor. Mit Alexis Böttcher, bekannt unter dem Künstlernamen Packed Rich, geht er dafür auf ein kleines Feld neben einer stark befahrenen Straße. Deza tastet den Boden nach einer trockenen Stelle ab. „Stell dir mal vor, es wäre Sommer, Bro“, sagt er und bittet Alexis, sich in die Wiese zu legen. „Mach mal die Augen zu, enjoy mal komplett den Moment.“
Deza, 23, studiert Medieninformatik in Regensburg, pendelt aber Am Wochenende wegen Familie, Freunden und seiner Freundin nach München. Geboren wurde er in Jakarta, der Hauptstadt Indonesiens, und aufgewachsen ist er in Freising. Fotografie ist seine Leidenschaft, mit der er sich gerne selbständig machen möchte. Für seine Fotos versucht Deza makellose Kompositionen zu schaffen. Gerne geht er dafür auf die Straße. Alles soll zusammenpassen: Location, Pose und auch das Outfit. Er legt viel Wert auf Mode und bezeichnet sich als einen durchaus oberflächlichen Menschen. Das erklärt sich auch durch sein Umfeld: Einige seiner Freunde seien im „Influencer-Fashion-Game“, sagt Deza.
Mit ihnen machte er auch seine ersten Fotoshootings, anfangs mit der Kamera von seinem Vater. Sein erstes „Fit Pic“ für Instagram schoss er vor fünf Jahren von einem Kumpel am Odeonsplatz. Dafür überlegte er sich zum ersten Mal ein richtiges Konzept, das er im Nachhinein „voll cringe“ nennt. Sein Freund trug ein Outfit mit vielen Nieten, vielen Accessoires und vielen Ringen an der Hand. Die Umgebung war weniger spannend, „Standard München Odeonsplatz“, sagt Deza. Aber er hatte Erfolg mit dem, was er machte. Später machte er Fotos für Kooperationen von Freunden und Freundinnen mit Marken wie Zalando, Prada oder Diesel. Vor allem in den vergangenen drei Jahren schaffte er es, tiefer in die Branche hineinzufinden.
Zurück am Wiesenstück in Sendling. Deza macht Posen vor, Alexis macht sie ihm nach. „Digga, richtig nice, Bro“, sagt Deza und zeigt Alexis eine Aufnahme, auf der es aussieht, als würde er am Löwenzahn riechen. Musiker und Musikerinnen zu fotografieren, ist nicht ganz neu für Deza. Seine Freundin ist eine Münchner Newcomerin, unter dem Namen Dimila macht sie Indie-Pop. Für sie hat er schon PR-Bilder und Covershootings übernommen und für das Musikvideo ihrer neuesten Single Regie geführt.
Kateryna Riabenko
Den Anfang machten einfache Instagram-Fotos. Für eine Kamera hatte Kateryna Riabenko zu wenig Geld, also musste ihr Handy herhalten. Zu dem Zeitpunkt lebte sie noch in Kiew in der Ukraine. Eine Stadt, in der Instagram sehr beliebt ist, erklärt Kateryna. Also schrieb sie Leute an und fragte sie, ob sie Fotos von ihnen machen könne. Einfach zu Übungszwecken.
Das ist nun ungefähr drei Jahre her. Und seit ziemlich genau einem Jahr lebt Kateryna in Deutschland. Als Russland die Ukraine überfiel, entschied sie sich, nach München zu kommen, weil eine Freundin von ihr hier studierte. „Ich dachte, ich werde nur zwei Wochen oder vielleicht ein Monat bleiben, aber jetzt bin ich schon seit einem Jahr hier“, sagt sie. In München lernt die 26-Jährige Deutsch und geht ihrer Liebe zur Fotografie nach. Noch ein weiteres Jahr darf Kateryna laut ihrem Flüchtlingsprogramm bleiben. „Danach werde ich wahrscheinlich zurück nach Hause oder in ein anderes Land ziehen“, sagt Kateryna. Sie ist alleine unterwegs, ihre Familie ist noch in Kiew.
Die Fotografie ist bisher mehr ein Hobby für Kateryna, aber sie möchte sich professionalisieren. Dazu entschied sie sich, als sie mit 23 ihren zehnten Job kündigte. „Ich saß in der Küche und realisierte, dass ich nichts von dem mochte, was ich machte“, erzählt Kateryna. Keiner ihrer Jobs hatte sich erfüllend angefühlt – weder der in der Volksschule, noch der im Verkauf oder sonst wo. Also erlaubte sie sich den Gedanken, was sie nachgehen wollen würde, wenn es nicht ums Geld ginge. Da kam sie zu dem Schluss, dass sie Fashion-Fotografin werden will.
Ihr fotografischer Stil verändert sich nach ihrer allgemeinen Gefühlslage, sagt Kateryna. Momentan sind Schwarz-Weiß-Bild angesagt. „Farben können ablenken“, erklärt sie, „bei Schwarz-Weiß-Bildern fokussiert man sich mehr auf die Person.“ Sie möchte Emotionen abbilden – so authentisch wie möglich. Auf keinen Fall aber möchte sie Models in Posen bringen. „Bei meinen Shootings lächeln oder grinsen die Personen immer oder machen, was sie wollen.“
Für die Ausstellung 10 im Quadrat bedeutet das, dass sie die Musiker und Musikerinnen mit ihren „perfect imperfections“ porträtiert. Sie möchte sie zeigen, wie sie sind, „auch, wenn sie Narben oder Makel haben“. Den Singer-Songwriter Matteo Germeno trifft sie dafür an der U-Bahn-Station Königsplatz. Kateryna hat einen kleinen schwarzen Rucksack auf dem Rücken und eine kleine Kamera in der Hand. Ihre Figur zierlich, ihre Haare lang und dunkelblond und ihr Lächeln mit einer kleinen Narbe oberhalb ihrer Lippe. Sie fotografiert Matteo mit seiner Spiegelung vor einer Glasvitrine. Es ist die Schwierigkeit, alleine mit sich selbst zu sein, die sie abbilden wollen. Mit ukrainischem Akzent gibt sie Matteo die Anweisung, sich ein bisschen locker zu machen.
Auch auf ihren frühen Fotos in Kiew sieht man Menschen, die sich sehr natürlich und möglichst nicht gestellt vor der Kamera bewegen. Viele der Fotos entstanden auf der Straße. Meist steht eine Person klar im Mittelpunkt, posiert vielleicht auch ein klein wenig, ist aber dennoch Teil eines Schnappschusses. Einer ihrer ersten Instagram-Posts: eine junge Frau in Jeanshose und Jeansjacke, die mit flottem Schritt die Straße quert. Die gelbe Einkaufstasche in ihrer Hand schwingt mit der Bewegung mit, sie selbst schenkt der Kamera ein unauffälliges Lächeln.
Victoria Schmidt
Was, wenn der Sehnsuchtsort so weit weg zu sein scheint? Der eine Ort der Inspiration? Was, wenn man denkt, niemals an diesem Ort leben zu können? Man beginnt, sich weit weg zu träumen und das Abenteuer in das kleine Kaff zu holen, in dem man wohnt. „Wenn wir sagten, wir machen Adventures, hieß das, wir machen Fotos“, erzählt Victoria Schmidt. Sie wuchs in Deggendorf auf, einer Kleinstadt in Niederbayern, in der sie früh lernte, sich die Zeit zu vertreiben. Gemeinsam mit Freundinnen streunte sie auf ihren „Adventures“ durch die Straßen. Erst mit dem Handy, dann mit der Familienkamera. „Ich erinnere mich noch an ein Foto, wo eine Freundin vor einer coolen, verwitterten Garage gesprungen ist – das sah dann so aus, als ob sie schwebt“, sagt Victoria.
Dann ging es „vom Hobby gleich zur Titelstory“, sagt sie mit einem halbernsten Unterton. Mit 19 war Victoria Teil eines theaterpädagogischen Projekts am Residenztheater in München und knipste nebenbei Fotos mit ihrer Kamera. Das fiel einer beteiligten Assistentin auf, die ihr kurzerhand ermöglichte, das Foto für die Titelstory der Zeitschrift Junge Bühne zu schießen. Heute ist Victoria 27 Jahre alt, studierte Theaterwissenschaftlerin und gibt sich als Fotografin unter dem Künstlernamen Victoria Jungblut aus. „Schmidts gibt es viele“, sagt sie. „Jungblut war ein Mädchenname von meiner Großmutter oder Urgroßmutter väterlicherseits“ - er klang melodisch, also eignete sie sich ihn an.
Noch immer träumt sie sich gerne in die Ferne. Ihr Sehnsuchtsort? Paris. Mit zwölf Jahren hatte sie begonnen, Französisch zu lernen - immer, wenn sie keine Lust auf andere Hausaufgaben hatte, widmete sie sich dieser Sprache. Nach Frankreich zu gehen, war ihr großer Traum, den sie sich oft nicht mal träumen wagte. Zu teuer, zu groß und einfach unrealistisch. Doch dann ging er in Erfüllung: zwei Semester an der Sorbonne in Paris. „Ich wurde an der Uni angenommen und bin einfach los”, sagt Victoria. Sie ging in Pariser Museen, schaute sich französische Filme an und fotografierte irrsinnig viel – die Stadt machte etwas mit ihr. „Paris ist eigentlich ein Lebensgefühl“, sagt Victoria. Gedanklich ist sie oft noch an der Seine, stürzt sich gerne in dieses nostalgische Gefühl. „Wenn ich nochmal hinfahren würde, müsste ich mir eingestehen, dass dort eine Parallel-Victoria nicht die ganze Zeit noch weitergelebt hat“, sagt sie.
Aber verkriecht sich nicht jeder manchmal in Tagträumen? Beamt sich an einen anderen Ort, obwohl man gerade zuhören sollte? Victoria meint ja. Deswegen porträtiert sie für die Ausstellung 10 im Quadrat die Musiker und Musikerinnen mit Dingen, Gefühlen oder Orten der Sehnsucht. Ganz individuell überlegt sie sich, wie man das, was für sie Paris ist, in zehn ausdrucksstarke Settings packen kann. Dabei versucht sie, verträumte Blicke auf den Fotos einzufangen.
Beim Fotografieren kombiniert sie „teure Technik mit billigen Methoden“. Für die verträumte Optik hat sie einen Filter mit Haarspray vor der Linse und hält manchmal ein Prisma vor die Kamera, um Spiegelungen zu erzeugen. Zum Fotoshooting mit der Musikerin Laura Glauber kommt sie mit einem vollgepackten Ikea-Sack: Regenschirm, Schal („falls jemandem kalt wird“) und ein Schemel. „Life is hard, wenn du 1,63 bist“, witzelt sie.
Laura posiert vor dem Straßenschild der Berliner Straße, Victoria steht mit ihrem Schemel am Rande der Kreuzung. Sie duftet nach Parfum und hat schwarze Oxford-Schuhe, eine Anzughose und einen beigen Parka an. Die Stirnfransen ihrer langen, mittelbraunen Haare liegen oben auf der Kamera auf, wenn sie sie ans Auge hält. Sie versucht, sich mit Anweisungen zurückzuhalten – Laura soll sich in das Gefühl, das sie mit Berlin verbindet, hineindenken können. Victoria denkt derweil an Paris und versucht, den zeitlosen Stil von alten französischen Filmen in ihre Fotos einfließen zu lassen. Ihre größte Inspiration? Die „Nouvelle Vague“ und wie man es damals schaffte, „mit einfachen Mitteln große Effekte zu erzielen“.
Die Musikerinnen und Musiker
Alexis Böttcher
Alexis Böttcher kommt die Treppen heruntergerannt. Er stolpert. Gerade noch so kann er sich am Geländer halten. „Ich hab’ komplett verschlafen, Leute“, sagt Alexis. Seine Haare sind verwuschelt und sein Outfit hängt an seinem Körper, als hätte er es sich gerade erst übergeworfen. Braune Stoffhose und graumelierter Pullover. Bis um sieben in der Früh sei er mit Freunden „bei ’nem Homie einfach zusammengehangen“, sagt Alexis. Er grinst verlegen und man kann es ihm nicht übel nehmen.
Alexis, er nennt sich als Musiker Packed Rich, ist ein 24-jähriger Beatproducer und DJ. Musik ist sein Lebensinhalt und auch hauptsächlicher Lebensunterhalt. Mit Beats irgendwo zwischen Hip-Hop, Lo-Fi und Techno spielt er regelmäßig Gigs in München. Den Ursprung haben seine Auftritte aber ganz woanders – bei „Wohnzimmerkonzerten“ bei seinen Großeltern. Am Klavier im Keller ihres Hauses begann er als Kind zu improvisieren. Er kombinierte Tasten, „wie man beim Malen Farben zusammenmischt“, sagt Alexis. Er baute sich seine eigene kleine Welt am Klavier zusammen, erzählt er. Seine Großeltern ermutigten ihn darin, schrieben Flyer auf der Schreibmaschine und luden Familienmitglieder zu seinen „Konzerten“ ein. Mit fünf schenkten sie ihm sein erstes eigenes Klavier. „Dann hatte ich einfach ein Klavier in meinem Zimmer stehen“, erzählt Alexis.
Erst später experimentierte er mit anderen Genres. Zuerst in Richtung Dubstep und House, bevor er seine Leidenschaft für Hip-Hop entdeckte. Als er auf der Bravo-CD seiner Schwester zum ersten Mal „Feel Good“ von Gorillaz hörte, war die Faszination für Beats geweckt. Er wollte das, was seine Lieblingsinterpreten machten, auch selbst produzieren können. In den folgenden Jahren hörte er nichts anderes als Hip-Hop und begann selbst mit dem MPC Musik zu machen.
Im Wohnzimmer der WG, in der Alexis mittlerweile wohnt, steht jetzt das Klavier von früher. Es ist ein großzügiges Wohnzimmer mit einer Tür zu einem grünen Vorgarten. Über eine Wendeltreppe gelangt man zu den Zimmern von Alexis und seinen Mitbewohnern und Mitbewohnerinnen – beinahe alle musikaffin. Insgesamt wohnen sie zu siebt in dem Haus am Stadtrand von München, in dessen Einfahrt ein altes Feuerwehrauto steht. Die Gegend sei ziemlich gutbürgerlich, sagt Alexis, es gebe hier „viele Leute mit Gartenzwergen“. In ihrer WG wohnen auch zwei Maine-Coon-Katzen – sie gehören seiner Mitbewohnerin Jessica Pham.
Jessica hat auch die Vocals für das Intro von Alexis neuem Album eingesungen. Erst Ende April veröffentlichte er „Warp Fields“ – seine neue Platte, die neben ein wenig Stimme vor allem viele Beats beinhaltet. Genauer gesagt viele Breakbeats und einen hörbaren Techno-Einfluss. Nicht mehr so wie die Hip-Hop-Beats von früher. Als „funky und vom Rhythmus etwas schneller“ beschreibt sie Alexis.
Er sitzt am Bett in seinem Zimmer und erzählt von seinen Einflüssen und Zukunftsplänen. Alexis widmet sich momentan zu hundert Prozent der Musik – auch sein Studium hat er dafür erstmal hingeschmissen. Zu viele Gigs, zu viel Musik im Kopf. „Aber vielleicht kommt irgendwann der Punkt, dass ich mich kurz entspannen kann mit dem, was ich mir aufgebaut hab’“, sagt Alexis, „dann wäre es eigentlich richtig geil, wenn ich noch was Neues lernen könnte.“ Aktuell bleibt dafür einfach nicht genug Zeit. „Jetzt gerade bin ich in meinen Masterplan verstrickt und muss da weitermachen.“
Matteo Germeno
„It’s making me nervous, ’cause it feels a lot like love“ – verschwommene Klänge, zarte Drums im Hintergrund. Die Stimme darüber könnte die eines Sängers aus einer Boyband sein. „Es fühlt sich an, als stecke ich in einem Fiebertraum von dir und mir“, hört man ihn singen. Im dazugehörigen Musikvideo Szenen auf einem Felsen im Ozean. Darauf ein junger Mann in rosa Baumwoll-Pullover, brauner Hose und Perlenkette. Seine wuscheligen Haare wehen im Wind.
Matteo Germeno heißt der Sänger, der melancholisch in die Kamera blickt. „Fever Dream“ war der erste Song seines Soloprojekts – ein Song, der ihm ganz natürlich von der Hand ging. Er handelt von Liebe und Enttäuschung, er ist eine Mischung aus „was Traurigem und was Glücklichem“, sagt Matteo. Ein Pop-Song, der von Matteos sanfter Stimme getragen wird. Für Matteo hat es Priorität, dass seine Texte einen gewissen Tiefgang haben - oder „Drive“, wie er es nennt.
Seine Lieder sind eingängig, als könnte man mitsingen, wenn sie im Radio liefen. Auch optisch kauft man ihm die Rolle als Singer-Songwriter ab: Er trägt bunte Hosen, weite Hemden und kleine, schillernde Ohrstecker. Klickt man durch seine Instagram-Posts, könnte man meinen, er sei ein 23-jähriger Münchner Harry Styles. Dabei präsentiert sich Matteo noch nicht allzu lange als Solokünstler – erst seitdem ihn Sony vor zwei Jahren auf einem Konzert entdeckte und einen Vertrag anbot.
Boybands formten ihn zu dem Musiker, der er heute ist. Seit seinem 15. Lebensjahr war er in Indie-Rock-Bands, mal mit Schulkollegen, dann mit Freunden. Mit seiner allerersten Band fuhr er zum Landhaus seiner Eltern in der Nähe von Landshut, sie wollten ein Album aufnehmen. „Das war extrem cool, dass wir eine Woche da alleine hin sind und im ganzen Haus verteilt ein Studio aufgebaut haben“, erzählt Matteo. In einem Zimmer das Schlagzeug, im anderen der Bass, in einem weiteren die Gitarre. „Dann haben wir gleichzeitig Sachen gespielt und haben so Demos aufgenommen.“ Ein Album ist dabei nicht rausgekommen, „mit 15 weiß man nicht, was man macht“, sagt Matteo.
Er hatte aber immer eine Traumvorstellung, die über eine kleine Schulband hinausging. Er merkte bloß zunehmend, dass er viel Kraft aufwenden musste, um Bandkollegen mitzuziehen. Er fühlte sich in seinen Vorstellungen ausgebremst. Der sonst so zurückhaltend wirkende junge Musiker wusste genau, was er wollte: „Dann muss ich es einfach alleine machen“, sagte er zu sich. Und so entschied er sich, 2021 seine Solokarriere mit Sony zu starten.
„Ich habe immer auch in der Band alleine geschrieben, weil mir Songwriting Spaß gemacht hat“ – alles, was sich änderte, war das professionelle Setting. Von nun an schrieb er seine Texte im Studio mit Produzent und Songwriter. Und er konnte seine Worte direkt vertonen. Seine Richtung: „Mein Stil war schon immer so Indie-Rock bis Pop-Rock, ich habe auch nie andere Musik gehört“, sagt Matteo. Geprägt hat ihn die Musik aus den Achtzigerjahren – Musik, die sein Papa zu Hause hörte, „so The Cure und U2“. Richtige Bands eben. Ihm gefällt auch weiterhin das Musikerleben abseits seiner Solokarriere. Er mag es, die „Produktionen so voll auf die Bühne zu bringen“. Auf Konzerten tritt er deswegen nach wie vor mit Freunden auf – er selbst an Mikrofon und Gitarre. Sein Ziel: eine fünfköpfige Band.
Laura Glauber
„Ich mach ganz oft den Freddie Mercury“, sagt Laura Glauber und streckt ihren Arm in die Höhe, während ihr Blick nach unten geht. Selbstbewusst posiert sie vor einem blauen Baustellencontainer. Lukas Lindner, ein Fotograf der Ausstellung 10 im Quadrat, fotografiert sie dabei. Laura trägt trotz Temperaturen knapp über null ein durchsichtiges, hellrosafarbenes Top. Die Kälte scheint weder ihr noch ihrer guten Laune etwas anhaben zu können.
Laura ist ein Bühnenmensch, das merkt man ihr an. Auch ihre Stimme ist an diesem Nachmittag noch etwas rauchig von der jüngsten Show und dem Feiern danach. Mit ihrer Band Lauraine tritt sie regelmäßig in München auf. Und das mit Erfolg. 2020 – schon ein Jahr nach der Bandgründung - wurden sie von der Junge-Leute-Seite zur Band des Jahres gewählt. „Dann ging es los mit der Pop-Hoffnung“, sagt Laura. Mittlerweile ist sie 28 Jahre alt und studiert zusätzlich zur Musikerinnenkarriere Jazzgesang.
Lauraine, das sind Laura und drei weitere Bandmitglieder. Einer von ihnen ist Stefan Deimel, er spielt Gitarre und begleitet Laura schon seit ihrer Ausbildung an der Neuen Jazzschool in München-Pasing, die sie 2014 gemeinsam begonnen hatten. Bis heute ist Laura ihrer Mutter dankbar, die sie zu diesem Tag der offenen Tür „geschleppt“ hatte. „Da habe ich das erste Mal gemerkt: Man kann ja auch mit anderen zusammen Musik machen“, sagt Laura. „Das war total ein Himmelstor, das da aufgegangen ist.“ Mit 15 hatte sie angefangen zu singen, bis zum Tag der offenen Tür aber immer nur im Alleingang.
Auch wenn ihr von diesem Moment an „wirklich klar war, ich will nichts anderes machen“, hatte Laura noch länger Hemmungen, als Frontfrau durchzustarten. „Ich war immer Backgroundgirl und habe mich nie so getraut, nach vorne zu gehen“, sagt sie. 2020 dann schließlich die Gründung von Lauraine mit ihr als Sängerin. Ihr Stil: Synth-Pop. „Es wurde gesagt, dass wir New-Era-Pop machen, aber es ist schon sehr Synthi-lastig mit sehr vielen Flächen – die Gitarre macht auch so Wolken und Sounds“, erklärt sie.
Was Laura als Künstlerin ausmacht? Bei Auftritten sei sie etwas tollpatschig. „Ich bin ein bisschen sloppy auf der Bühne, ich schmeiß dann mal die Gläser um oder die Bierflaschen“, sagt Laura und grinst. Außerdem setzt sie sich für Inklusion ein und bezeichnet sich als einen sehr offenen Menschen: „Es zählt nicht unbedingt, wer oder was du bist oder wie, egal, ich nehm dich in dem Moment.“ Geprägt haben sie Queen und Michael Jackson, „so die krassen Leute“, später dann auch Beyoncé und Rihanna, es waren „immer die großen Stimmen“, sagt sie.
Laura mag es, wenn die Lichter auf sie gerichtet sind - auch im Studio von Lukas Lindner. Erst ein breites Lächeln, dann ein ernster Blick in die Kamera, „es gibt nur zwei Modi“, erklärt sie Lukas. Sie schnappt sich ihr Handy und dreht ein kurzes Video für ihre Instagram-Story. Ein Versuch und schon im Kasten. „Geil“, sagt sie, legt ihr Handy weg und posiert weiter.
Diana Goldberg
Ein Auftritt am c/o-pop-Festival 2022 in Köln. Diana Goldberg performt „Blossom in the Dark“, als auf einmal die Technik ausfällt. Plötzlich muss sie in der Dunkelheit blühen. Plötzlich ist alles still, nur mehr ihre Stimme zu hören. Also singt sie weiter – a cappella. Das Publikum zieht mit, feiert sie für ihre Spontanität. „Das war so der schlimmste Auftritt ever“, sagt Diana. Der Albtraum einer jeder Musikerin. „Jetzt können wir darüber lachen“, sagt sie.
Diana hat früh gelernt, sich durchzuschlagen. Mit vier begann sie, klassisches Klavier zu spielen, auch auf Wettbewerben. Ein sehr konkurrenzgetriebenes Hobby für ein junges Mädchen. Diana erzählt von einer Mitbewerberin und ihrem Vater, die extra laut husteten, während sie ihren Auftritt vor der Jury hatte. „Die haben einfach zwei Minuten lang durchgehustet, damit ich ja nicht den ersten Preis gewinne oder mehr Punkte kriege als sie“, sagt Diana. Aber sie hat weitergespielt, vor allem, um ihre „Mom happy zu machen“. Mit sieben wollte sie unbedingt ihre ersten Ohrlöcher haben, so wie alle ihre Freundinnen. Ihre Mutter meinte, wenn sie den ersten Preis gewinne, dürfte sie sich welche stechen lassen. „Dann habe ich den ersten Preis gewonnen und meine ersten Ohrlöcher gekriegt“, erzählt sie, „mittlerweile habe ich mir selbst noch ein paar reingemacht.“
Diana, 27, bezeichnet sich als „People Pleaser“. In ihrer Familie mit lettisch-russischen Wurzeln wurde nicht viel über Gefühle gesprochen. Wenn sie traurig war, wurde sie getröstet, aber nicht genauer gefragt, warum sie traurig sei. „Ich habe selbst super viel über mich gelernt, indem mein Klavier mir zugehört hat“, sagt Diana. Sie fing an zu singen – auf Englisch, damit sie zu Hause niemand verstehen konnte. So lernte sie, sich auf eine Art und Weise zu öffnen, wie sie es von daheim nicht kannte.
Ihre ersten Coverversionen von Songs postete sie auf Facebook. Ihr Bruder, Viktor Goldberg, begleitete sie am Klavier und Jonas May, ein Freund, am Schlagzeug. Und auf einmal hatte ihre R’n’B-Version von „Where’s the Love“ von The Black Eyed Peas über Nacht 600 Likes. Den Leuten gefiel ihre Stimme, das wurde Diana in dem Moment bewusst. Sie ließ sich von Interpreten wie The Weeknd inspirieren, fand Gefallen an „darkerer Musik“, weniger am „happy Lullaby-Pop“.
„Ich habe dann die Sphären von dem Melodischen und Düsteren und Cineastischen entdeckt“, sagt Diana. Heute versucht sie mit ihren Songs zu zeigen, dass Ängste und grausame Gedanken an Macht verlieren, wenn man darüber spricht oder singt. „Das ist super heilend“, sagt sie. Dort, wo sie sich früher eingeschränkt hat und nicht sie selbst sein konnte, will sie jetzt mit ihrer Musik hin. Ihre Messages verpackt sie in ein selbstbewusstes Auftreten – sie scheint von sich und dem, was sie macht, überzeugt zu sein.
Ende 2020 hat sie ihren ersten Song „Occupy your Mind“ veröffentlicht. „Why am I craving your acceptance?“, singt sie – es ist ein Song über Narzissten. Sie schreibt Lieder über ihren eigenen Perfektionismus wie „Blackblueyellow” und thematisiert sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz in „FYI“. „Das ist ein Song, den ich eigentlich einfach für mich geschrieben hatte und echt auch Angst hatte, den zu veröffentlichen“, sagt Diana.
Diana steht noch am Anfang ihrer Karriere – am 5. Mai hat sie ihre allererste Headline-Show in München. Um die Halle zu füllen, postet sie viel auf Instagram und hängt Plakate in der Stadt auf. So auch an diesem verregneten Vormittag in Maxvorstadt. Diana hat Plakate aus ihrem Auto geholt, mit denen sie in Richtung Münchner Hochschule spaziert. Sie packt sie unter ihren Mantel, um sie vor dem Regen zu schützen. In schwarzen Doc Martens mit hohem Plateau weicht die sonst recht kleine Musikerin den Pfützen auf der Straße aus. „Oh, guck mal, ein Glückscent“, Diana klaubt einen Cent aus der Spalte im Asphalt. Sie mag es, die kleinen Dinge in der Welt zu sehen, mit Leichtigkeit durch das Leben zu spazieren. Anders, als man es vielleicht von den schweren Themen in ihrer Musik erwarten würde.
Isabel Leila Gütlein
„Mein Papa hat immer gesagt, dass ich erst gesungen habe, bevor ich richtig sprechen konnte“, erzählt Isabel Leila Gütlein. Als Kind sei sie summend und tanzend durch die Wohnung gesprungen. „Ich habe auch schon immer gesagt, ich werde Superstar“, sagt sie. „Ich war mir immer sicher, ich werde irgendwas Krasses bewirken, irgendwas Großes machen.“
In den vergangenen drei Jahren hat sich die 21-Jährige unter dem Namen Gündalein einen Platz in der Münchner R’n’B- und Hip-Hop-Szene verschafft. Schon in der Schule hatte sie sich Texte – mehr in Form von Gedichten – ausgedacht und zu YouTube-Beats gesungen. Ihren ersten Song schrieb sie 2019 auf einem Griechenlandurlaub mit ihrer Tante. 2021 dann ihr erster Auftritt im Import Export. Seitdem ist Isabel mehr als siebzigmal auf der Bühne gestanden – sogar am Afro-Buzz im Olympiastadion und am Oben-Ohne-Open-Air. „Das war für mich superkrass, weil ich im Jahr davor zu meinem Freund gesagt habe, nächstes Jahr werde ich auf einem Festival spielen oder auf Tour gehen, und ich habe dann beides gemacht.“
Ob sie ein Bühnenmensch sei? Absolut. Dabei ist sie vor ihren Performances unglaublich nervös, kann kaum mit jemandem sprechen und würde am liebsten heimgehen. Aber, „wenn der erste Ton gesungen wird, bin ich dann wie in meinen eigenen vier Wänden“. Die Bühne sei ihr „Safe Space“, der Ort, wo sie sich am sichersten fühle.
An diesem Sonntagnachmittag ist Queen Lizzy zu Besuch bei Isabel und ihrem Freund Noah, der sich als Beatproduzent ESC Rilla nennt. Queen Lizzy, eine befreundete Musikerin, liegt in einer Hängematte vor der großen Fensterfront des Wohnzimmers. Die Afrobeats von Ayra Starrs Song „Sability“ laufen im Hintergrund und eine Katze sitzt maunzend am Sofa. „Die ist ein bisschen skurril und alt“, erklärt Isabel. In der Luft hängt noch der Duft von Räucherstäbchen von der gestrigen Studio-Session. Bis zwei Uhr in der Nacht haben sie hier im Wohnzimmer gemeinsam Musik geschrieben, gespielt und aufgenommen. Entstanden sind die Lyrics für Isabels neuen Song „Inner Child“, in dem sie sich fragt: „Was würde ich meinem inneren Kind, der kleinen Isabel, gerade sagen?“
Gemeinsam mit ihrem Freund und Queen Lizzy macht Isabel viele Studio-Sessions. Sie verarbeiten traumatische Erlebnisse und sozialpolitische Themen in Form von Gesang und Rap. Manchmal malt Isabel auch, um ihre Gefühle aus dem Kopf zu bekommen. „Ich bin der Meinung, wenn es einem schlecht geht, muss das raus aus dem System“, sagt sie.
„Who am I“ heißt eine der neuen Nummern, an der sie aktuell gemeinsam schreiben. „Als schwarze, weiblich gelesene Person in dieser Gesellschaft wird man oft darauf reduziert“, erklärt sie. Isabel möchte zeigen, was sonst noch hinter ihrer Person steckt.
Wer Isabel Leila Gütlein denn ist? „Das ist eine sehr gute Frage, die ich jetzt gerade in diesem Moment nicht mal beantworten kann.“ Sowohl persönlich als auch musikalisch fühlt sich Isabel, als wäre sie noch in einer Selbstfindungs- und Heilungsphase.
Heute ist Entspannung für die drei jungen Menschen angesagt. Isabel trägt eine Jogginghose mit Playboy-Hasen und ein weißes, bauchfreies Top – schwarze Adidas-Regenjacke und rosarote Schlapfen dazu. Erstmal bestellen sie Pizza und später wollen sie im Michaelibad in die Sauna gehen. Und wenn sie abends wieder gemeinsam im Wohnzimmer sitzen, soll noch heute eine erste Version von „Inner Child“ aufgenommen werden.
Kinga Noémi Balla
Soundcheck im Bahnwärter Thiel. „Die Nacht ist unser Tag und sie sagt – what a life, what a life, what a life“, singt Kinga Noémi Balla. Ihr rechter Arm am Mikrofon, ihr linker schwingt durch die Luft. Enger Dutt, goldene Kreolen, schlichtes, aber schickes Make-up und pink schillernde Nägel. Hinter ihr ein Mischpult, über ihr eine dicke, gelbe Leuchte. Leichtfüßig bewegt sie sich in ihren Doc Martens und changiert fließend zwischen deutschen, englischen und ungarischen Songtexten.
Das Konzert bei den Female-Hip-Hop-Open-Tracks im Bahnwärter Thiel ist Kingas vierter Auftritt mit ihren eigenen Songs. Auf der Bühne stand sie jedoch schon weitaus öfter. Sechs Jahre lang war sie Teil der Kika-Kinderserie „Tanzalarm“, sie ging auf Tour und gab Autogrammstunden - war ein richtiger Kinderstar. „Dort habe ich alles gemacht: getanzt, gesungen, performt, geschauspielert“, erzählt die 29-Jährige. Später trat sie mit dem Song „These Words“ von Natasha Bedingfield bei „The Voice of Germany“ an und schaffte es bis in die Battles. „Aber es ist halt anders, wenn du vorgegeben bekommst, was du singen musst, als wenn du alleine mit deinem Playback bist und dann die Bühne füllen musst“, sagt Kinga. Erst 2021 veröffentlichte sie ihre erste eigene Single.
Warum sie sich nicht früher traute, mit ihrer Musik an die Öffentlichkeit zu treten? Kinga hatte sich selbst in eine Schublade gesteckt, sich eingeredet, „dass ich nicht der Typ dafür bin, meine eigenen Sachen zu machen“. Vom Gegenteil überzeugen konnte sie ihr Freund und Produzent Leo Maria Geck. Mit ihm verbrachte sie viel Zeit in Berlin, um gemeinsam zu jammen. „Er sagte, du kennst doch voll viele Leute“, erzählt Kinga, „und irgendwann habe ich dann gesagt: Okay, fuck it, dann versuch ich es halt mal.“ Heute singt Kinga sowohl ihre eigenen Lieder bei Auftritten als auch Covers mit einer kleinen Band auf Hochzeiten. Ihre eigene Musik hat mittlerweile einen hohen Stellenwert bekommen, auch wenn neben ihrem Vollzeitjob als Social-Media-Managerin wenig Zeit bleibt. Wann immer sie kann, fährt sie über das Wochenende zu Leo nach Berlin, um neues Material zu produzieren. Maximal einen zusätzlichen Tag kann sie sich dafür frei nehmen - „auf Druck kreativ zu werden, ist manchmal schon schwierig“, sagt Kinga.
Ein Studio in München hat sie bisher nicht. Deswegen konnte sie sich auch auf den Auftritt an diesem Tag im „Bahni“ kaum vorbereiten und ist dementsprechend etwas hibbelig. Im einen Moment quatscht sie selbstbewusst mit den Tontechnikern, im nächsten lächelt sie verlegen. Eingekuschelt in eine braune Bomberjacke stellt sie sich vor die Clubtür und zündet eine Zigarette an. „Ich habe keinen Proberaum mit Mikro und so, wo ich mich krass gut höre oder selber checken kann, was ich überhaupt brauche, wenn ich dann auf der Bühne bin“, sagt sie. Auf ihren Auftritt hat sie sich während der Autofahrt hierher vorbereitet. „Im Auto habe ich meine Ruhe, da kann ich abschalten und singe die Songs dann alle durch“, erzählt Kinga.
Ihr Lieblingssong? „Mezítláb“. Sie erklärt: „Das heißt auf Ungarisch barfuß und da geht’s darum, barfuß durchs Leben zu tanzen, einfach der volle Gute-Laune-Song.“ Oft findet Kinga es schwierig, Gefühle in die deutsche Sprache zu packen – zumindest so, „dass es nicht ganz schlageresk am Ende klingt“. Also baut sie, ihren Wurzeln entsprechend, ungarische und englische Parts in ihre Songs ein. Sie möchte zwar Lebensfreude mit ihren Texten versprühen, aber auch das Drama und den Herzschmerz aus der ungarischen Volksmusik einfließen lassen. Das Ergebnis: Ein Gefühlsmix aus Rap und Gesang, verschiedenen Sprachen und allen Stimmlagen. Fast ein bisschen wie eine ungarische Nina Chuba.
Quirin Schacherl
Quirin Schacherl scheint ein ruhiger Mensch zu sein. Fremde Situationen verunsichern ihn, Einkaufszentren mit ihrer grellen Beleuchtung und dem perfekten Fliesenboden machen ihm Angst. Quirin kommt mit wenigen Worten aus und wenn er spricht, zupft er an seiner Hose oder seine Backen werden rot.
Eigentlich ist Quirin, 22, ein ruhiger Mensch. Eigentlich. „Aber auf der Bühne ist es immer etwas anderes“, sagt er. „Das ist so ein Ausnahmezustand, weil das auch so fern vom Alltag ist, auf einer Bühne zu stehen. Da bin ich wie eine andere Person und voll so wie in einem Tunnel.“ Wenn er mit seiner Alternative-Post-Punk-Band Raketenumschau auftritt, kann er sich nach dem dem Konzert kaum erinnern, was auf der Bühne passiert ist, sagt Quirin.
Auf der Bühne steht er mit seinem Freund und Bandkollegen Leon Frei ganz vorne. Er geht ab, wirft seine schulterlangen Haare hin und her und singt aus voller Kehle ins Mikrofon. „Leon ist ein großer Neunzigerjahre-Grunge-Punk-Fan, damit hat er uns alle auch so ein bisschen infiziert“, erzählt Quirin und sagt, dass ihm das total Spaß mache. Außerdem seien sie begeistert von Hamburger-Schule-Bands wie Tocotronic oder Die Sterne. Daran versuchen sie mit ihrer Viererkonstellation, bestehend aus zwei Sängern, Bassist und Schlagzeuger, anzuknüpfen.
Weihnachtskonzert 2022. All ihre Freunde – Fans will sie Quirin nicht nennen – sind gekommen und das Substanz in München ist ausverkauft. Gemeinsam mit Das Kitsch, einer befreundeten Band aus Augsburg, spielen sie in diesem „runtergerockten Laden“, in dem schon die Sportfreunde Stiller aufgetreten sind. „Das hat sich ein bisschen so angefühlt wie zu landen“ nach einem sehr vollen Jahr, erzählt Quirin. Was genau das Konzert so besonders machte? Die Leute. Und die Stimmung. Der Abend war einfach „sehr schön und wild“.
Obwohl sich ihre Band erst kurz vor Corona gründete, haben sie schon zig Konzerte hinter sich. „Ich glaube, 2021 hatten wir 25 Konzerte in einem Jahr, was dann schon relativ viel ist für so eine kleine Band“, sagt Quirin. Dieses Jahr waren sie schon mit der Band Die Sauna in Hamburg auf Tour. Bis sieben Uhr morgens waren sie unterwegs und haben sich „von der Stadt durch den Dreck ziehen lassen“.
Ausreichend Geld bringt Quirin die Musik alleine aber nicht. Seit fünf Jahren ist er Tontechniker an den Münchner Kammerspielen. Dort absolvierte er auch schon sein Freiwilliges Soziales Jahr, bei dem er Leon kennenlernte. Bevor sie gemeinsam eine Band gründeten, machte Quirin viel Hip-Hop und „Lo-Fi-Indie-Zeug“, im Alleingang und abseits von großen Bühnen. So wie man es vielleicht von ihm erwarten würde.
Malva Scherer
Malva Scherer ist Newcomerin. 2020 begann sie, mit ihrem Freund Quirin Ebnet Musik zu machen, 2021 wurde sie von der Junge-Leute-Seite als Band der Woche vorgestellt. Im November 2022 erschien dann ihr erstes Album, nachdem ihr Manager Gerald Huber auf sie aufmerksam geworden war und sie auf erste Konzerte gebracht hatte. „So fing alles an, weil er mir dann ein Label besorgt hat und irgendwie eine Vision und einen Traum hatte“, sagt Malva.
Jetzt gehe es aber erst so richtig los, erzählt sie. Quirin und sie hatten sich 2018 bei einem Jesper-Munk-Konzert kennengelernt und befreundet. Dass sie beide Musik machen, haben sie zwei Jahre lang außen vor gelassen. Bis sie Corona zwang, in ihren Zimmern zu bleiben. „Dann habe ich irgendwann gesagt: Quirin, lass uns das doch einfach mal probieren. Ich schreibe Songs, hör dir die doch mal an. Und er hatte sofort Ideen und hat sofort angefangen zu arrangieren.“
„Wenn ich könnte, würde ich aus meinem Kopf verschwinden, an Tagen wie diesen graumelierten“, singt Malva in ihrem Song „Kandierter Kummer“. Es war bei der Performance von diesem Song, dass sie sich das erste Mal nackt gefühlt hat. Plötzlich stand sie auf der Bühne, anstatt im Zimmer zu sitzen. Sie sang über ihre innersten Gefühle und noch dazu auf Deutsch. Da merkte Malva: „Das Publikum wird ruhiger, die hören wirklich hin und ich stehe hier vorne und ich singe über meine Melancholie. Und das war so der erste Moment, wo ich so das Gefühl hatte, jetzt ist es echt intim und jetzt weiß ich gar nicht, ob ich das gerade so packe.“
Doch auch daran gewöhnte sich die 20-Jährige schnell. „Jetzt fühlt es sich überhaupt nicht mehr so an, als würde ich mich nackt machen“, sagt Malva. Sie tritt selbstbewusst auf, im Gespräch lacht sie oft und herzlich. Manchmal ist ihr Lächeln so groß, dass sie dabei beinahe all ihre Zähne zeigt.
Mit weißer Bluse, schwarzem ärmellosen Jäckchen, Cordhose, Pünktchen-Strumpfhose darunter und schwarzen, klobigen Schuhen an den Füßen sitzt Malva im Café Jasmin. Vor ihr liegt ein Notizheft voll mit gefüllten Zeilen, als wären sie in einem Stück durch geschrieben worden. Es ist ihr Tagebuch, in dem sie versucht, ihre Gefühle lyrisch zu beschreiben. Oft sitzt sie hier im Café und schreibt an neuen Songs. Alles an dieser Szene wirkt Vintage: die samtenen Sessel, die Tapete im Hintergrund, das Kaffeegeschirr und auch Malva, wie sie in ihren kurzen, lockigen Haaren knetet.
Vintage ist auch der Klang ihrer Musik. Malva nennt es „Indie-Pop-Chanson – ein Mix aus was Neuem und was Altem“. Quirin und sie produzieren alle ihre Songs analog, „keine Drums von der Maschine, kein Keyboard vom Band, es sind alles echte Instrumente“, erklärt Malva. Allesamt gespielt von Quirin, er ist Multiinstrumentalist. Den beiden gefällt vor allem dieser alte, nicht ganz perfekte Klang in ihren Liedern.
Das Einzige, das Malva ein bisschen stört, ist die Schublade, in der sie durch ihre langsamen, melancholischen Songs steckt. „Ich bin nicht nur melancholisch und das will ich auch gar nicht, dass Leute immer denken – weil sie so traurige Songs schreibt, ist sie so eine traurige Person“, sagt Malva. Bei ihrer zweiten Platte will sie dem Stil zwar „treu bleiben“, aber „auch mal was anderes probieren, was Lautes oder ganz andere Sachen angehen, auch mit mehreren Leuten zusammenarbeiten, mit verschiedenen Duett-Partnern.“
Tianping Christoph Xiao
Ausgewaschene, zerrissene Baggy-Jeans, die bis über seinen Knöchel hängen. Oben ein blau-weiß-gestreifter Tommy-Hilfiger-Pullover. Darin ein junger Mann, der immer wieder mit dem Kopf wackelt, um seine schwarzen Haare aus dem Gesicht zu bekommen. Seine Stimme außergewöhnlich tief und ruhig. Tianping Christoph Xiao, 23, ist am Set mit dem Fotografen Julian Janssen. In diesem Moment dreht Julian einen kleinen Laubbläser auf, er soll als Windmaschine dienen. „Das klingt ein bisschen wie meine Musik“, sagt Chris mit ernster Miene. Ein Running Gag unter seinen Freunden, erklärt er kurz darauf und schmunzelt.
Die Musik, die Chris mit dem Sound eines Laubbläsers vergleicht, nimmt in China ihren Ursprung. Er wuchs mit Deutsch und Chinesisch als Muttersprache in der Nähe von Shanghai auf – allerdings ziemlich abseits der Großstadt. Regelmäßig Freunde oder Freundinnen zu treffen war nicht möglich. Also zwang ihn seine Mutter, Blockflöte zu lernen. Chris hatte keine Freude daran, spielte mehr aus Langeweile. „Und dann, als mein Flötenlehrer gesagt hat, du kannst jetzt schon alles, was auf der Flöte möglich ist, habe ich angefangen, Klarinette zu spielen.“ Aber das war ihm noch immer nicht genug, also lernte er auch noch Klavier. Der Widerspruch an der Sache: Seine Eltern förderten ihn sehr intensiv, taten die Musik aber stets als Hobby ab.
Chris erklärt das so: Seine Eltern wuchsen in traditionellen Verhältnissen während der chinesischen Kulturrevolution auf – eine Zeit, in der Materielles als Glück wahrgenommen wurde. Er selbst schätzt sich als privilegiert, etwas wie der Musik nachgehen zu können, das diesem Gedanken komplett widerspricht. Auch, wenn er sich nach wie vor anhören muss, das sei kein „richtiger“ Job. „Ich sehe das anders als meine Eltern, ich finde, viel davon ist sogar mehr als richtige Arbeit“, sagt Chris und bezieht sich auf die Überstunden, die er dafür mache. In einem Punkt gibt er ihnen aber recht: Er möchte finanziell nicht komplett von der Musik abhängig sein. Zu sehr sei das Konzept von Arbeit an ein negatives Gefühl gekoppelt. Also studiert er Physik, das macht ihm noch dazu sehr viel Spaß.
Blockflöte spielt er heute nicht mehr. Die Musik als Pflicht, die zur Leidenschaft wurde, ist ihm aber geblieben. „Eigentlich hat sich gar nicht so viel verändert. Ich glaube, meine Nachbarn mochten mich nie. Und das ist jetzt immer noch so.“ Chris meint, er forme weiterhin einfach Töne zu Klängen. Zu Klängen wie Lo-Fi-Beats und zu Tracks zwischen Pop, Rock und elektronischer Musik.
Chris möchte mit seiner Musik Genres nach Deutschland bringen, die seiner Meinung nach unterrepräsentiert sind. Zum Beispiel Slowcore oder Shoegaze. Er möchte sich vom Mainstream unterscheiden, sich in einem künstlerischen Bereich bewegen, über den man mit spannenden Leuten ins Gespräch kommen kann. In dieser Hinsicht kann er durchaus ein Nerd sein. „Ich könnte sehr lange über Musik reden und ich könnte auch beleidigt sein, wenn jemand mir darin disagreed.“ Da kann es auch mal zu hitzigen Debatten zwischen ihm und seiner Freundin kommen, sagt er.
Außerdem möchte sich Chris auf keinen Stil festlegen, versucht sich ständig weiterzuentwickeln. „Wenn das nicht so wäre, dann würde ich die ganze Zeit meine Musik nach einem Jahr oder so schon ganz, ganz doll schlimm finden“, sagt er. Dabei hilft ihm auch das Spielen in unterschiedlichen Konstellationen: Solo unter dem Namen Plainhead und in einer Band namens Shamo - das ist Chinesisch für Wüste. „Bei mir kann ich halt alles kontrollieren und bei der Band lerne ich ein bisschen mit anderen Menschen auszukommen“, scherzt er. Wobei er das bis zu einem gewissen Grad auch ernst meint. In sozialen Situationen mit fremden Personen fühlt er sich nicht immer wohl – „ich bin halt so ein bisschen eine awkward Person“, sagt Chris.
Shamo, das sind alte Freunde aus Shanghai, mit denen er seit etwa zehn Jahren musiziert, da fühlt er sich geborgen. Bis vor wenigen Tagen waren sie gemeinsam auf Tour: Augsburg, Wien, Halle und Nürnberg. Ihre Show in Nürnberg haben sie in einem alten Stellwerk gespielt, einfach mitten im Raum, erzählt Chris. „Und dann haben wir danach noch so bis sechs Uhr morgens einfach abgehangen.“ Am nächsten Tag „ein bisschen ranzig aufzuwachen“, war Teil der Erfahrung und einer gelungenen Tour.
Seda Yagci
Vorüberziehende Landschaften, Menschen, die aus- und einsteigen. Seda Yagcis Songs entstehen oft in der U-Bahn oder im Zug. Da gibt es Material zur Inspiration, da hat man Zeit zum Nachdenken. „Man kommt mal dazu, aus dem Stress rauszukommen, weil man in der Zeit eh nichts zu tun hat“, sagt Seda mit auffällig rollendem R. Und wenn man ohnehin noch stundenlang dasitzen muss, habe man „den Freiraum, einfach die Gedanken kommen und gehen zu lassen“. Gerade auf dem Weg nach Bozen ins Studio würde ansonsten sehr regelmäßig viel ungenutzte Zeit vergehen. Immer mit dabei: ein kleines Notizbuch in ledernem Umschlag und klobige, schwarze Kopfhörer.
Auch Haltestellen gehören zu Sedas Songwriting-Orten. Lässig lehnt Seda auf der metallenen, weiß lackierten Bank der Bushaltestelle Aidenbachstraße. Lockere Hose, weißes T-Shirt, braune Jacke, Kette und Armband mit bunten Steinen. Ein eher hitziges Outfit für diesen kühlen Frühlingstag Anfang April. Seda beginnt zu erzählen, wie alles mit der Musik begann: Mit vier in die Musikschule und zum Chor, mit sechs ans Keyboard, mit neun Akustikgitarre und mit elf dann E-Gitarre. Mit 14 landete Seda schlussendlich beim Gesang, machte eine klassische Gesangsausbildung, „so Opern und Operetten und so“. Drei Jahre später zog Seda für ein Sommerprogramm am Berklee College of Music in die USA. „Mit 17 bin ich da hin, um zu gucken, ob ich Musik wirklich als mehr als ein Hobby will.“ Es war eine Schule, wo am Eingang zur Mensa Geiger Coldplay spielten – „man kam sich vor wie in einem Film“, sagt Seda. Nach diesem Sommer war klar: Seda will Pop-Artist werden. Als diese Entscheidung getroffen war, kam es noch besser: Es kam eine Zusage für ein Vollzeitstudium an derselben Hochschule.
Ein weiterführendes Studium am Berklee College of Music - das klingt nach dem Traum eines jeden Pop-Neulings. Das einzige Problem: Die Ausbildung war unbezahlbar. Selbst mit Stipendien ließ sich da nichts machen. „Das sind solche Summen, da könnte man sich hier eine Wohnung kaufen“, sagt Seda. Und so war eine Tontechnik-Ausbildung in München die nächstbeste Wahl. „Wenn ich in Deutschland bleibe, dann bleibe ich in München“, das stand für Seda fest. Mittlerweile ist Seda 28 Jahre alt und hat sich als nicht-binärer Pop-Artist in München einen Namen gemacht - mit Musik irgendwo zwischen Pop und Indie stehen regelmäßige Auftritte an. Auftritte wie beispielsweise am Superbloom-Festival 2022.
Besonders herausstechen möchte Seda nicht unbedingt. Sich in die Rolle einer Künstlerpersönlichkeit zu quetschen, wäre das Schlimmste: „Am Ende des Tages ist es das Wichtigste für mich, authentisch zu sein - ich möchte mich nicht verkünsteln, nur der Kunst wegen.“ Authentisch ist vor allem Sedas bodenständige Art und die unglaubliche Faszination für Popularmusik, fast als wäre es eine Wissenschaft. Ansonsten will Seda einfach nur ein „korrekter Mensch“ sein. „Ich hoffe, dass ich als nett wahrgenommen werde. Nett? Das ist so ein ein bescheuertes Wort, dann eben als ,kind‘ und hilfsbereit.“
Seda steigt in den Bus ein, setzt Kopfhörer auf und schlägt ihr Notizheft auf. Was wirkt wie eine Szene aus Sedas Alltag, ist eigentlich nur gestellt – für ein Foto für die Ausstellung 10 im Quadrat. „Ich überleg’ tatsächlich, was ich schreiben kann, ich nütz’ die Zeit“, sagt Seda und lächelt bescheiden. Die Sonne scheint beim Fenster herein und Seda kneift die Augen zu. Schmale Lippen, kurze Haare. „Rosen sind rot, Veilchen sind blau“, als würde es im Heft geschrieben stehen. „Hast du das geschrieben?“, fragt Daniel Nguyen, der Fotograf. „Das ist von mir, ja, ich bin älter als man denkt“, witzelt Seda.