



Die Lippen, so rot wie Blut. Die Haut, so weiß wie Schnee. Helles Studiolicht lässt ihr bleiches Gesicht erstrahlen. So sticht ihr roter Lippenstift besonders hervor. Sie hat ihn kreisförmig aufgetragen, ihn weit über ihre Lippen hinaus geschmiert. Auch das dick aufgetragene Rouge auf ihren Wangen leuchtet der Kamera entgegen.
So etwas fällt auf. So etwas bleibt im Gedächtnis haften. Das ist hilfreich bei dem Fotoprojekt „10 im Quadrat“ der Junge-Leute-Redaktion der Süddeutschen Zeitung. Zehn junge Fotografinnen und Fotografen porträtieren jeweils zehn junge Musikerinnen und Musiker. Zehn im Quadrat ergibt im Idealfall 100 Fotos. Welches bleibt den Betrachtern im Gedächtnis?
Musikerin Marina Vogel steht auf einem niedrigen Podest. Zwei Bierkisten, durch ein schwarzes Tuch verdeckt. Ihre Beine stecken in rot-schwarz geringelten Socken. Sie trägt einen cremefarbenen, gerafften Midirock, der im Licht der Scheinwerfer glänzt. Dazu ein schlichtes, weißes Top. Ihre blonden Haare sind zu einer kunstvollen Flechtfrisur hochgesteckt. An ihren Ohren baumeln Ohrringe in Schleifenform – aus dunklem Kunsthaar. Auf dem Kopf trägt sie einen Hut aus Pappe, aus dessen Spitze ein Schweif aus Kunsthaar fließt.

Carina Lößl-Lamboy hat die junge Sängerin in eine Märchenprinzessin verwandelt. Auf ihre eigene Art. Denn Carina liebt es, den fantastischen Bildern in ihren Gedanken Leben einzuhauchen. Übertrieben und zugespitzt, aber auch echt: Carina will Marina als übergroße Version ihrer selbst zeigen, zwischen Drama, Humor und Energie.
„Ich lieb das – durch Fotografie meine Träume zu visualisieren“, sagt Carina. Und Carinas Träume nehmen allerlei Gestalt an. Zwischen Märchen und Zirkus, Überhöhung und Verfremdung schafft sie sich vor der Linse ihrer Kamera eine eigene Welt. Die Bilder, die hier in einer leeren Lagerhalle entstehen, sind Teil des Fotoprojekts „10 im Quadrat“.
Zehn junge Fotografinnen und Fotografen hatten die Aufgabe, zehn junge Musikerinnen und Musiker innerhalb von eineinhalb Monaten zu porträtieren. Dafür mussten sie auch ein eigenes Konzept entwickeln und umsetzen. Entstanden sind dabei 100 Fotografien, die nun den ganzen Mai über in der Ausstellung „10 im Quadrat“ im Farbenladen des Feierwerks zu sehen sind.
„Siehst du irgendwelche Farben, wenn du deine Musik hörst?“, fragt die Fotografin Thess Riva. Sie sitzt mit Musiker Felix Renner auf dem gelb gestreiften Sofa in ihrem gemütlich eingerichteten Wohnzimmer mit den gelben Vorhängen und dem flauschigen Teppich. Eben noch haben sie sich gemeinsam Felix’ neue Single „Asteroid“ angehört. Nun will Thess Felix’ Musik mit der Kamera einfangen – so, dass Betrachter des Porträts schon wissen, wie sich Felix Musik anhört, bevor sie überhaupt auf Play gedrückt haben. Allein mit Licht, Schatten und Farbe will sie die Stimmung erzeugen, die auch die Musik erzeugt.
Schnell sind sich die beiden einig, dass sich Felix Musik „lila“ anhört. Nur wenige Minuten später hat sich die Stimmung völlig verändert. Die letzten Abendsonnenstrahlen, die durch die Balkontür fallen, hat Thess durch das Zuziehen der Vorhänge ausgeschlossen. Es ist dunkel. Einzig gedimmtes, lilafarbenes Licht sorgt für ein wenig Helligkeit. Der glitzernde Lidschatten, den Felix aufgetragen hat, funkelt.

Im Hintergrund läuft leise Musik. Die Unterhaltung ist verstummt, die Atmosphäre ist konzentrierter, andächtiger geworden. Nur gelegentlich ist das Klicken der Kamera zu hören, wenn Thess erneut ein Foto macht und den Moment einfängt.
Viel Zeit und Energie sind gefragt, wenn es darum geht, an einer Ausstellung wie „10 im Quadrat“ teilzunehmen – Dinge, über die nicht jeder frei verfügt. Eine Fotografin gab drei Wochen vor der Ausstellungseröffnung auf. Ihr Konzept war nicht aufgegangen, sich um ein weiteres zu bemühen, wurde ihr neben dem Studium zu viel. So wurde aus der Ausstellung „10 im Quadrat“ das Projekt „10 mal 9“ – zumindest für einen kurzen Moment. Denn die Musikerinnen, Fotografinnen, Musiker und Fotografen wollten diese Unausgeglichenheit nicht auf sich sitzen lassen.
„Ich bin ein großer Fan von Symmetrie“, sagt Sänger und Gitarrist Christian Pham. Er schlug vor, dass sich die Musikerinnen und Musiker selbst um ihr letztes Porträt kümmern können. Und auch die anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer suchten nach einer Lösung. Als die Fotografin Sophia Küstenmacher von einer Freundin von dem Notstand erfuhr, erklärte sich sofort bereit, einzuspringen.
In weniger als drei Wochen entwickelte sie ein Konzept, porträtierte alle Musikerinnen und Musiker, bearbeitete und entwickelte die Bilder. Genau 60 Minuten – nicht mehr, nicht weniger – nahm sich Sophia Zeit, um die Künstlerinnen und Künstler kennenzulernen und sie während dieses Kennenlernprozesses zu fotografieren.
„Eigentlich“, sagt Carina Lößl-Lamboy, „hat mich das Fotografieren nie interessiert.“

Carina will Geschichten erzählen, von Prinzessinnen, von Jongleuren, von Hexen. Sie will dem Alltag entkommen, Normen durchbrechen.
Ausgetüftelte, bis ins kleinste Detail durchdachte Konzepte – für den jungen Fotografen Noah Kim ist das nichts. „Es braucht nicht viel, um ein gutes Foto zu machen“, sagt Noah, der lieber spontan entscheidet, was sich gerade richtig, was sich echt anfühlt.
Noah trifft den Musiker Christian Pham in dessen Proberaum in der Fat Cat. Noah inspiziert die Inneneinrichtung. Mehrere Gitarren stehen sauber aufgereiht im Regal. Daneben ein Schlagzeug und zwei Mikrofonständer. Noah lässt den Raum kurz auf sich wirken. Dann beschließt er, ein eher schlichtes Foto von Christian zu machen.

Die hat er auch zu dem gemeinsamen Treffen mitgebracht, der junge Fotograf soll ihn beraten.
Noah hingegen hat nur seine analoge Kamera dabei – alles andere überlässt er dem Zufall. Noah sucht sich eine von Christians Gitarren aus, mit der Christian dann auf dem Sofa posieren soll.
Klack, klack, klack. Acht Fotos macht Noah, dann ist das Shooting zu Ende. Es hat nicht einmal eine halbe Stunde gedauert. Aber Noah ist zufrieden – und freut sich auf die Autogrammkarte, die er nun für Christian gestalten darf. Mit seinen Autogrammkarten möchte Noah eine kleine Sammlung zusammenstellen. Die Individualität der Musikerinnen und Musiker soll auf den Bildern genauso zum Ausdruck kommen wie ihre Einheit durch das kompakte Format, das sich auch heute noch in vielen Jugendzimmern findet.
„Wir fangen alle von unten an“, sagt Carina Lößl-Lamboy. Es ist nicht einfach für junge Künstlerinnen und Künstler, sich einen Namen zu machen, eine Marke aufzubauen. Teilzeit- oder Vollzeitstellen, Studium und Aushilfsarbeiten: Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei „10 im Quadrat“ arbeiten hart, um ihren Traum zu verwirklichen. Sie stecken viel Zeit und Energie in ihre Projekte, und geben auch dann alles, wenn sie eigentlich am Ende ihrer Kräfte sind. So wie Carina: „Ich habe mir geschworen, mir keine Chancen entgehen zu lassen. Dann gebe ich halt 200 Prozent.“
„Es ist ganz wichtig, sich als Newcomer-Artist nicht entmutigen zu lassen“, sagt auch Sängerin und Songwriterin Gloria Grünwald. Junge Künstlerinnen und Künstler haben es nicht gerade leicht. Nicht in der Musikindustrie, aber auch nicht im Bereich Fotografie. Zwar verhilft der digitale Wandel den jungen Kunstschaffenden oft schnell zu Aufmerksamkeit – aber diese Beachtung in einer solch schnelllebigen Gesellschaft zu behalten, ist nicht einfach.
Bei ihrem Shooting mit der Fotografin Laila Bierling denkt Gloria an ihre Anfänge als Musikerin zurück. Laila will die jungen Künstlerinnen und Künstler mit Gegenständen fotografieren, die sie in ihrer Kindheit geprägt haben.
Für Gloria sind das ihre Tagebücher und ihre alte, silberfarbene Filmkamera im 2000er-Look. „Ich wollte immer Geschichten erzählen“, sagt Gloria. Als Kind wollte sie die Gedanken und Geschichten, die ihr durch den Kopf gingen, verfilmen. Heute verarbeitet sie diese Ideen in ihrer Musik. Allein im Vordergrund sollen diese Kindheitsgegenstände aber nicht stehen. „Es geht mir darum, das ‚innere Kind‘ und die Verbindung zur Gegenwart darzustellen – eine subtile Reise von damals bis heute“, sagt Laila.
Gloria lehnt auf der Rückbank von Lailas Wagen. Ihre Füße, die in rosafarbenen Chucks stecken, wippen vor dem Fenster hin und her. Die Beifahrertür des Autos ist geöffnet. Ein Bein lehnt aus der offenen Tür.

Laila ist ständig in Bewegung, hin, her, vor und zurück, sie klettert über die Sitze, krabbelt in den Kofferraum. Gelegentlich stellt sie auch einen der Scheinwerfer um, die sie um ihren alten Audi A4 aufgebaut hat. „Ich konnte mir das mit dem Auto erst gar nicht richtig vorstellen“, sagt Gloria, „in der Tiefgarage, mit so wenig Licht.“ Doch mit den Bildern, die Laila ihr immer wieder zwischendurch zeigt, ist Gloria sehr glücklich.
Das Auto steht für Laila für eine Reise. Die Reise durch das Leben. „Ich weiß nicht genau, warum ich Autos so mag, ich glaube, es ist dieses Freiheitsgefühl“, sagt Laila, „mein Auto ist mein Safe Space.“ Beim Fotografieren sieht man Laila an, dass sie sich gerade sehr wohlfühlt. Sie grinst hinter ihrer Kamera.
Als Thess Riva das Licht wieder anmacht, muss Felix Renner zunächst einmal blinzeln. Seine Augen hatten sich schon an die Dunkelheit gewöhnt. Es dauert einen Moment, bis Thess und Felix wieder im Hier und Jetzt angekommen sind. Das Feuerwerk, das Thess auf Felix projiziert hat, hat die beiden noch einen Moment in seinem Bann gehalten. Thess öffnet die Vorhänge. Draußen ist es inzwischen dunkel geworden.
Carina bereitet sich auf ihr nächstes Shooting vor. „Stark, und gleichzeitig super weiblich“ will sie die Musikerin Auri Sattelmair inszenieren. Wie das aussehen soll, hat sie schon genau vor Augen.

Die Fotografinnen und Fotografen
Die Musikerinnen und Musiker
SZ Junge Leute
München lebt. Viele junge Menschen in der Stadt verfolgen aufregende Projekte, haben interessante Ideen und können spannende Geschichten erzählen. Hier werden diese Menschen vorgestellt – von jungen Autoren.
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