„Ein Spieltag ist viel mehr als das Spiel selbst“  

Der Klub steht kurz vor dem Aufstieg, doch die Fans dürfen wegen Corona nicht dabei sein. Wie sich das anfühlt? Anhänger des TSV 1860 über eine außergewöhnliche Saison.

Protokolle: Max Ferstl und Lisa Sonnabend, Fotos: Stephan Rumpf

Zu Beginn der Drittliga-Saison wurde der TSV 1860 München als Abstiegskandidat gehandelt, doch nun würde der Verein mit einem Sieg am Samstag gegen den FC Ingolstadt die Relegation zur 2. Liga erreichen. Dramatik gibt es in dieser Saison also reichlich, eines aber nicht: Fans im Stadion. Wie geht es den Anhängern nach der Spielzeit in der Pandemie? Haben sie mitgefiebert, mitgejubelt, mitgelitten? Haben diejenigen, die sonst bei jedem Heimspiel ins Stadion ziehen, überhaupt den Fernseher eingeschaltet? Die Süddeutsche Zeitung hat mit Anhängern des TSV 1860 München über die Saison gesprochen.

Leo Preschl, 34 Jahre:

Der Verein hat nach dem Abstieg in die vierte Liga zu seiner Identität gefunden. Es ging zurück in die Stadt ins Gründwalder Stadion, zurück zu den Wurzeln. Die Mannschaft hat den Schulterschluss mit der Kurve geschafft. Fans und Spieler, das ist jetzt wieder eine Einheit. Natürlich würden wir in diesem Jahr gerne in die zweite Liga aufsteigen. Der HSV, St. Pauli, Schalke, all diese Namen! Aber selbst wenn es nicht klappen sollte – ein vierter Platz wäre auch ein großer Erfolg.



Trotzdem habe ich diese Saison distanzierter verfolgt als sonst, in kleiner Runde vor dem Fernseher. Man schaut sich das Spiel an, und das war’s dann. An Spieltagen sehe ich das Flutlicht, aber es fällt einem schwer zu glauben, dass da wirklich das Spiel stattfindet, das man gerade im Fernsehen verfolgt. Der Fußball hat sich durch die Pandemie ein weiteres Stück von den Menschen und der Gesellschaft entfernt. Der Stellenwert der Fans ist in der Pandemie nicht gewachsen, denn das Geschäft funktioniert trotzdem wunderbar. Und die coronabedingte Einbußen werden als Ausrede für verschärfte Kommerzialisierung ausgenützt, um den Fan als Kunden weiter auszubeuten.



Normalerweise dreht sich am Spieltag alles darum, gemeinsam etwas zu erleben. Du triffst dich vorher zum Weißwurstfrühstück, und nach dem Schlusspfiff geht es zusammen weiter. Das Spiel spielt an so einem Tag natürlich eine Rolle, aber vielleicht gar nicht die wichtigste. Das hat sich in der Pandemie geändert. Was man dennoch sieht: Wie viel der Verein den Menschen bedeutet. Am Sonntag gegen Bayern II hat das Viertel pulsiert. Das ist gelebte Fußballkultur. 

Lisa Braner, 33 Jahre:

Ein Spieltag ist viel mehr als das Spiel selbst. Er beginnt schon Stunden vorher. Man läuft den Giesinger Berg hoch, am besten noch bei schönem Wetter, dann geht es die Tegernseer Landstraße entlang. An jeder Ecke und vor jeder Kneipe trifft man Bekannte und ratscht ein bisschen. Und nach dem Spiel geht es genauso weiter. Das hat mir in dieser Saison enorm gefehlt. Ich habe seit Jahren eine Dauerkarte, in dieser Saison aber habe ich nur ab und zu mit meiner Familie ein Spiel angeschaut oder mit Freundinnen und Freunden, wenn es die Pandemie zugelassen hat. Ich freue mich aber trotzdem, dass die Mannschaft so gut spielt, mein 1860-Shirts ziehe ich weiterhin an.

Seit einigen Jahren engagiere ich mich bei den Löwenfans gegen Rechts. Wir wollen unbedingt verhindern, dass Rechtsextreme sich im Stadion breit machen, und planen Workshops und Aktionen. Vieles war in dieser Saison kaum möglich. Zum Erinnerungstag im deutschen Fußball am 27. Januar haben wir im kleinen Kreis ein Spruchband gemalt, auf dem „Nie wieder – Gegen jeden Antisemitismus“ stand. Der Fanbeauftragte des Vereins hat es dann beim nächsten Heimspiel in die leere Stehhalle gehängt. Zum 100. Geburtstag von Sophie Scholl vor einigen Tagen haben wir gemeinsam mit Vereinsverantwortlichen einen Kranz an ihrem Grab im Perlacher Forst niedergelegt. Aber wir hatten so viel mehr vorgehabt.

Ich vermisse die Gemeinschaft, die Sechzig ausmacht. Wenn die Löwen tatsächlich aufsteigen sollten, ist wahrscheinlich schon Ausnahmezustand in Giesing. Aber 2018, als wir den Aufstieg in die dritte Liga geschafft hatten, war es etwas komplett anderes. Die Anhänger stürmten den Platz im Grünwalder Stadion, rissen den Rasen aus, feierten im ganzen Viertel. Es ist nicht schön für die Mannschaft ohne Fans. Und für die Fans ist es nicht schön, wenn sie alleine zuhause vor dem Fernseher sitzen. Aber ich bin sicher, sobald die Pandemie vorbei ist, werden alle von Null auf 100 wieder da sein. Vielleicht sogar noch stärker als zuvor. Wir sind ja alle total ausgehungert. 

Florian Falterer, 43 Jahre:

Ich wohne am Ostfriedhof, fast in Sichtweite zum Grünwalder Stadion. Normalerweise wenn ich am Spieltag aus der Haustür gehe, merke ich gleich, es geht los, obwohl ich noch gar nichts sehe. Es liegt dieses Bitzeln in der Luft. Dann gehe ich vor zur Tegernseer Landstraße und schaue zu, wie die Fans eintrudeln, alle in weißen und blauen Farben, es ist so ein schönes Bild. Kinder, Alte, Normale, Betrunkene – es ist diese Mischung, die den TSV 1860 einmalig macht.

Ich betreibe die Bar Riffraff, meine Stammgäste sind alle Dauerkartenbesitzer. Kurz vor Anpfiff leert sie sich deswegen immer schlagartig, nach Schlusspfiff geht es dann hier richtig ab. Und zwar egal ob die Mannschaft gewonnen oder verloren hat, darauf kommt es bei Sechzig nicht an. Seit Ausbruch der Coronavirus-Pandemie vermisse ich diesen Ausnahmezustand im positiven Sinne. Giesing ist nicht mehr zu 100 Prozent Giesing. Es fehlt ein Teil der Seele des Viertels. Bei Abendspielen leuchtet zwar das Flutlicht, doch es herrscht Stille. Sonst war, wenn ein Tor fiel, der Jubel immer im ganzen Viertel zu hören. Wenn eine Chance vergeben wurde, ein Raunen.

Fußball im Fernsehen kann ich kaum anschauen, Geisterspiele erst recht nicht. Mich fasziniert die Fankultur, das Engagement der Sechzig-Anhänger. Im Grünwalder Stadion stehe ich immer in Block F, am liebsten direkt unter der Anzeigentafel, die sollte unbedingt unter Denkmalschutz gestellt werden. Wenn dann noch Sascha Mölders trifft, scheppert es richtig. Ich bin ihm sehr dankbar für seine Tore, aber auch für seinen Unterhaltungswert. Er passt zu Sechzig wie schon lange kein anderer Spieler mehr. Im Riffraff klebt ein Aufkleber mit einem Foto von Mölders, auf dem steht: „Ich musste mich zwischen Geld und Weißbier entscheiden. Hier bin ich.“ Wie es weitergeht? Hoffentlich der Aufstieg. Und dann? Natürlich der Durchmarsch, Champions League und ein Brasilianer. 

Sabine Popp, 50 Jahre:

Ich fand es vom Sportlichen her eine super Saison, trotz der Geisterspiele und obwohl Fußball ohne Fans eigentlich für mich unvorstellbar war und eigentlich auch ist. Im Verein läuft zur Zeit alles friedlich ab, das kenne ich so gar nicht. Sonst gibt es ja bei Sechzig immer nur Stress und Ärger. Auch wenn die Mannschaft den Aufstieg nicht mehr schaffen sollte, hat sie sportlich überzeugt, Trainer Michael Köllner hat einen unglaublichen Teamspirit reingebracht, er integriert die jungen Spieler sehr gut.


Ich schaue Fußball im Fernsehen schon gerne an, aber ohne Zuschauer im Stadion fehlt das Wichtigste und da hat es mir anfangs keinen Spaß gemacht zuzuschauen. Bei Sechzig hat es mich dann trotzdem gepackt. Wenn Sascha Mölders ein Fallrückzieher-Tor schießt, springe ich schon auf und juble. Die Stadionbesuche fehlen mir aber sehr. Anfeuern, rumschreien, das gemeinsame Jubeln und Singen. Man bekommt auch einfach viel mehr mit: Was passiert auf der Bank, wer macht sich warm, was treiben die Fans in den Blöcken?


Mich stört es, dass wir Fans nur noch als Konsumenten gesehen werden, dabei wollen wir das gar nicht sein. Ich sehe mich als sehr kritischen Fußballfan. Zum Beispiel die mehr als fragwürdigen Entwicklungen beim DFB, bei der Uefa oder diese Super League - da hätte es von Seiten der Sechzig-Kurve sicher auch Proteste gegeben. ‚Fußball gehört den Fans‘, dieses Transparent hing ja auch die ganze Saison im leeren Stadion und dem kann ich mich voll anschließen. Es wird höchste Zeit, dass die Fans wieder richtig aktiv werden können.


Ich bin, seit ich neun Jahre alt bin, Sechzger-Fan. Mein Vater nahm mich damals immer mit ins Stadion, ich erinnere mich vor allem an skurrile Gestalten, die ständig geflucht haben. Im Laufe der Jahre habe ich beim TSV viele Freunde gefunden. Bei 1860 gibt es schon auch diejenigen, die unbedingt den Erfolg wollen und dafür fast alles verkaufen würden. Aber insgesamt ist der Sechzger nicht so erfolgsverwöhnt, man ärgert sich viel, aber genau das macht es aus. Ein Bayernfan denkt: ‚Oh, schon wieder deutscher Meister.‘ Das ist ihm inzwischen völlig egal. Aber wenn Sechzig aufsteigen sollte, dann werden alle auf die Straße kommen.

Franz Hell, 67 Jahre

Wenn die Löwen auswärts spielen, haben wir ein Ritual, einen festen Ablauf: Wir leihen uns einen VW Bus, immer den gleichen, und treffen uns am Parkplatz beim Iphitos München. Acht Freunde, fast wie eine Familie. Dann fahren wir los, egal wo die Sechzger spielen. Wenn wir ankommen, geht es erst einmal in ein Lokal, wir kennen uns nach all den Jahren gut aus. Dann das Spiel. Seit 1970 habe ich nahezu jedes gesehen. Zumindest bis zu dieser Saison.

Es ist ein zwiespältiges Gefühl. Einerseits haben wir gerade sehr viel Freude mit unserer Mannschaft. Dem Trainer ist es gelungen, aus elf Spielern eine verschworene Gemeinschaft zu bilden. Und nach meiner Erfahrung sind die Löwen immer dann gut, wenn der Druck nicht so groß ist. Dass sie in diesem Jahr um den Aufstieg mitspielen, damit hat keiner gerechnet. Andererseits ist es sehr schade, dass wir als Fans nicht dabei sein können. Das geht einem schon ab. Im Stadion läuft es einem schon vor dem Anpfiff eiskalt den Buckel runter. Das ist nochmal eine Steigerung, als wenn man die Spiele im Fernsehen sieht.

Ich bin Löwen-Fan, seit mich mein Vater an meinem Geburtstag zu einem Spiel gegen Braunschweig mitgenommen hat. Diese Atmosphäre! Dieser Zusammenhalt! Irgendwann habe ich mein Leben komplett auf den Verein eingestellt. Wenn eine Familienfeier anstand, habe ich gesagt: Falls ihr Wert darauflegt, dass ich dabei bin, dann darf da kein Sechzger Spiel sein. Die Löwen haben Priorität. Immer.

Ich hoffe, wir dürfen bald zurück ins Stadion. Dann wird auch unser Bus wieder fahren. Aber es wird anders sein als vorher. Ein langjähriger Freund, der immer dabei war, ist vor Kurzem gestorben. Ein schwerer Verlust. Bei der Beerdigung werden wir, also die verbliebenen Freunde, uns wieder richtig treffen, zum ersten Mal seit langer Zeit.

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