Fußball-WM

Boykottieren oder nicht? Ein Pro und Contra

Der Sport kann nichts dafür, dass die WM in Katar stattfindet, deshalb ist Schauen in Ordnung. Oder sind Korruption, missachtete Menschenrechte und tote Gastarbeiter nicht doch triftige Gründe, die Veranstaltung zu ignorieren? Ein Pro und Contra.

Ein Boykott ist angebracht

vs.

Schauen ist in Ordnung

Fußball-WM

Boykottieren oder nicht? Ein Pro und Contra

Der Sport kann nichts dafür, dass die WM in Katar stattfindet, deshalb ist Schauen in Ordnung. Oder sind Korruption, missachtete Menschenrechte und tote Gastarbeiter nicht doch triftige Gründe, die Veranstaltung zu ignorieren? Ein Pro und Contra.

Ein Boykott ist angebracht

vs.

Schauen ist in Ordnung

Aus Liebe zum Spiel

Ein Boykott bietet außerdem die Chance, den Fußball wieder neu kennenzulernen.


Kommentar von Martin Anetzberger

24. November 2022 - 5 Min. Lesezeit

Weniger als zehn Millionen Zuschauer haben das erste Gruppenspiel von Kapitän Manuel Neuer ohne „One Love“-Armbinde und der übrigen DFB-Elf am Mittwoch in der ARD verfolgt. Das sind zwar deutlich weniger als beim letzten deutschen Auftakt (2018: 26 Millionen). Nicht nur wegen der arbeitnehmerunfreundlichen Anstoßzeit um 14 Uhr mitten in der Woche ist es aber zu früh, um zu sagen, ob sich ein nennenswerter Teil der Bevölkerung wegen des hochumstrittenen Turniers in Katar tatsächlich vom WM-Fußball abgewandt hat. Doch wäre so ein Zuschauerboykott überhaupt angebracht?

Dass die Fifa die WM mit Katar in ein Land ohne Fußballtradition vergeben hat? Geschenkt. Das Spiel Soccer war 1994 in den USA auch kein Massenphänomen. Dass die Spiele stattfinden, wenn auf der Nordhalbkugel Winter ist? Warum nicht mal was Neues ausprobieren. Dass wohl Korruption im Spiel war, bevor Katar den Zuschlag erhielt? Wen kann das nach dem Sommermärchen-Skandal ernsthaft überraschen. Dass Katar eine absolutistische Monarchie ist, die Menschenrechte missachtet, auch das ist ein guter Grund für einen Boykott. Doch es hat so etwas Ähnliches auch schon gegeben. 1978 war die Militärdiktatur Argentinien Gastgeber. Und Russland unter Wladimir Putin war auch vier Jahre vor dem Angriff auf die Ukraine keine lupenreine Demokratie.

Was die Fanseele diesmal zusätzlich schmerzt, ist der Tod vieler Gastarbeiter, den das Emirat Katar zumindest billigend in Kauf genommen hat, um sich vor der Welt als perfekter Gastgeber mit beeindruckenden Stadionbauten zu inszenieren. Das und wie arrogant Fifa-Präsident Gianni Infantino auf die Vorwürfe reagiert hat, ist kaum zu ertragen. Die zahlreichen Choreografien in den deutschen Ligen kurz vor Turnierstart zeigten: Für viele der wegen der Corona-Lockouts noch immer ausgehungerten aktiven Fans war das der impulsgebende Grund, dem WM-Fußball den Rücken zu kehren. Es tut weh, sich im Irish Pub aktiv von den Schirmen abzuwenden, während Titelverteidiger Frankreich zum ersten Mal spielt, den unglaublichen Underdog-Sieg der Saudis gegen Argentinien nicht erlebt, mit seinen Freunden nicht hitzig über die richtige Aufstellung für das Japan-Spiel diskutiert zu haben. Doch was ist das gegen das Leid, das die Angehörigen der toten Arbeiter erdulden müssen, deren Liebste ins Ausland gingen, um ihre Familien zu ernähren – und leider nicht mehr zurückkamen?

Es gibt doch auch noch: Teutonia München

Ein Boykott lindert dieses Leid nicht, es muss sich auch niemand schuldig fühlen, der die Spiele ansieht. Schuldig gemacht hat sich die Fifa, deren verdorbene Strukturen Katar erst möglich gemacht haben. Nichtsdestotrotz kann ein persönlicher Boykott für jeden selbst befriedigend und eine Gelegenheit sein, das Spiel, das die ganze Welt liebt, wieder neu kennenzulernen. Gelegenheiten gibt es genug. Am Sonntag spielt nämlich nicht nur Spanien gegen Deutschland, sondern zum Beispiel auch der FC Español gegen Teutonia München in der Kreisklasse. Wenn sich am Ende des Katar-Turniers herausstellt, dass deutlich weniger Fans vor dem Fernseher saßen und dafür ein paar mehr am Spielfeldrand standen, wäre das schön. Diese Vereine können ein paar Euro mehr für Glühwein und Wurstsemmeln besser gebrauchen als die Fifa mit ihren Milliardeneinnahmen für Werbe- und Fernsehrechte.

Aus Liebe zum Spiel

Ein Boykott bietet außerdem die Chance, den Fußball wieder neu kennenzulernen.


Kommentar von Martin Anetzberger

Weniger als zehn Millionen Zuschauer haben das erste Gruppenspiel von Kapitän Manuel Neuer ohne „One Love“-Armbinde und der übrigen DFB-Elf am Mittwoch in der ARD verfolgt. Das sind zwar deutlich weniger als beim letzten deutschen Auftakt (2018: 26 Millionen). Nicht nur wegen der arbeitnehmerunfreundlichen Anstoßzeit um 14 Uhr mitten in der Woche ist es aber zu früh, um zu sagen, ob sich ein nennenswerter Teil der Bevölkerung wegen des hochumstrittenen Turniers in Katar tatsächlich vom WM-Fußball abgewandt hat. Doch wäre so ein Zuschauerboykott überhaupt angebracht?

Dass die Fifa die WM mit Katar in ein Land ohne Fußballtradition vergeben hat? Geschenkt. Das Spiel Soccer war 1994 in den USA auch kein Massenphänomen. Dass die Spiele stattfinden, wenn auf der Nordhalbkugel Winter ist? Warum nicht mal was Neues ausprobieren. Dass wohl Korruption im Spiel war, bevor Katar den Zuschlag erhielt? Wen kann das nach dem Sommermärchen-Skandal ernsthaft überraschen. Dass Katar eine absolutistische Monarchie ist, die Menschenrechte missachtet, auch das ist ein guter Grund für einen Boykott. Doch es hat so etwas Ähnliches auch schon gegeben. 1978 war die Militärdiktatur Argentinien Gastgeber. Und Russland unter Wladimir Putin war auch vier Jahre vor dem Angriff auf die Ukraine keine lupenreine Demokratie.

Was die Fanseele diesmal zusätzlich schmerzt, ist der Tod vieler Gastarbeiter, den das Emirat Katar zumindest billigend in Kauf genommen hat, um sich vor der Welt als perfekter Gastgeber mit beeindruckenden Stadionbauten zu inszenieren. Das und wie arrogant Fifa-Präsident Gianni Infantino auf die Vorwürfe reagiert hat, ist kaum zu ertragen. Die zahlreichen Choreografien in den deutschen Ligen kurz vor Turnierstart zeigten: Für viele der wegen der Corona-Lockouts noch immer ausgehungerten aktiven Fans war das der impulsgebende Grund, dem WM-Fußball den Rücken zu kehren. Es tut weh, sich im Irish Pub aktiv von den Schirmen abzuwenden, während Titelverteidiger Frankreich zum ersten Mal spielt, den unglaublichen Underdog-Sieg der Saudis gegen Argentinien nicht erlebt, mit seinen Freunden nicht hitzig über die richtige Aufstellung für das Japan-Spiel diskutiert zu haben. Doch was ist das gegen das Leid, das die Angehörigen der toten Arbeiter erdulden müssen, deren Liebste ins Ausland gingen, um ihre Familien zu ernähren – und leider nicht mehr zurückkamen?

Es gibt doch auch noch: Teutonia München

Ein Boykott lindert dieses Leid nicht, es muss sich auch niemand schuldig fühlen, der die Spiele ansieht. Schuldig gemacht hat sich die Fifa, deren verdorbene Strukturen Katar erst möglich gemacht haben. Nichtsdestotrotz kann ein persönlicher Boykott für jeden selbst befriedigend und eine Gelegenheit sein, das Spiel, das die ganze Welt liebt, wieder neu kennenzulernen. Gelegenheiten gibt es genug. Am Sonntag spielt nämlich nicht nur Spanien gegen Deutschland, sondern zum Beispiel auch der FC Español gegen Teutonia München in der Kreisklasse. Wenn sich am Ende des Katar-Turniers herausstellt, dass deutlich weniger Fans vor dem Fernseher saßen und dafür ein paar mehr am Spielfeldrand standen, wäre das schön. Diese Vereine können ein paar Euro mehr für Glühwein und Wurstsemmeln besser gebrauchen als die Fifa mit ihren Milliardeneinnahmen für Werbe- und Fernsehrechte.