





SZ: Herr Maloletka, auf einem Foto sind Sie zu sehen, wie Sie mit der Kamera in der Hand in einem Kornfeld vor einer Feuerwand fliehen. Was ist da passiert?
Evgeniy Maloletka: Das war im Sommer, als es Verhandlungen über Getreidetransporte aus der Ukraine durch das Schwarze Meer gab. Wir wollten zeigen, wie schwer es für die Bauern im Krieg ist, Getreide anzubauen und zu ernten, vor allem in der Nähe der Front. Wir fuhren in die Nähe von Charkiw, wo es jeden Tag Beschuss gab und Felder brannten. In der Ferne sahen wir eine Rauchsäule aufsteigen. Wir fragten an einem Checkpoint, ob wir dort hinkönnen. Man ließ uns durch, wir fuhren über Feldwege weiter. Ich wollte nah ran, um ein Close-up zu fotografieren. Während wir filmten, wurde der Wind stärker, und das Feuer raste plötzlich schnell auf uns zu.
Wie oft war Ihr Leben in den fast zwölf Monaten Krieg in unmittelbarer Gefahr?
Das lässt sich in Zahlen nicht ausdrücken. Was ich aber sagen kann: Wenn wir im Auto unterwegs sind an den Kontaktlinien, hört man fast immer Explosionen. Manchmal sind sie weit entfernt, manchmal nur 100 Meter oder noch näher. Manchmal ist die Straße, die aus einem umkämpften Gebiet führt, unter Beschuss, dann muss man sehr schnell fahren, um nicht getroffen zu werden. Am gefährlichsten ist es immer, wenn man sich bewegt. Dann ist man für Drohnen gut sichtbar.
Das klingt alles nach schwer kalkulierbarem Risiko.
Im Krieg ist alles ziemlich unvorhersehbar. Aber man weiß: Wenn ich ein gutes Foto will, muss ich nah ran. Sehr nah ran. Ohne Risiko gibt es im Krieg keine guten Fotos.
Welches Ihrer Fotos aus den vergangenen zwölf Monaten ist Ihnen am meisten in Erinnerung geblieben?
Das Foto, das ich nicht gemacht habe.
Wie meinen Sie das?
Ich habe das Bild nur vor Augen, konnte in der Situation aber nicht fotografieren. Eine Frau kam zum Krankenhaus in Mariupol. Sie schlug mit ihrer blutigen Hand gegen die verschlossene Glastür, sie wollte sie einschlagen. Und sie hatte ein totes Kind im Arm.
Das Bild ist in Ihrem Kopf gespeichert.
Ja. Ich habe ihr dann die Tür geöffnet und den Weg gezeigt. Manchmal geht es eben nicht um Fotos, manchmal muss man einfach helfen.
Wo ziehen Sie da die Grenze?
Ich überlege, ob ich direkt einem Menschen helfen kann. Oder ob zum Beispiel ein Arzt da ist, der das tut. Dann kann ich meinen eigentlichen Job machen und die Situation dokumentieren.


Woher bekommen Sie die Informationen darüber, an welche Orte Sie gehen können?
Normalerweise arbeite ich mit dem Militär zusammen. Man geht nirgends alleine hin. Man braucht einen Guide oder Presseoffizier, der sicherstellt, dass man kommen kann. Dann sind auch der Kommandant und die Truppe im Bilde – die müssen ja wissen, dass wir keine Feinde sind.
Fällt Ihnen das als Ukrainer leichter als anderen?
Ich glaube: Wer als Journalist oder Fotograf Zugang zur Front will, bekommt ihn auch, egal ob Ukrainer oder aus einem anderen Land. Aber das wollen natürlich nicht alle Medien, weil ein hohes Risiko damit verbunden ist und weil das Material, das man von der Front mitbringt, nicht immer sehr umfangreich ist. Wenn man beschossen wird, fotografiert man nicht. Man versteckt sich im Schützengraben.
Lässt das Militär Sie fotografieren, was Sie möchten?
Wenn man mal vor Ort ist, geht es. Aber ehrlich gesagt ist es so: Man wartet sehr viel. 90 Prozent der Zeit bereiten die Soldaten sich auf Angriffe vor oder warten auf Befehle, die sie dann in sehr kurzer Zeit ausführen. Die Artillerie schießt nicht jeden Tag. Sie muss Ziele ausfindig machen, die Kanonen vorbereiten und so weiter. Das eigentliche Schießen ist schnell vorüber.



Kriegsfotografie ist also eine Frage des Timings?
Ja. Die eindrücklichsten Szenen sind die direkt nach einem Angriff. Die ersten Minuten. Wenn alles noch frisch ist und man die Emotionen spürt – und sie auf den Bildern sieht.




Wie nah gehen Sie mit Ihren Bildern ran an das Leid? Gibt es für Sie Grenzen?
Es gibt natürlich verstörende Motive, mit denen man vorsichtig sein muss, und bei denen wir oder die Redaktionen zu dem Entschluss kommen, sie nicht zu veröffentlichen. Oder man versucht, die Szene so zu fotografieren, dass man zeigen kann, was passiert ist, ohne zu sehr zu verstören.
Inwiefern?
Ich habe einen Mann mit einem Loch im Kopf fotografiert. Er blutete, die Ärzte versuchten, ihm zu helfen. Man muss dann auch überlegen: Wenn dieses Bild veröffentlicht wird, welche Konsequenzen hat das für ihn und seine Angehörigen? Ich weiß nicht, ob er in ein paar Stunden noch leben wird, selbst wenn er in dem Moment, in dem ich das Foto mache, ansprechbar ist. Was also, wenn seine Angehörigen das Bild von ihm und seiner schweren Verletzung sehen und er ist gestorben? Ich habe ein Foto veröffentlicht von einem Soldaten, der einen gefallenen Kameraden gefunden hat. Von relativ weit weg aufgenommen. Aber die Mutter des Toten hat das Bild gesehen und ihren Sohn erkannt. Und so erfahren, dass er tot ist.
Bleiben Sie in Kontakt mit den Menschen, die Sie fotografieren?
Mit vielen schon, ja. Vor allem mit den Ärzten aus Mariupol, und den Kindern und ihren Verwandten aus der Klinik.
Wie eng bleibt Ihr Kontakt zu den Soldaten?
Manchmal kommen wir nach ein paar Wochen oder Monaten wieder zur selben Einheit. Aber es kann sein, dass die meisten von ihnen in der Zwischenzeit gefallen sind.

Wie halten Sie selbst das Leid aus, das Sie dokumentieren?
Der beste Weg für mich ist, einfach weiterzuarbeiten. Und mir selbst zu versichern: Du bist ein Soldat im Kampf gegen die Propaganda. Indem du hilfst, Fakten zu den Leuten zu bringen.
Würden Sie sagen, dass Sie ein neutraler Beobachter sein können in diesem Konflikt?
Ich fotografiere, was ich sehe. Und ich schreibe auf, was die Menschen zu mir sagen. Im Fall der Geburtsklinik in Mariupol hat Russland viel Propaganda verbreitet. Viele verschiedene Versionen. Man habe das Gebäude angegriffen, weil dort ukrainische Soldaten stationiert seien. Es sei eine Inszenierung der Ukraine gewesen und so weiter. Ich denke, meine Fotos zeigen deutlich, was die Wahrheit ist.


In Mariupol waren Sie zeitweise die einzigen Journalisten internationaler Medien. Die Welt blickte auf diese Stadt, Ihre Bilder waren eine der letzten verbliebenen neutralen Quellen.
Wir haben einfach so viel dokumentiert, wie wir konnten. Eines der größten Probleme war es, eine Internetverbindung zu finden, die ausreichte, um die Fotos zu senden. Wenn man mal Netz hatte, musste alles gleichzeitig gemacht werden. Fotos verschicken, Mails beantworten, Social Media – und der Familie schreiben, dass man noch lebt.
Herr Maloletka, danke für das Gespräch. Bleiben Sie am Leben und gesund.