Achtung, rutschig

Achtung, rutschig

Krisen, Klima, Rechtsruck: Keine Formulierung drückt die kollektive Überforderung gerade so gut aus wie die Feststellung, die Dinge seien »ins Rutschen geraten«.

Eine Übersicht.

Achtung, rutschig

Achtung, rutschig

Krisen, Klima, Rechtsruck: Keine Formulierung drückt die kollektive Überforderung gerade so gut aus wie die Feststellung, die Dinge seien »ins Rutschen geraten«.

Eine Übersicht.

Von Annabel Dillig
26. Juni 2024 - 2 Min. Lesezeit

Legt man einen Holzklotz auf eine schiefe Ebene, bleibt er so lange liegen, wie ein Kräftegleichgewicht herrscht – zwischen der Haftreibung und der Hangabtriebskraft. Vergrößert man den Neigungswinkel der Ebene, erhöht sich die Hangabtriebskraft, der Klotz rutscht. Auch die Beschaffenheit des Gegenstandes beeinflusst die Haftreibung: Holz haftet gut, ein Jeanspopo auf einer Rutsche ebenfalls. Aber eine regenfeuchte Matschhose auf derselben Rutsche: Huuiiii! Die Dinge kommen in Bewegung.

»Etwas ist ins Rutschen geraten«, diese Formulierung hört und liest man heute ständig abseits des Spielplatzes und des Physik-Unterrichts. Politikerinnen und Wirtschaftsexperten sagen sie sorgenvoll und etwas ratlos in Mikrofone, Pfarrer in Predigten, Journalisten schreiben sie in Artikeln – Hunderte Male allein seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie 2020. Wenn Sprache ein Spiegel der Zeit ist, dann ist »ins Rutschen geraten« der Ausdruck einer Gesellschaft in Habachtstellung. 

Auffällig ist, wo es überall zu diesem mulmig geäußerten Befund kommt: Mit »ins Rutschen geraten« werden der Rechtsruck und das Erstarken der AfD ebenso umschrieben wie die außenpolitische Lage nach der sogenannten Zeitenwende. 

Die Formulierung wird auch genutzt, um einen veränderten Blick auf das Agieren Israels zu beschreiben, die rohen Sitten in den sozialen Netzen sowie gefährliche Entwicklungen beim Klima. 

Wo man hinsieht – es ist das diffuse Gefühl, hier und jetzt verschiebt sich etwas, Gewissheiten gelten nicht mehr in Zeiten, wo Politiker auf Privatreisen bedrängt oder beim Aufhängen von Plakaten zusammengeschlagen werden und wo selbst medizinisches Personal per Security geschützt werden muss. 

Auch im englischen Sprachgebrauch wird zuletzt häufiger gerutscht, in Gestalt der »slippery slope«, wörtlich: rutschiger Abhang. Ein Sprachbild, das verwendet wird, wenn sich jemand argumentativ auf dünnes Eis begibt.

Und obwohl »to slip« ebenfalls rutschen bedeutet, klingt der deutsche Ausdruck unheilvoller: Wer zum Schluss kommt, die Dinge seien ins Rutschen geraten, konstatiert, es geht abwärts. Und der Ausgang ist ungewiss. 

Text: Annabel Dillig; Digitales Storytelling: Sara Peschke; Digitales Design: Lea Sophie Fetköter, Lisa Hingerl

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