Auf Tuchfühlung

Auf Tuchfühlung

Je einflussreicher künstliche Intelligenz ist, desto wichtiger wird die Frage: Was macht eigentlich den Menschen aus?

Wir haben acht berühmte Modefotografinnen und Modefotografen gebeten, das zu zeigen, was Maschinen sicher noch lange Zeit vorenthalten bleibt: echte Gefühle

Auf Tuchfühlung

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Je einflussreicher künstliche Intelligenz ist, desto wichtiger wird die Frage: Was macht eigentlich den Menschen aus?

Wir haben acht berühmte Modefotografinnen und Modefotografen gebeten, das zu zeigen, was Maschinen sicher noch lange Zeit vorenthalten bleibt: echte Gefühle

Art Direction: Birthe Steinbeck, Styling: Samira Fricke
5. September 2024 - 8 Min. Lesezeit

Hingabe

Jo Metson Scott lebt in London. Die 45-jährige Fotografin hat sich mit ihren präzisen Porträts, etwa von jungen Turnern, aber auch mit ihren Modeaufnahmen einen Namen gemacht.

Wie sehr sie geliebt wird, werde sie erst begreifen, wenn sie selbst Kinder in die Welt setze. Diese Worte ihrer Mutter hallen in der Erinnerung der Fotografin Jo Metson Scott bis heute nach. Sie hat inzwischen selbst Kinder in die Welt gesetzt, zwei Töchter, Farron und Sanna. Sie weiß nun, was ihre Mutter einst meinte, als sie versuchte, das Gefühl der Mutterliebe zu erklären – eine Hingabe, die grenzenlos ist.

Um diese Hingabe über Generationen hinweg zu greifen, bat Jo Metson Scott ihre Mutter Jane eines Tages an den alten Kneipentisch, der in ihrem verwilderten Vorgarten steht. Oma Jane, wie ihre Töchter ihre Mutter nennen, macht sich jede Woche einmal auf, um von Nottingham nach London zu fahren, für einen Tag, eine Nacht und noch einen Tag, die sie mit ihren Enkelinnen verbringt. Dann rief Jo Metson Scott auch ihre Töchter an den Tisch.

Aus den Fotos, die dann entstanden, hat sie dieses ausgewählt, weil es in ihren Augen dieses Gefühl der Hingabe spiegelt, eine Mutter, von der Tochter fotografiert, die ihre Enkelinnen herzt, um ihnen zu zeigen, wie sehr sie geliebt werden.

Jane trägt ein gestreiftes Kleid mit hohem Kragen, von Bottega Veneta. Zu ihren Füßen: weißer Lack-Mule mit Absatz, von Bottega Veneta.

Freude

Joshua Woods ist Modefotograf, Filmemacher und Künstler aus New York. Er arbeitete unter anderem mit dem Musiker Travis Scott und dem Schauspieler Willem Dafoe und fotografierte Werbekampagnen für Gucci und Wales Bonner.

»Müsste ich diese Bilder mit einem Gefühl beschreiben, wäre es Freude. Es ist eine Kooperation mit meinem Freund Eric N. Mack. Uns verbindet viel: die Schwarze Popkultur der Neunzigerjahre, Musik, unsere ähnliche Sicht auf Modeästhetik. Es gibt viele Dinge, die uns beide anregen.

Thema der Bilder war kreative Freiheit. Ich finde, kreative Freiheit ist eine Haltung: Hat man sie als Künstler verinnerlicht, kann man mit den eigenen Werken eine neue Sprache kreieren. Wenn ich mit anderen Künstlern zusammenarbeite, frage ich mich immer, wie ich in deren künstlerische Welt eintreten und etwas erschaffen kann, was ihnen bekannt vorkommt. Es soll ähnlich, aber auch anders sein, weil ich meine eigene Perspektive mitbringe.

Bei diesem Projekt wollte ich, dass auf den Fotos Bewegung sichtbar ist. Denn auch in Erics Kunst geht es viel um Bewegung, nämlich um die Art, wie sich seine Stoffe bewegen. Die Arbeit sollte aber auch ein Porträt von uns beiden sein. Eric hat mich dann in Stoffe aus seinem Archiv gehüllt und auch mein Stativ mit seiner Kunst umwickelt. Ich und meine Arbeit wurden so ein Teil seiner Arbeit. Die Materialien seiner Kunst und die Materialien meiner Kunst verschmelzen auf den Bildern.«

Joshua trägt einen Kimono, schwarze Hose, Schuhe und Schmuck, alles privat. Um sein Bein und seine Schultern trägt er Tücher von Eric N. Mack. Installation aus bunten Tüchern am Boden rechts und an der Wand, von Eric N. Mack.

Lebendigkeit

Arielle Bobb-Willis, 30, lebt in Los Angeles, pendelt aber noch oft in ihre alte Heimat New York. Im Oktober erscheint ihr Bildband Keep the Kid Alive.

Halte das innere Kind lebendig: So lautet das Lebensmotto der Fotografin Arielle Bobb-Willis. Es ist auch ihr Arbeitsprinzip: Sie lässt sich in den Straßen treiben, sucht Schönheit im Alltag, hält die Regenbogenfarben eines auf dem Asphalt zerlaufenen Eises am Stiel fest, die Textur eines Holzzaunes, den Schatten zu jeder Tageszeit. »Ich mache Fotos, auf die die 14-jährige Arielle stolz wäre«, sagt Bobb-Willis. Dieses Modefoto entstand dann auch beim Herumtreibenlassen in Bobb-Willis’ Viertel in Los Angeles.

Caleb trägt ein Kleid aus recycelten PET-Flaschen, von Victoria Ruiz.

Nostalgie

Alec Soth lebt in Minneapolis. Er ist unter anderem bekannt für seine eindrücklichen Fotoserien aus dem Mittleren Westen der USA, fotografiert aber auch regelmäßig Kampagnen für große Modehäuser.

»Ein Foto zu einem Gefühl – bei der Aufgabe habe ich mich direkt mit meinem Sohn Gus hingesetzt und sehr lange mit ihm gesprochen. Er ist 17, genau das Alter, in dem es emotional ziemlich auf und ab geht. Ich habe ihn gefragt, welches Gefühl ihn besonders umtreibt.

Ich war auf alles vorbereitet, Wut, Rastlosigkeit, aber er sagte: Nostalgie. Er meinte, er finde es oft schade, dass er kein kleiner Junge mehr ist. Er blickt zurück und bedauert, dass die Unschuld der Kindheit schwindet. Es kommt hinzu, dass wir vor ein paar Jahren umgezogen sind, ihm fehlen also auch die Freunde von früher, die vertraute Umgebung. Ich kann das total gut nachempfinden, mir geht es ähnlich.

Wir wollten dann nicht einfach nur ein Foto machen, sondern uns intensiver mit unserer Nostalgie beschäftigen. Für uns beide gehören zu unseren jeweiligen Kindheitserinnerungen besonders die endlosen Nachmittage, an denen man leicht ziellos in Shoppingmalls rumhing, also fuhren wir los, um das gemeinsam noch mal zu erleben. Wir gerieten allerdings in eine Mall, die – wie so viele – im Sterben liegt, nur noch ein paar Läden geöffnet, richtig desolat. Passte natürlich perfekt.

Vielleicht war Gus deshalb auch bereit, sich direkt dort so fotografieren zu lassen. Normalerweise ist er eher scheu, auch auf seinem eigenen Instagram-Profil versteckt er fast immer sein Gesicht. Aber beim Thema Nostalgie öffnete er sich. Und die Assistentin bei diesem Foto machte es ihm auch einfacher: Es war meine Tochter, sie ist 21 Jahre alt. Sie hat ihn gestylt und sich um alles gekümmert. Ein richtiger Familienausflug.«

Gus trägt ein gestreiftes Hemd, eine Jeans mit doppeltem Kniebesatz sowie eine Krawatte, alles von Balenciaga. Hoodie und Sneaker, privat.

Freiheit

Sophie Green aus London fotografiert am liebsten ganz normale Menschen, die sich spontan darauf einlassen. Auch mit diesem Model verbrachte sie nur wenige Minuten.

Wohin fährt man, wenn man sich frei und ausgelassen fühlen möchte? In Großbritannien würden viele antworten: Ans Meer!

Aber nicht an eine beschauliche, naturbelassene Küste, an der man nur Möwen und Wellen hört. Sondern an die Seaside, nach Blackpool zum Beispiel.

Hier findet man Rummel am Wasser. Hier wummert die Musik, da gibt es Zuckerwatte, Spielautomaten, das volle Programm. »Distinctively british«, unverwechselbar britisch, nennt die Fotografin diesen Ort.

Shakira trägt ein gerafftes Kleid und Sneaker, beides privat. Geblümte Lackleder-Clutch von Prada.

Verbundenheit

Clémentine Schneidermann, 32, lebt mit ihrer kleinen Familie in ihrer Heimat, dem Pariser Vorort Saint-Denis, und einem Dorf in Wales, sie hat in Newport studiert.

Als Dokumentarfotografin interessiert sich Clémentine Schneidermann vor allem für die Gefühle anderer Menschen. Doch seit Pablo vor einem halben Jahr geboren wurde, kann sie sich nicht einmal in Gedanken von ihm lösen. Was also soll sie sonst zeigen als sich und ihn, wenn es um Gefühle geht?

Und weil Passbild-Automaten meist die Wahrheit sagen, hat sie sich mit ihrem Sohn in einen der letzten seiner Art in Paris gesetzt. Natürlich wollte Pablo nicht stillhalten, manchmal sieht man sie kaum mehr vor lauter Kind.

Linker Streifen: Clémentine trägt ein kariertes Halstuch von AMI PARIS um den Kopf sowie ein Tüllkleid von Renaissance Renaissance. Weißes Tanktop und Schmuck, privat.

Rechter Streifen: Clémentine trägt einen Hut von BAGGU sowie ein Tüllkleid von Renaissance Renaissance. Weißes Tanktop und Schmuck, privat.

Leichtigkeit

Leichtigkeit

Die italienische Fotografin Bea De Giacomo fotografiert für Modemarken wie Chanel und Hermès. In den vergangenen Jahren widmete sie sich zusätzlich persönlichen Projekten. Ihr Fokus liegt dabei normalerweise auf jungen Menschen.

»Meine Eltern sind beide 74 Jahre alt, und ich habe großen Respekt davor, wie aufgeschlossen sie sind und wie sehr sie dagegen ankämpfen, träge zu werden. Mein Vater lernt gerade Saxophon, und meine Mutter übt Klavier, damit sie zusammen spielen können.

Mein Vater war Hausarzt, und er arbeitet noch als Akupunkteur, manchmal unterrichtet er. Er schwimmt gern und nimmt immer noch an Wettkämpfen teil. Meine Mutter moderiert einmal pro Woche eine Radiosendung bei einem lokalen Sender, in der sie interessante Persönlichkeiten aus der Gegend interviewt. Sie schreibt auch Kurzgeschichten und Gedichte. Und sie lernt Englisch.

Meine Eltern haben mit 25 geheiratet und gleich ihr erstes Kind bekommen. Sie waren jung, aber in gewisser Weise schon alt – es war eine andere Zeit damals. Heute sehe ich bei ihnen die Fähigkeit, das Leben im Alter auf eine leichte Art zu leben. Ich glaube, diese Energie spürt man, wenn man sich die Bilder anguckt.

Ich habe die Fotografie immer genutzt, um mit Menschen in Kontakt zu treten, auch mit meiner Familie. Die Fotos sind im Haus meiner Eltern in Italien entstanden, sie haben einen schönen Garten. Für mich war es eine perfekte Gelegenheit, Zeit mit ihnen zu verbringen und Spaß zu haben.«

Erstes Foto: Anna trägt einen grünen Kurzarmpullover, darüber eine Strickjacke aus Kaschmir, einen Rock und spitze Satin-Pumps, alles von Prada. Schmuck privat. Ettore trägt einen gestreiften Strickpullover von JW Anderson, gesehen bei mytheresa.com. Brille, Hosenträger, Hemd, Hose und Schuhe, alles privat.

Zweites Foto: Anna trägt einen handbemalten Mantel sowie handbemalte Pumps, beides von Marni. Ettore trägt einen gestreiften Strickpullover von JW Anderson, gesehen bei mytheresa.com. Brille, Hosenträger, Hemd, Hose und Schuhe, alles privat.

Unberechenbarkeit

Jeremy Everett ist ein US-amerikanischer Konzeptkünstler und Fotograf, der überwiegend in Paris lebt.

An einem Dienstagabend im Juli 2024 steigt der Fotograf Jeremy Everett in Paris in ein Taxi und macht sich auf die Suche nach einem Gefühl. Bei ihm sind seine Freundin Babette, eine Malerin, und sein Freund Theo, ein Fotograf, seit einem Jahr sind die beiden ein Paar. Heute tragen sie Mode, die eigentlich etwas zu warm ist für den Sommer in Paris. 

Es ist der Abend des EM-Halbfinales Frankreich gegen Spanien, und die ganze Stadt scheint auf den Beinen zu sein. Die drei fahren durch Paris und halten Ausschau nach einem Ort mit schönem Abendlicht. Sie finden es in der Rue de Viarmes am Museum Bourse de Commerce – Pinault Collection, einem imposanten Bau aus dem 18. Jahrhundert, der nun zeitgenössische Kunst beherbergt. Rechts vom Portal baut Everett seine Kamera auf, im Kopf hat er ein altes Plattencover von Townes Van Zandt, der Songwriter lehnt darauf in einem Hauseingang, neben ihm ein knutschendes Pärchen.

Nun sind es Babette und Theo, die sich küssen, Everett steht an der Wand, mit der einen Hand betätigt er den Auslöser, mit der anderen wirft er einen roten Pullover von Tod’s in die Luft.Und auf einmal hat er das Gefühl: Unberechenbarkeit.

»Ich liebe es, wenn auf meinen Fotos etwas zu sehen ist, das außer Kontrolle ist – so wie der Pullover, der sich in der Luft immer wieder neu entfaltet.« Und so wie die Liebe, möchte man anfügen. Die von Babette und Theo. Und die von allen anderen Menschen auch.

Babette trägt ein kastanienbraunes Kleid »Trapeze« sowie schwarze Ledersandalen mit Absatz, beides von Loewe. Theo trägt einen dunkelbraunen Wollmantel von Lemaire. Hose und Schuhe, beides privat. In der Luft: Ein roter Strickpullover von Tod’s.

Hingabe

Jo Metson Scott lebt in London. Die 45-jährige Fotografin hat sich mit ihren präzisen Porträts, etwa von jungen Turnern, aber auch mit ihren Modeaufnahmen einen Namen gemacht.

Wie sehr sie geliebt wird, werde sie erst begreifen, wenn sie selbst Kinder in die Welt setze. Diese Worte ihrer Mutter hallen in der Erinnerung der Fotografin Jo Metson Scott bis heute nach. Sie hat inzwischen selbst Kinder in die Welt gesetzt, zwei Töchter, Farron und Sanna. Sie weiß nun, was ihre Mutter einst meinte, als sie versuchte, das Gefühl der Mutterliebe zu erklären – eine Hingabe, die grenzenlos ist.

Um diese Hingabe über Generationen hinweg zu greifen, bat Jo Metson Scott ihre Mutter Jane eines Tages an den alten Kneipentisch, der in ihrem verwilderten Vorgarten steht. Oma Jane, wie ihre Töchter ihre Mutter nennen, macht sich jede Woche einmal auf, um von Nottingham nach London zu fahren, für einen Tag, eine Nacht und noch einen Tag, die sie mit ihren Enkelinnen verbringt. Dann rief Jo Metson Scott auch ihre Töchter an den Tisch.

Aus den Fotos, die dann entstanden, hat sie dieses ausgewählt, weil es in ihren Augen dieses Gefühl der Hingabe spiegelt, eine Mutter, von der Tochter fotografiert, die ihre Enkelinnen herzt, um ihnen zu zeigen, wie sehr sie geliebt werden.

Jane trägt ein gestreiftes Kleid mit hohem Kragen, von Bottega Veneta. Zu ihren Füßen: weißer Lack-Mule mit Absatz, von Bottega Veneta.

Freude

Joshua Woods ist Modefotograf, Filmemacher und Künstler aus New York. Er arbeitete unter anderem mit dem Musiker Travis Scott und dem Schauspieler Willem Dafoe und fotografierte Werbekampagnen für Gucci und Wales Bonner.

»Müsste ich diese Bilder mit einem Gefühl beschreiben, wäre es Freude. Es ist eine Kooperation mit meinem Freund Eric N. Mack. Uns verbindet viel: die Schwarze Popkultur der Neunzigerjahre, Musik, unsere ähnliche Sicht auf Modeästhetik. Es gibt viele Dinge, die uns beide anregen.

Thema der Bilder war kreative Freiheit. Ich finde, kreative Freiheit ist eine Haltung: Hat man sie als Künstler verinnerlicht, kann man mit den eigenen Werken eine neue Sprache kreieren. Wenn ich mit anderen Künstlern zusammenarbeite, frage ich mich immer, wie ich in deren künstlerische Welt eintreten und etwas erschaffen kann, was ihnen bekannt vorkommt. Es soll ähnlich, aber auch anders sein, weil ich meine eigene Perspektive mitbringe.

Bei diesem Projekt wollte ich, dass auf den Fotos Bewegung sichtbar ist. Denn auch in Erics Kunst geht es viel um Bewegung, nämlich um die Art, wie sich seine Stoffe bewegen. Die Arbeit sollte aber auch ein Porträt von uns beiden sein. Eric hat mich dann in Stoffe aus seinem Archiv gehüllt und auch mein Stativ mit seiner Kunst umwickelt. Ich und meine Arbeit wurden so ein Teil seiner Arbeit. Die Materialien seiner Kunst und die Materialien meiner Kunst verschmelzen auf den Bildern.«

Joshua trägt einen Kimono, schwarze Hose, Schuhe und Schmuck, alles privat. Um sein Bein und seine Schultern trägt er Tücher von Eric N. Mack. Installation aus bunten Tüchern am Boden rechts und an der Wand, von Eric N. Mack.

Lebendigkeit

Arielle Bobb-Willis, 30, lebt in Los Angeles, pendelt aber noch oft in ihre alte Heimat New York. Im Oktober erscheint ihr Bildband Keep the Kid Alive.

Halte das innere Kind lebendig: So lautet das Lebensmotto der Fotografin Arielle Bobb-Willis. Es ist auch ihr Arbeitsprinzip: Sie lässt sich in den Straßen treiben, sucht Schönheit im Alltag, hält die Regenbogenfarben eines auf dem Asphalt zerlaufenen Eises am Stiel fest, die Textur eines Holzzaunes, den Schatten zu jeder Tageszeit. »Ich mache Fotos, auf die die 14-jährige Arielle stolz wäre«, sagt Bobb-Willis. Dieses Modefoto entstand dann auch beim Herumtreibenlassen in Bobb-Willis’ Viertel in Los Angeles.

Caleb trägt ein Kleid aus recycelten PET-Flaschen, von Victoria Ruiz.

Nostalgie

Alec Soth lebt in Minneapolis. Er ist unter anderem bekannt für seine eindrücklichen Fotoserien aus dem Mittleren Westen der USA, fotografiert aber auch regelmäßig Kampagnen für große Modehäuser.

»Ein Foto zu einem Gefühl – bei der Aufgabe habe ich mich direkt mit meinem Sohn Gus hingesetzt und sehr lange mit ihm gesprochen. Er ist 17, genau das Alter, in dem es emotional ziemlich auf und ab geht. Ich habe ihn gefragt, welches Gefühl ihn besonders umtreibt.

Ich war auf alles vorbereitet, Wut, Rastlosigkeit, aber er sagte: Nostalgie. Er meinte, er finde es oft schade, dass er kein kleiner Junge mehr ist. Er blickt zurück und bedauert, dass die Unschuld der Kindheit schwindet. Es kommt hinzu, dass wir vor ein paar Jahren umgezogen sind, ihm fehlen also auch die Freunde von früher, die vertraute Umgebung. Ich kann das total gut nachempfinden, mir geht es ähnlich.

Wir wollten dann nicht einfach nur ein Foto machen, sondern uns intensiver mit unserer Nostalgie beschäftigen. Für uns beide gehören zu unseren jeweiligen Kindheitserinnerungen besonders die endlosen Nachmittage, an denen man leicht ziellos in Shoppingmalls rumhing, also fuhren wir los, um das gemeinsam noch mal zu erleben. Wir gerieten allerdings in eine Mall, die – wie so viele – im Sterben liegt, nur noch ein paar Läden geöffnet, richtig desolat. Passte natürlich perfekt.

Vielleicht war Gus deshalb auch bereit, sich direkt dort so fotografieren zu lassen. Normalerweise ist er eher scheu, auch auf seinem eigenen Instagram-Profil versteckt er fast immer sein Gesicht. Aber beim Thema Nostalgie öffnete er sich. Und die Assistentin bei diesem Foto machte es ihm auch einfacher: Es war meine Tochter, sie ist 21 Jahre alt. Sie hat ihn gestylt und sich um alles gekümmert. Ein richtiger Familienausflug.«

Gus trägt ein gestreiftes Hemd, eine Jeans mit doppeltem Kniebesatz sowie eine Krawatte, alles von Balenciaga. Hoodie und Sneaker, privat.

Freiheit

Sophie Green aus London fotografiert am liebsten ganz normale Menschen, die sich spontan darauf einlassen. Auch mit diesem Model verbrachte sie nur wenige Minuten.

Wohin fährt man, wenn man sich frei und ausgelassen fühlen möchte? In Großbritannien würden viele antworten: Ans Meer!

Aber nicht an eine beschauliche, naturbelassene Küste, an der man nur Möwen und Wellen hört. Sondern an die Seaside, nach Blackpool zum Beispiel.

Hier findet man Rummel am Wasser. Hier wummert die Musik, da gibt es Zuckerwatte, Spielautomaten, das volle Programm. »Distinctively british«, unverwechselbar britisch, nennt die Fotografin diesen Ort.

Shakira trägt ein gerafftes Kleid und Sneaker, beides privat. Geblümte Lackleder-Clutch von Prada.

Verbundenheit

Clémentine Schneidermann, 32, lebt mit ihrer kleinen Familie in ihrer Heimat, dem Pariser Vorort Saint-Denis, und einem Dorf in Wales, sie hat in Newport studiert.

Als Dokumentarfotografin interessiert sich Clémentine Schneidermann vor allem für die Gefühle anderer Menschen. Doch seit Pablo vor einem halben Jahr geboren wurde, kann sie sich nicht einmal in Gedanken von ihm lösen. Was also soll sie sonst zeigen als sich und ihn, wenn es um Gefühle geht?

Und weil Passbild-Automaten meist die Wahrheit sagen, hat sie sich mit ihrem Sohn in einen der letzten seiner Art in Paris gesetzt. Natürlich wollte Pablo nicht stillhalten, manchmal sieht man sie kaum mehr vor lauter Kind.

Linker Streifen: Clémentine trägt ein kariertes Halstuch von AMI PARIS um den Kopf sowie ein Tüllkleid von Renaissance Renaissance. Weißes Tanktop und Schmuck, privat.

Rechter Streifen: Clémentine trägt einen Hut von BAGGU sowie ein Tüllkleid von Renaissance Renaissance. Weißes Tanktop und Schmuck, privat.

Leichtigkeit

Leichtigkeit

Die italienische Fotografin Bea De Giacomo fotografiert für Modemarken wie Chanel und Hermès. In den vergangenen Jahren widmete sie sich zusätzlich persönlichen Projekten. Ihr Fokus liegt dabei normalerweise auf jungen Menschen.

»Meine Eltern sind beide 74 Jahre alt, und ich habe großen Respekt davor, wie aufgeschlossen sie sind und wie sehr sie dagegen ankämpfen, träge zu werden. Mein Vater lernt gerade Saxophon, und meine Mutter übt Klavier, damit sie zusammen spielen können.

Mein Vater war Hausarzt, und er arbeitet noch als Akupunkteur, manchmal unterrichtet er. Er schwimmt gern und nimmt immer noch an Wettkämpfen teil. Meine Mutter moderiert einmal pro Woche eine Radiosendung bei einem lokalen Sender, in der sie interessante Persönlichkeiten aus der Gegend interviewt. Sie schreibt auch Kurzgeschichten und Gedichte. Und sie lernt Englisch.

Meine Eltern haben mit 25 geheiratet und gleich ihr erstes Kind bekommen. Sie waren jung, aber in gewisser Weise schon alt – es war eine andere Zeit damals. Heute sehe ich bei ihnen die Fähigkeit, das Leben im Alter auf eine leichte Art zu leben. Ich glaube, diese Energie spürt man, wenn man sich die Bilder anguckt.

Ich habe die Fotografie immer genutzt, um mit Menschen in Kontakt zu treten, auch mit meiner Familie. Die Fotos sind im Haus meiner Eltern in Italien entstanden, sie haben einen schönen Garten. Für mich war es eine perfekte Gelegenheit, Zeit mit ihnen zu verbringen und Spaß zu haben.«

Erstes Foto: Anna trägt einen grünen Kurzarmpullover, darüber eine Strickjacke aus Kaschmir, einen Rock und spitze Satin-Pumps, alles von Prada. Schmuck privat. Ettore trägt einen gestreiften Strickpullover von JW Anderson, gesehen bei mytheresa.com. Brille, Hosenträger, Hemd, Hose und Schuhe, alles privat.

Zweites Foto: Anna trägt einen handbemalten Mantel sowie handbemalte Pumps, beides von Marni. Ettore trägt einen gestreiften Strickpullover von JW Anderson, gesehen bei mytheresa.com. Brille, Hosenträger, Hemd, Hose und Schuhe, alles privat.

Unberechenbarkeit

Jeremy Everett ist ein US-amerikanischer Konzeptkünstler und Fotograf, der überwiegend in Paris lebt.

An einem Dienstagabend im Juli 2024 steigt der Fotograf Jeremy Everett in Paris in ein Taxi und macht sich auf die Suche nach einem Gefühl. Bei ihm sind seine Freundin Babette, eine Malerin, und sein Freund Theo, ein Fotograf, seit einem Jahr sind die beiden ein Paar. Heute tragen sie Mode, die eigentlich etwas zu warm ist für den Sommer in Paris. 

Es ist der Abend des EM-Halbfinales Frankreich gegen Spanien, und die ganze Stadt scheint auf den Beinen zu sein. Die drei fahren durch Paris und halten Ausschau nach einem Ort mit schönem Abendlicht. Sie finden es in der Rue de Viarmes am Museum Bourse de Commerce – Pinault Collection, einem imposanten Bau aus dem 18. Jahrhundert, der nun zeitgenössische Kunst beherbergt. Rechts vom Portal baut Everett seine Kamera auf, im Kopf hat er ein altes Plattencover von Townes Van Zandt, der Songwriter lehnt darauf in einem Hauseingang, neben ihm ein knutschendes Pärchen.

Nun sind es Babette und Theo, die sich küssen, Everett steht an der Wand, mit der einen Hand betätigt er den Auslöser, mit der anderen wirft er einen roten Pullover von Tod’s in die Luft.Und auf einmal hat er das Gefühl: Unberechenbarkeit.

»Ich liebe es, wenn auf meinen Fotos etwas zu sehen ist, das außer Kontrolle ist – so wie der Pullover, der sich in der Luft immer wieder neu entfaltet.« Und so wie die Liebe, möchte man anfügen. Die von Babette und Theo. Und die von allen anderen Menschen auch.

Babette trägt ein kastanienbraunes Kleid »Trapeze« sowie schwarze Ledersandalen mit Absatz, beides von Loewe. Theo trägt einen dunkelbraunen Wollmantel von Lemaire. Hose und Schuhe, beides privat. In der Luft: Ein roter Strickpullover von Tod’s.

Styling: Samira Fricke; Art Direction: Birthe Steinbeck; Fotos: Arielle Bobb-Willis, Jo Metson Scott, Joshua Woods, Alec Soth, Sophie Green, Clémentine Schneidermann, Bea De Giacomo, Jeremy Everett; Fotoassistent (Arielle Bobb-Willis): Colombe De Naes; Model (Arielle Bobb-Willis): Vision Models Los Angeles; Grooming (Bea De Giacomo): Serena Congiu @ blend management; Digitales Storytelling: Lea Sophie Fetköter; Digitales Design: Lea Sophie Fetköter

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