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GROSS UND KLEIN

GROSS
UND
klein

Die taiwanesische
Künstlerin Annie
Wang
zeigt eindrück-
lich, wie es ist, ...

... wenn einem
das Kind über den
Kopf wächst.

GROSS UND KLEIN

GROSS
UND
klein

Die taiwanesische
Künstlerin Annie
Wang
zeigt eindrück-
lich, wie es ist, ...

... wenn einem
das Kind über den
Kopf wächst.

6. März 2025 | Lesezeit: 3 Min.

Am 24. August 2002 spaziert Annie Wang mit Mann und Kind durch den Stadtteil Hove, in der südenglischen Küstenstadt Brighton and Hove, wo sie wohnen. Der Sohn ist ein Jahr und zwei Monate alt, er lernt gerade laufen. Sie hebt ihn spontan auf eine Mauer und reicht ihm die Hand. Er soll auch dort oben laufen lernen. Der Zufall will, dass sie einander jetzt direkt in die Augen blicken. Weil das für beide Seiten eine kuriose Aussicht ist, bittet Wang ihren Mann, ein Bild zu machen.

Auf dem Foto hat die Mutter den Arm um den Bauch des Sohnes gelegt, er hält sich ein bisschen an ihr fest. Beide schauen freundlich überrascht. Würde man eine Wasserwaage über ihre Köpfe legen, schwämme die Luftblase genau auf der Mitte-Markierung. 

Der anfängliche Blick von Eltern auf ihre Kinder ist für gewöhnlich einer von oben nach unten. Oben: das Alter, die Lebenserfahrung, die Macht. Unten: die auf dem Wickeltisch liegende, über den Teppich robbende, auf unsicheren Beinchen vorwärts wankende Jugend, Ahnungslosigkeit, Ohnmacht. Auf dem Foto von Annie Wang und ihrem Sohn ist das nicht so, der Größenunterschied ist aufgehoben, die Augenhöhe hergestellt. Sie macht dann ungefähr alle paar Monate ein neues Bild. 22 Jahre lang. 

Dezember 2002, vor dem Haus der Schwiegermutter in Su-Ao, Taiwan: Der Sohn steht auf dem Gepäckträger eines Fahrrads. Januar 2003, auf einer Hochzeitsfeier in Taichung: Er steht auf einem Tisch. August 2003, am Wiener Platz in München: Er steht auf dem Beckenrand eines Brunnens.

24. August 2002

24. Dezember 2002

7. Januar 2003

10. Januar 2003

11. Januar 2003

25. August 2003

8. April 2004

15. Oktober 2004

5. Januar 2007

5. Oktober 2007

19. Oktober 2008

31. Dezember 2010

11. Februar 2012

1. Januar 2013

24. August 2002

24. Dezember 2002

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11. Februar 2012

1. Januar 2013

Annie Wangs Sohn steht im Lauf der Jahre neben seiner Mutter auf allem, was gerade da ist, Gepäckwagen, Motorrad, Mauern, Bordsteine. Je älter er wird, desto niedriger werden die Steighilfen.

Bis der Scheitelpunkt erreicht ist, das Foto, auf das zunächst alles zusteuert. 8. September 2014: Annie Wang und ihr Sohn in einem Studio der Nationalen Dong Hwa Universität in Hualien, sie posieren vor einer Staffelei mit einem Bild von ihnen beiden (siehe auch SZ-Magazin Nr. 2/2024) – und unter ihren Füßen ist nichts mehr. Sie sind jetzt genau gleich groß. 158 Zentimeter.

8. Dezember 2014

8. Dezember 2014

Annie Wang (voller Name: Annie Hsiao-Ching Wang) gehört zu den bedeutendsten Künstlerinnen Taiwans, sie ist auf internationalen Foto-Festivals und Ausstellungen vertreten, ihr Thema: weibliche Identität.

Eine Erfahrung
ohne Worte:
Er wird größer,
sie älter

Man muss aber ihr Werk nicht kennen, um die Serie My Son and I at the Same Height und die Implikationen der Aufnahme vom 8. September 2014 zu verstehen. Man muss nur einem Kind dabei zugesehen haben, wie es einem kurz in die Augen schaute und dann über den Kopf wuchs.

Es ist eine universelle Erfahrung, eine Erfahrung ohne Worte. Alles einen Augenblick lang in der Schwebe, das Kommende bereits vorstellbar: Du wirst größer, ich werde älter. Vor dir liegt die Zukunft, hinter mir die Vergangenheit. Ich habe dir meine Zeit, meine Fürsorge, meine Liebe gegeben – wirst du mir eines Tages, wenn ich es brauche, einen Teil davon zurückgeben?

Annie Wang würde vermutlich noch hinzufügen: Werden wir als Menschen gleich groß bleiben, unabhängig davon, dass du ein Mann wirst, während ich eine Frau bin? Der älteste Sohn in einer taiwanesischen Familie gilt traditionell als besondere Respektsperson, Frauen sind ihm untergeordnet.

Auf den Fotos von 2015 bis 2024 kehren sich die Verhältnisse dann um: Jetzt ist es die Mutter, die auf wachsende Sockel steigt – und vor den Augen des Betrachters langsam altert.

20. Dezember 2015

1. Januar 2017

25. August 2019

5. August 2023

18. Juli 2024

20. Dezember 2015

1. Januar 2017

25. August 2019

5. August 2023

18. Juli 2024

Annie Wangs Sohn Tong Wang ist heute 23 Jahre alt und etwa 170 Zentimeter groß. Er ist von zu Hause ausgezogen und lernt Fremdsprachen, um später im Ausland zu studieren. »Er ist jetzt bereit, nach dem zu suchen, was er wirklich will«, schreibt Annie Wang aus Taiwan. »Ich versuche, ihn dabei zu unterstützen und ihm ansonsten seine Freiheit zu lassen.« Die Fotoserie soll weitergehen bis an ihr Lebensende.

Text: Tanja Rest; Fotos: Annie Wang; Digitales Storytelling: Lea Sophie Fetköter, Verena Haart Gaspar; Digitales Design: Lea Sophie Fetköter

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