
Wird so ihr neues Leben aussehen? Wird sie hier jeden Morgen vom Berg ins Tal blicken, weit entfernt von ihrer Heimat, weit entfernt von allem, was ihr lieb und wichtig ist?

Zu Hause wartet die Angst. Zu Hause warten die Raketen, die ständig über ihr Haus im Norden von Israel pfeifen. Moriah Neval will nicht mehr von Sirenen aufgeweckt werden. Sie will nicht mehr mitten in der Nacht in den Bunker hetzen. Und sie will nicht mehr mitansehen, wie Benjamin Netanjahu ihr Heimatland verändert, wie er immer mehr Soldaten nach Gaza schickt, den Rechtsstaat aushöhlt, den Rechtsextremen ständig noch mehr Macht gibt. »Israel war immer ein Land zwischen allen Fronten«, sagt Neval, »aber inzwischen gilt das nicht mehr nur für die Fronten außen, sondern auch für die im Inneren. Mein Land ist ein zerrissenes Land.«
Neval will weg. Deshalb sieht sie sich mit ihrem Mann Ezra Wohnungen in Italien an. Genauer gesagt: im Valsesia-Tal im Nordwesten Italiens, anderthalb Stunden Autofahrt entfernt von Mailand.
»Wenn wir wegziehen, lasse ich sie dann nicht allein im Kampf für die Demokratie?«
Moriah Neval
Ezra Neval sitzt drinnen am Tisch in der engen Küche der Hütte und seufzt. Er versteht seine Frau ja. Die Frage ist nur, was sollen sie hier machen? Wie sollen sie das Geld für die Miete verdienen?
Moriah Neval ist Sozialarbeiterin, Ezra ist Ingenieur. Beides keine Berufe, die man von jetzt auf gleich an einem anderen Ort, in einer anderen Sprache ausüben könnte. Und dann sind da noch ihre zwei erwachsenen Kinder, eine Tochter, ein Sohn, beide leben in Israel und wollen nicht weg. Wollen sie die zwei wirklich in Israel allein lassen? Überhaupt: Da ist auch dieses schlechte Gewissen – es ist der Grund, warum Moriah Neval, die in Wirklichkeit – wie ihr Mann – anders heißt, nicht mit ihrem richtigen Namen in diesem Artikel vorkommen möchte. »Ich lasse mein Land im Stich«, sagt sie. »Seit Jahren gehe ich jede Woche demonstrieren, mit Freunden, mit Kollegen. Wenn wir wegziehen, lasse ich sie dann nicht allein im Kampf für die Demokratie?«
Das Valsesia-Tal – oder auch einfach Valsesia – ist eine ziemlich verlassene Ecke. Nicht so rustikal-romantisch wie Südtirol, nicht so charmant wie das südliche Piemont. Kantige Häuser, Orte mit kleinen Betrieben und grauen Fassaden an der Landstraße. Wer hier durchkommt, will weiter ins Aostatal oder an den Lago Maggiore. Dass Moriah und Ezra Neval ausgerechnet hier über einen Neuanfang nachdenken, liegt an Ugo Luzzati.

Er lebt im Valsesia-Tal, ein
paar Minuten entfernt vom Städtchen Varallo, an einer besonders engen
Stelle des Tals. Ein höflicher Mann, graue Haare, gutmütiger Blick, er wohnt in einem Haus, das wie weggeduckt am steilen Hang zwischen Bäumen liegt. Draußen rauscht ein Wasserfall, lauter als eine Autobahn, der Regen der vorigen Tage hat den Fluss Sesia auf die dreifache Größe wachsen lassen.
Drinnen ist es düster, die Enge des Tals schiebt sich bis unter die schrägen Dachbalken. Luzzati erzählt von seinem langen Weg hierher. Geboren wurde er in Genua, in den Achtzigerjahren zog es ihn nach Israel. »Ich war Anfang zwanzig, ich war Zionist«, sagt er, »ich habe an die Idee dieses Staates geglaubt. Israel war das große Wunder des 20. Jahrhunderts. Ein Land für die Juden.« Er gründete dort eine Familie, betrieb eine kleine Werkstatt, in der er Schilder und Etiketten herstellte, zog mit seiner Frau fünf Kinder groß. Doch irgendwann, ganz allmählich, begann er sich unwohl zu fühlen. Die Regierung rutschte immer weiter nach rechts, wurde extremer, die Ultraorthodoxen gewannen Einfluss. Das Land war nicht mehr dasselbe. »Dann kam der Tag, an dem sie die Justizreform ankündigten und die Gewaltenteilung aushebeln wollten«, sagt Luzzati.

Luzzati hatte schon 2019 das Häuschen in Valsesia gekauft, im Lauf der Jahre bekam er mit, dass dem Tal die Menschen ausgehen. Landflucht, das ewige Thema, die Jüngeren ziehen in die Großstädte, auf der Suche nach Jobs, die Dörfer überaltern, sterben aus. In den Werkstätten fehlen die Handwerker, in den Schulen die Lehrkräfte. An ungefähr jedem dritten Haus neben der Landstraße hängt ein Schild – »VENDE«, zu verkaufen.
Luzzati erkannte: Hier gab es Chancen für Israelis, die weg wollen, und Chancen für eine Region, die Zuzug braucht. 2022 gründete Luzzati das Progetto Baita. Progetto heißt Projekt, Baita heißt auf Italienisch Hütte – und, wie passend, habaita auf Hebräisch nach Hause. Er knüpfte Kontakte, er sprach mit Behörden und Schulen, mit örtlichen Firmen und Geschäften, um herauszufinden, wo Menschen mit Erfahrung gebraucht werden. Er klapperte die Immobilienbüros der Gegend ab, um den Leerstand zu prüfen. Er begann, in Israel Werbung zu machen, sprach Freunde und Bekannte an, erklärte ihnen, dass es im Norden von Italien Möglichkeiten gebe, ein neues Leben zu beginnen, angstfrei und voller Zuversicht. Als die Hamas Israel angriff, am 7. Oktober 2023, war Luzzati gerade in Valsesia – und beschloss endgültig zu bleiben.
Dreißig Familien seien allein 2024 ins Valsesia-Tal gezogen, sagt Luzzati, viele weitere gerade auf dem Sprung, sie klärten letzte Details, müssten sich noch für die richtige Wohnung entscheiden.
»Das Projekt steht
allen offen«
Ugo Luzzati
Mit Hunderten, wenn nicht Tausenden von Ausreisewilligen habe er in den vergangenen anderthalb Jahren gesprochen. Lauter Menschen in der Schwebe, zwischen Bleiben und Gehen, zwischen Abschied und Ankommen. Darunter übrigens nicht nur Juden, auch eine arabische Christenfamilie aus Israel sei dabei, »das Projekt steht allen offen«, sagt Luzzati.
Das Wichtigste war, erst mal rauszubekommen, ob und wie die Familien in Italien bleiben können. Am einfachsten ist es für die, die einen europäischen Pass haben, weil die Eltern oder Großeltern aus Europa kamen. Andere besorgen sich ein Drei-Monate-Visum. Wiederum andere verweisen auf den Krieg in der Heimat, in manchen Fällen erteilt Italien dann ein mehrjähriges Bleiberecht.
Und so fliehen lauter Menschen aus dem Land, das doch seit 1948 für sie der sichere Hafen sein sollte. Eine Flucht aus dem Fluchtland. »Sie kennen sicher das Bild vom ewigen Juden, der immer auf Wanderschaft ist«, sagt Naomi Michael und zuckt mit den Schultern. Ein Bild, das die Nationalsozialisten ins Übelste gedreht haben, aber sie nimmt es gelassen: »Ach, so ist es doch wirklich mit uns. Wir dachten, Israel sei das gelobte Land. Aber jetzt ziehen wir wieder weiter. Immer unterwegs.«
Naomi Michael, Anfang fünfzig, lange dunkle Haare, mädchenhafte Erscheinung, immer ein leichtes Lächeln im Gesicht, ist mit ihrem Lebensgefährten und zwei ihrer drei Töchter direkt nach dem Angriff der Hamas hier angekommen, sie leben in Varallo. Der Staat wird ihnen wohl ein Bleiberecht fünf Jahre geben, aber das Verfahren ist noch nicht ganz durch.
Naomi Michael unterrichtet spirituelle Philosophie. Das hat sie schon in Israel überwiegend per Video-Seminar gemacht, auf Hebräisch und Englisch, das geht genauso in den italienischen Bergen. Ihr Mann ist Möbeldesigner, er arbeitet am Computer. Die älteste Tochter ist in Israel geblieben, sie studiert dort. Die zwei jüngeren, ebenfalls schon erwachsen, sind mitgekommen nach Varallo, um hier ein neues Leben anzufangen, fern der Heimat.

»Meine Eltern kamen in den Sechziger Jahren aus England, weil sie daran glaubten, dass ein goldenes Zeitalter für die Juden beginnt. Schon eine Generation später war klar, die Welten, die da aufeinandertreffen, sind zu verschieden, Juden, Araber, Progressive, Ultraorthodoxe …«
Vom geplatzten Traum erzählen sie alle. Moriah Neval, die mit ihrem Mann überlegt, ob sie hierherziehen soll, obwohl Israel für sie das gelobte Land war. Ugo Luzzati, der italienische Jude, der einst nach Israel ging, weil er an die gute Idee glaubte.
»Russland war nicht das Richtige für mich«
Dimitrij Grubov
Auch Dimitrij Grubov spricht vom gescheiterten Traum. Ein drahtiger Typ Mitte zwanzig mit zurückgegelten Haaren und Cowboy-Gang, geboren in Russland. Seinen richtigen Namen will er hier lieber nicht öffentlich machen, vor allem wegen seiner russischen Herkunft. Er kam erst mit zwanzig nach Israel: »Russland war nicht das Richtige für mich. Und die Situation dort wurde ja auch immer schlimmer.« Er nutzte die Kontakte zu Familienangehörigen und zog in den Norden Israels. Schon als Teenager war er Vater geworden, kam aber, wie er sagt, ganz gut zurecht.
Dann der 7. Oktober 2023. Die Angreifer der Hamas stürmten über die Grenzen nach Israel, mit Autos, Motorrädern, Flugdrachen, sie töteten Menschen auf den Straßen, in den Dörfern und Kibbuzen, auf Veranstaltungen. Israel schlug zurück. Krieg. Von beiden Seiten flogen Raketen über das Land. »Ich hole meine Tochter vom Kindergarten ab, höre ein Sirren, schaue nach oben und sehe vierzig Raketen über uns. Ich sage zu ihr, schau nach unten, immer schön nach unten, da, eine Blume … Ich habe mit Tricks versucht, ihr den Anblick zu ersparen.« Für Grubov war klar, dieses Leben zwischen Alarmsirenen und Raketeneinschlägen wollte er ihr nicht antun.
Jetzt lebt er in Varallo und verdient sein Geld mit digitalen Sprachkursen, ähnlich wie Naomi Michael. Doch er ist schon ziem-lich zu Hause im Ort.

Erst beim Spaziergang wird erkennbar, wie viele der Menschen auf der Straße Israelis sind. Der Ort hat nur wenige Tausend Einwohner und ein winziges Zentrum, da fallen zwanzig oder dreißig zugezogene Familien auf.
Dimitrij Grubov schaut skeptisch über den regennassen Platz und sagt, natürlich sei man immer ein bisschen Exot, wenn man auf der Straße Hebräisch spricht. »Vor ein paar Tagen stand ich mit einem Freund auf dem Dorfplatz, hinter unserem Rücken haben ein paar Leute über uns gelästert.« Grubov stellte sie zur Rede, ein Wort gab das andere, dann fielen antisemitische Sätze. »Aber das war eine Ausnahme«, sagt Grubov. »Alle anderen Begegnungen mit Einheimischen sind wunderbar! Hier leben lauter höfliche und offene Menschen, es ist mir ehrlich wichtig, das zu sagen.«
Die Wolken hängen immer noch tief im Tal, Ugo Luzzati, der Progetto-Mann, führt hinauf zum Hügel über dem Ort. Sacro Monte, der heilige Berg. Ein Wallfahrtsort mit 45 kleineren Gebäuden, alles Kapellen und Museumsbauten, errichtet seit dem 16. Jahrhundert, eine Art Museumsdorf, in dem man Stunden verbringen kann. Die Einheimischen nennen es »Neu-Jerusalem«.
Luzzati schaut auf das Städtchen hinunter. Ein paar enge Gassen, hier und da eine Kirche, da drüben die Grundschule, ein Sportplatz. Ein Bild des leicht schläfrigen Friedens. »Kaum jemand kann sich vorstellen, welche Last den Menschen, die hier ankommen, von den Schultern genommen ist«, sagt Luzzati. »Eine junge Frau konnte es nicht fassen, dass man auf dem Wochenmarkt einfach entspannt rumschauen kann. Für sie war ein Markt ein Ort, an dem jederzeit eine Bombe hochgehen kann.«
Die Erfahrung macht auch Naomi Michael: »Neulich hat mir meine Tochter erzählt, sie sei auf der Straße einem Mann begegnet, der gerade seine Hand in die Jackentasche steckte – und zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie nicht Panik, er würde eine Waffe herausziehen.« Die Menschen, die im Valsesia-Tal landen, müssen erst lernen, unbeschwert zu leben. Viele von ihnen leiden unter posttraumatischen Belastungsstörungen. Zucken, wenn es knallt. Schauen reflexhaft in den Himmel. Manche Kinder, so berichten es Eltern, schrecken immer noch gelegentlich nachts hoch, aus Angst vor Raketen.
»Was Ugo für unsere Region tut, ist Gold wert«
Fabrizio Bonaccio, Bürgermeister
Oben auf dem Sacro Monte erzählt Luzzati von seiner Arbeit. Er ist rund um die Uhr beschäftigt als Vermittler, er hilft bei der Wohnungssuche, bei Amtsterminen, er besorgt Kontakte und hilft, falls nötig, bei der Jobsuche. Oft geht er mit in die Schulen und übersetzt zwischen israelischen Kindern und italienischen Lehrern. Die Arbeit macht er ehrenamtlich, Geld verdient er als Teilhaber in einem der Maklerbüros, die er durch das Progetto kennengelernt hat.
Eine Viertelstunde Autofahrt entfernt, im Rathaus von Borgosesia, sitzt der Bürgermeister Fabrizio Bonaccio in seinem fürstlichen Arbeitszimmer, hohe holzvertäfelte Wände, schwere Tische, Fahnen in den Ecken, ein Hauch von 19. Jahrhundert. Der Bürgermeister, ein asketischer Sportlertyp, zwinkert durch seine schmalrandige Brille. »Was Ugo für unsere Region tut, ist Gold wert«, sagt er. »Und bitter nötig.« In Borgosesia, einer der größten Gemeinden im Tal, sitzt wichtige Infrastruktur, Betriebe, Versorgung, Einzelhandel. Hier fehlen jede Menge Fachkräfte.

»Luzzati hat schon mehr als 150 Menschen nach Valsesia gebracht, es gibt inzwischen mehr als 50 neue Kinder, die unsere Schulen besuchen.« Gerade die Kinder sieht Bonaccio als Hoffnungsträger, manche würden vielleicht sagen: als Investition in die Zukunft. »Wir haben viel zu wenige Geburten«, sagt Bonaccio. Italien sei von jährlich 1,1 Millionen Geburten in den Siebzigerjahren auf heute 300 000 Geburten pro Jahr zurückgegangen. »Wir überaltern!«
Vor allem aber hofft Bonaccio auf die Ärzte. In Borgosesia steht das größte Krankenhaus der Gegend, exponiert oben am Hang, es überblickt das halbe Tal.
Eine topmodern ausgestattete Klinik mit vielen Zimmern, mit den besten Geräten, mit allen finanziellen Mitteln – und viel zu wenig Ärztinnen und Ärzten. Manche nennen es ein Geisterhaus. Ohne neue Ärzte müsste es in den nächsten Jahren zumachen, sagt Bonaccio.
Die Rettung sieht zum Beispiel so aus: weiblich, 46 Jahre alt, lange braune Haare, hellbraune Lederhandtasche, passend zur hellbraunen kurzen Lederjacke.
Dr. Anna Aronovich sitzt anderthalb Stunden Fahrt von Varallo entfernt in Mailand in einem Restaurant vor einem Teller Tagliatelle al Salmone und erzählt begeistert vom neuen Kapitel ihres Lebens. Die Dermatologin ist die Erste in einer ganzen Reihe Ärztinnen und
Ärzten, die Luzzatis Ruf folgen, sie ist gerade angekommen, auf der
Durchreise nach Borgosesia. Auch sie hat genug von Israel, gehört aber zu den wenigen, die die Situation einigermaßen gelassen sehen.

»Trotzdem ist es hart, die Raketen, die Anspannung … Das Land ist eng und aufgeheizt, die Politik schnürt allen die Luft zum Atmen ab.«
»Angst haben wir
in Israel sowieso immer.
Die steckt in uns«
Anna Aronovich
In ein paar Wochen fängt Anna Aronovich im Krankenhaus in Borgosesia an, gerade klärt sie letzte Vertragsdetails und sucht nach einem Haus in der Gegend. Sie hat Lust auf den Neubeginn, auch wenn er für sie ein finanzieller Rückschritt ist, in Israel verdienen Ärzte ein Vielfaches. Aber sie kann als Beraterin per Internet weiter israelische Patienten betreuen, das gleicht es einigermaßen aus. Ihr Mann ist Unternehmer, »dem ist sowieso egal, wo er vor dem Computer sitzt«, sagt sie gut gelaunt. Von ihren drei Kindern kommt nur die jüngste Tochter mit nach Italien. Ihre ältere Tochter sucht gerade nach einem Studienplatz irgendwo auf der Welt, »sie will was erleben, Anfang zwanzig eben«. Ihr Sohn ist beim Militär. Ausgerechnet jetzt, während Netanjahu ungebremst Soldaten nach Gaza schickt – hat man da nicht Angst um den eigenen Sohn? »Nun ja«, sagt Aronovich, »die Angst, die ich um ihn habe, haben wir in Israel sowieso immer. Die steckt in uns. Wir sind sie einfach gewohnt.«
Die Kinder, die mit ihren Familien nach Italien kommen, haben es auch nicht immer leicht. In der Schule gibt es ab und zu unschöne Momente, erzählen manche Eltern, die bei dem Thema lieber nicht namentlich genannt werden wollen. Mal werden jüngere Kinder aufgezogen, weil sie kein Italienisch können, mal werden ältere Kinder angeschnauzt für das, was »ihr Land« gerade mit den Palästinensern macht.
Eine Mutter erzählt, dass ihr Sohn von einem Mitschüler gemobbt wurde, eine andere Mutter habe ihr dann erzählt, dass in dessen Familie ziemlich schlecht über Juden gesprochen werde. Die Mutter sagt, im Großen und Ganzen seien die Menschen in der Gegend zwar sehr freundlich, »aber es gibt offenbar schon einzelne, die raunen, jetzt kommen die Juden her und kaufen uns die guten Häuser weg«. Und auch in offenen Gesprächen geraten die zugezogenen Juden schnell unter Druck.
»Mir ist es lieber, wenn wir nicht immer sofort als Israelis erkannt werden«
Naomi Michael
»Auf einmal soll ich mich für Israels Politik rechtfertigen«, sagt Moriah Neval. »Wenn hier jemand mitkriegt, dass ich Jüdin bin, landet das Gespräch innerhalb kürzester Zeit bei den israelischen Soldaten in Gaza. Ich werde mit der Politik meines Heimatlandes gleichgesetzt. Aber genau das ist ja das Problem – ich liebe Israel, ich verabscheue Netanjahu.«
Untereinander sind sich die Israelis im Valsesia-Tal keineswegs einig, wie man mit der alten Heimat umgehen soll. Vor einiger Zeit wurde in Varallo der Dokumentarfilm No Other Land gezeigt, gefolgt von einer Podiumsdiskussion. Der Film hat weltweit heftige Kontroversen ausgelöst, weil die palästinensisch-israelischen Macher die Lage im Westjordanland so neutral wie möglich zu zeigen versuchten – was von manchen Kritikern als antisemitisch ausgelegt wurde. An der Podiumsdiskussion in Varallo nahm auch eine Israelin teil, das wurde ihr von manchen Progetto-Leuten übel genommen: In den Augen der anderen machte sie sich mit der vermeintlich antisemitischen Kritik gemein.
Einig sind sich die meisten Exil-Israelis immerhin in einem Punkt: Sie wollen auf keinen Fall eine Community bilden. »Klar, es gibt starke jüdische Gemeinden in Berlin, in Portugal, in ganz Europa«, sagt Naomi Michael. »Aber meine Familie und ich, wir wollen uns als säkulare, liberale Menschen in die europäische Gesellschaft integrieren.«
Also: lieber eintauchen, in der Menge verschwinden. Assimilation. Etwas, das die Juden eigentlich für immer hinter sich lassen wollten, als sie ab 1948 nach Palästina kamen. »Mir ist es trotz allem erst mal lieber, wenn wir nicht immer sofort als Israelis erkannt werden«, sagt Moriah Neval. Also ziehen sie in die alten Häuser, richten her, was geht, und bauen sich ein neues Leben auf.
Zuletzt noch Ariel Lavi, Anwalt aus Israel, ein Mann, der den anderen vielleicht helfen könnte. Auch er steht vor der Entscheidung. Ein Mann Ende fünfzig, grau-weiße Haare, seriöser Typ. Seine Schwester lebt schon hier, sie ist Künstlerin. Er hat sich gerade ein Haus in Varallo gekauft und renoviert es: »Ich will aufbruchbereit sein.« Jahrzehntelang hatten Holocaust-Überlebende immer einen Koffer mit dem Nötigsten bereitstehen, um jederzeit fliehen zu können. Jetzt sitzen wieder Juden auf gepackten Koffern.
Noch lebt Lavi in Israel, er arbeitet aber oft von Varallo aus. Im Hinterzimmer des Eiscafés in der Ortsmitte stellt er seinen Laptop auf den winzigen Tisch.
Draußen ruckelt ab und zu ein Kleinwagen über das Pflaster. Lavi arbeitet gern von hier drinnen aus, setzt seine Anwaltsschreiben auf, führt Telefonate, wenn die Kaffeemaschine gerade nicht zu laut ist.
Wenn er vollends umzieht, könnte er auch hier als Anwalt arbeiten, sagt er, für andere ausgewanderte Israelis.

Und je mehr seiner Landsleute in das Tal ziehen, desto häufiger wird auch ein Jurist gebraucht, der sich ums Kleingedruckte kümmert. Hauskäufe, neue Berufe, Geschäftseröffnungen. So viele von ihnen sind erst am Anfang. Noch ist vieles ungewiss. Aber die Chancen stehen gut, dass ihnen hier in diesem Tal ein neues Leben gelingt.
Und wenn der Bürgermeister Fabrizio Bonaccio recht hat, wird es auch dem Tal guttun. Klar, dreißig neue Familien oder vierzig oder fünfzig werden die Gegend nicht komplett verändern. Aber wenn in den Schulen tatsächlich wieder ganze Klassen besetzt werden können; wenn in den Geschäften wieder mehr Menschen einkaufen; wenn in den einst leer stehenden Häusern mitten in den kleinen Orten wieder Licht angeht und jemand frische Vorhänge aufzieht – dann ist viel gewonnen. Für das Land, das neue Menschen braucht. Und für die Menschen, die ein neues Land brauchen.