Familienaufstellung

Familien-
aufstellung

Annie Wang fotografiert sich seit 22 Jahren mit ihrem Sohn.
Es ist ein Kunstprojekt – und ein feministischer Protest.

Familienaufstellung

Familien-
aufstellung

Annie Wang fotografiert sich seit 22 Jahren mit ihrem Sohn.
Es ist ein Kunstprojekt – und ein feministischer Protest.

Fotos: Annie Wang; Text: Lars Reichardt
11. Januar 2024 - 3 Min. Lesezeit

Annie Wang sah sich vor 23 Jahren vor eine Entscheidung gestellt, die so vielen Frauen weltweit aufgezwungen wird: Kind oder Karriere? Eine gute Mutter ist eine, die sich opfert. Das galt und gilt traditionell an vielen Orten.

»Männer haben Kinder, aber Frauen sind nur Gehilfinnen, Container«, sagt Wang.

Annie Wang ist Künstlerin in Taiwan. Ihre Schwangerschaft erlebte sie als Paradox: Muttersein bedeutet, ein Menschenleben zu erschaffen – und zugleich bedrohte es ihr Schaffen, ihren Selbstwert als Künstlerin.

Also wollte Wang das Muttersein mit dem Künstlersein versöhnen – »das kreative Moment einer Mutterschaft herausstellen«. Die Mutter als Schöpferin, so nannte Wang ihr Fotoprojekt. Sie begann es im Jahr 2001 mit einem Selbstporträt vor der Geburt ihres Sohnes. Ihren nackten Bauch signierte sie wie ein Kunstwerk, mit Datum. Trotzig blickt sie auf dem Foto in die Kamera.

Annie und Tong
Wang, 2001

Annie und Tong
Wang, 2001

Auf dem Foto im Jahr darauf hält sie ihr Kind auf dem Schoß und in der anderen Hand den Selbstauslöser der Kamera. Im Hintergrund hängt das Selbstporträt aus der Schwangerschaft.

Annie und Tong
Wang, 2002

Annie und Tong
Wang, 2002

Im dritten Bild steht der deutlich ältere Junge mit einem Gipsbein neben ihr, das zweite Foto hängt neben den beiden, das erste Selbstporträt ist auf dem zweiten Foto immer noch zu sehen.

»Ich will vermeiden, dass mein Sohn sich nicht wohlfühlt, deswegen sprechen wir jedes Foto ab«, sagt Annie Wang.

Annie und Tong
Wang, 2003

Annie und Tong
Wang, 2003

Die Serie eröffne den Blick auf einen »Zeittunnel«, sagt Wang: »Die Mutter-und-Sohn-Fotos aus verschiedenen Lebensabschnitten werden überlagert und fügen sich zu einer einzigen Ebene zusammen. Durch diese kontinuierliche Schöpfung und Selbstrekonstruktion habe ich nicht nur die Anhäufung unserer Erfahrungen festgehalten, sondern auch dafür gesorgt, dass wir deutlich sehen können, wie wir gewachsen sind und uns entwickelt haben.«

Annie und Tong
Wang, 2004

Annie und Tong
Wang, 2005

Annie und Tong
Wang, 2006

Annie und Tong
Wang, 2004

Annie und Tong
Wang, 2005

Annie und Tong
Wang, 2006

Claude Monet malte einen einzigen Heuschober zu verschiedenen Tageszeiten in unterschiedlichem Licht. Mit solchen Bildern hat der Impressionismus die serielle Kunst erfunden, um komplexe Naturphänomene zu fassen. Analog dazu genügt ein einziges Bild nicht, um die komplexe Beziehung zwischen Mutter und Sohn zu klären. Es beschreibt nur einen Augenblick in ihrem Verhältnis.

Sind Mutter und Sohn am Ende der Serie überhaupt noch dieselben Menschen, nur älter geworden?

Gleich wie die Antwort ausfällt: Unwillkürlich fragt man sich, warum Familienfotos nicht viel öfter so inszeniert werden.

Annie und Tong
Wang, 2010

Annie und Tong
Wang, 2011

Annie und Tong
Wang, 2014

Annie und Tong
Wang, 2010

Annie und Tong
Wang, 2011

Annie und Tong
Wang, 2014

Die Mutter als Schöpferin ist ein Familienprojekt geworden. Annie Wang hat ihren Mann eingeladen, zu assistieren und den Auslöser zu drücken. Tong Wang ist ihr einziges Kind geblieben. Er ist heute 22 Jahre alt. Bisher gibt es zwölf Fotos. Die Szenen sind gestellt, aber sie beschreiben jeweils einen besonderen Moment aus ihrem gemeinsamen Alltag. Mutter und Sohn haben sich nicht jedes Jahr fotografiert. In der Pubertät wollte Tong Wang das nicht. Zudem wurden die Abzüge aus den Jahren 2007 bis 2009 bei einem Umzug beschädigt.

Annie und Tong
Wang, 2018

Annie und Tong
Wang, 2020

Annie und Tong
Wang, 2022

Annie und Tong
Wang, 2018

Annie und Tong
Wang, 2020

Annie und Tong
Wang, 2022

Annie und Tong Wang haben Fotos arrangiert, wenn etwas Bedeutendes in ihrer beider Leben geschah. Vorigen Sommer hat der Sohn die Universität abgeschlossen, Anfang dieses Jahres erhält er sein Zeugnis. Diesen Lebensabschnitt werden sie wieder in Szene setzen.

Fotos: Annie Wang; The Mother as a Creator, Text: Lars Reichardt, Digitales Storytelling: Lea Sophie Fetköter, Daniela Gassmann, Agnes Striegan