Annie Wang sah sich vor 23 Jahren vor eine Entscheidung gestellt, die so vielen Frauen weltweit aufgezwungen wird: Kind oder Karriere? Eine gute Mutter ist eine, die sich opfert. Das galt und gilt traditionell an vielen Orten.
»Männer haben Kinder, aber Frauen sind nur Gehilfinnen, Container«, sagt Wang.
Annie Wang ist Künstlerin in Taiwan. Ihre Schwangerschaft erlebte sie als Paradox: Muttersein bedeutet, ein Menschenleben zu erschaffen – und zugleich bedrohte es ihr Schaffen, ihren Selbstwert als Künstlerin.
Also wollte Wang das Muttersein mit dem Künstlersein versöhnen – »das kreative Moment einer Mutterschaft herausstellen«. Die Mutter als Schöpferin, so nannte Wang ihr Fotoprojekt. Sie begann es im Jahr 2001 mit einem Selbstporträt vor der Geburt ihres Sohnes. Ihren nackten Bauch signierte sie wie ein Kunstwerk, mit Datum. Trotzig blickt sie auf dem Foto in die Kamera.
Auf dem Foto im Jahr darauf hält sie ihr Kind auf dem Schoß und in der anderen Hand den Selbstauslöser der Kamera. Im Hintergrund hängt das Selbstporträt aus der Schwangerschaft.
Im dritten Bild steht der deutlich ältere Junge mit einem Gipsbein neben ihr, das zweite Foto hängt neben den beiden, das erste Selbstporträt ist auf dem zweiten Foto immer noch zu sehen.
»Ich will vermeiden, dass mein Sohn sich nicht wohlfühlt, deswegen sprechen wir jedes Foto ab«, sagt Annie Wang.
Die Serie eröffne den Blick auf einen »Zeittunnel«, sagt Wang: »Die Mutter-und-Sohn-Fotos aus verschiedenen Lebensabschnitten werden überlagert und fügen sich zu einer einzigen Ebene zusammen. Durch diese kontinuierliche Schöpfung und Selbstrekonstruktion habe ich nicht nur die Anhäufung unserer Erfahrungen festgehalten, sondern auch dafür gesorgt, dass wir deutlich sehen können, wie wir gewachsen sind und uns entwickelt haben.«
Claude Monet malte einen einzigen Heuschober zu verschiedenen Tageszeiten in unterschiedlichem Licht. Mit solchen Bildern hat der Impressionismus die serielle Kunst erfunden, um komplexe Naturphänomene zu fassen. Analog dazu genügt ein einziges Bild nicht, um die komplexe Beziehung zwischen Mutter und Sohn zu klären. Es beschreibt nur einen Augenblick in ihrem Verhältnis.
Sind Mutter und Sohn am Ende der Serie überhaupt noch dieselben Menschen, nur älter geworden?
Gleich wie die Antwort ausfällt: Unwillkürlich fragt man sich, warum Familienfotos nicht viel öfter so inszeniert werden.
Die Mutter als Schöpferin ist ein Familienprojekt geworden. Annie Wang hat ihren Mann eingeladen, zu assistieren und den Auslöser zu drücken. Tong Wang ist ihr einziges Kind geblieben. Er ist heute 22 Jahre alt. Bisher gibt es zwölf Fotos. Die Szenen sind gestellt, aber sie beschreiben jeweils einen besonderen Moment aus ihrem gemeinsamen Alltag. Mutter und Sohn haben sich nicht jedes Jahr fotografiert. In der Pubertät wollte Tong Wang das nicht. Zudem wurden die Abzüge aus den Jahren 2007 bis 2009 bei einem Umzug beschädigt.
Annie und Tong Wang haben Fotos arrangiert, wenn etwas Bedeutendes in ihrer beider Leben geschah. Vorigen Sommer hat der Sohn die Universität abgeschlossen, Anfang dieses Jahres erhält er sein Zeugnis. Diesen Lebensabschnitt werden sie wieder in Szene setzen.