Was darf sich Wurst nennen?

Das ist nicht nur eine politische Frage, sondern eine, die viel erzählt über unsere Gegenwart. Von Tofu, Därmen und einem Streit, der weit übers Kulinarische hinausreicht.

Was darf sich Wurst nennen?

Das ist nicht nur eine politische Frage, sondern eine, die viel erzählt über unsere Gegenwart. Von Tofu, Därmen und einem Streit, der weit übers Kulinarische hinausreicht.

8. Oktober 2025 | Lesezeit: 3 Min.
Das Europaparlament hat über eine der ganz großen metaphysischen Fragen der Gegenwart abgestimmt: Wann ist eine Wurst eine Wurst? Man konnte hoffen, dass zumindest ein paar der Abstimmenden Grundkenntnisse in Sprachphilosophie mitbringen oder zumindest mal was von Ludwig Wittgenstein gelesen haben, denn die Frage ist speziell in der Bundesrepublik Deutschland von gigantischer Sprengkraft. Kein Lebensmittel hat mehr Identifikationspotenzial. Biologen und Reagenzglas-Freaks wissen: Die kollektive DNA-Doppelhelix-Struktur der Deutschen ist wurstförmig.

Die konservative EVP-Fraktion hatte den Verbotsvorstoß eingebracht, der untersagen will, dass pflanzenbasierte Fleischepigonen (Soja, Erbsenprotein, Seitan, Tofu und so weiter) sich weiterhin mit den tierischen Toplabels „Steak“, „Schnitzel“, „Hamburger“ und „Wurst“ schmücken dürfen. Das geschah auf Initiative einer Abgeordneten aus dem Pastetenland Frankreich, damit kann als ausgeschlossen gelten, dass Manfred Weber sich mal aus Versehen eine feine vegane Pommersche gekauft und dann sehr geärgert hat. Vielmehr riecht die ganze Angelegenheit nach einem kulturkämpferischen Stellvertreterkrieg in einer postmodernen Zeit der freien Pronomenwahl. Erbsen im Wurstmantel will die EVP jedenfalls nicht durchgehen lassen – und konnte sich damit in erster Lesung durchsetzen.

Im polarisierten deutschen Wurstdiskurs jedenfalls gibt es zwei Schulen: die der Form und die des Inhalts. Führende Praktiker wie Markus Söder sind eindeutig Verfechter der Inhaltsschule: Wurst muss Fleisch enthalten, um dem Wesen nach Wurst zu sein. Er hat in einer Blindverkostung tatsächlich mal die vegane Wurst herausgeschmeckt und für „furchtbar“ befunden, obwohl der hinterlistige Tester, Spiegel-Journalist Markus Feldenkirchen, nichts unversucht ließ, ihn durch die identische Form aller scheinbaren und echten Würste, durch massig Senf zur Betäubung der ministerpräsidialen Geschmacksknospen und blickdichtes Visier aus Wurstattrappen in die Irre zu führen.

In der verwursteten Gemengelage besonders interessant: Konrad Adenauer hat die Sojawurst erfunden

Für Anhänger der Formschule kann und darf dagegen alles Wurst sein, das optisch bestimmte Grundvoraussetzungen erfüllt: längliche, gedrungene Form, zwei abgerundete, stumpfe Enden. Zum Beispiel: Finger. Hunde (speziell Dackel, sogenannte wiener dogs). Menschliche Exkremente (Sie wissen schon). Hardcore-Inhaltstheoretikerinnen sprechen sogar von der „Zahnpasta-Wurst“ auf der Zahnbürste, aber da wird es schon sehr speziell.

In der verwursteten Gemengelage besonders interessant: Niemand Geringeres als Konrad Adenauer hat die Sojawurst erfunden. Kein Witz. Der kulinarisch ultraprogressive Konservative, dessen Leibspeise Sauerampfersuppe war, ließ sich vor mehr als hundert Jahren, noch vor dem Ende des Ersten Weltkriegs, eine von ihm als „Friedenswurst“ getaufte Fleischersatzschlange patentieren. Sein „Verfahren zur Geschmacksverbesserung von eiweißreicher und fetthaltiger Pflanzenmehle und zur Herstellung von Wurst“ zeigt ihn als Pionier der Formschule.

Vielleicht ist aber das entscheidende Kriterium, das die Wurst zur Wurst macht, weder ihr Inhalt noch ihre schlussendliche Form, sondern der handwerkliche Herstellungsprozess. Während der Verwurstung verlieren die Ausgangsmaterialien (egal, welche) ihre Einzelidentitäten und ergeben ein neues Ganzes mit eigener Kategorie (Wurst).

Die Wurst als die große Gleichmacherin. Das ist doch ein versöhnlicher Schlussgedanke zu einer Diskussion, die ohnehin ein ziemlicher (Leber-)Käse ist. Leberkäse enthält schließlich weder Leber noch Käse (es sei denn, es handelt sich um die regionale Spezialität Käseleberkäse, im örtlichen Idiom auch Kasleberkas), und trotzdem beschwert sich niemand. Vom EU-Parlament geht es nun in Verhandlungen über das Gesetz mit den einzelnen Mitgliedsländern, da wird es wohl wie gewohnt wenig appetitlich zugehen. Folgendes Zitat wird übrigens Otto von Bismarck zugeschrieben: „Gesetze sind wie Würste, man sollte besser nicht dabei sein, wenn sie gemacht werden.“

Text: Bernhard Heckler; Illustration: Felix Hunger

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