Zum Sehen, zum Lesen, zum Hören

Naomi Watts schreibt ein todesmutiges Buch, „All of You“ erzählt von verpassten Chancen und wahrer Liebe, und Dwayne Johnson spielt in einem gnadenlosen Wrestling-Film. Zehn Kulturempfehlungen für ein langes Wochenende.

1. Oktober 2025

Zum Sehen

Film

„The Smashing Machine“

Im Kino

In Venedig wurde der Film bereits mit dem Silbernen Löwen ausgezeichnet. Dwayne Johnson spielt darin den ehemaligen Ringer Mark Kerr, der in den Neunzigerjahren zu einem der ersten Stars der Mixed-Martial-Arts wurde, mit Kämpfen in der Ultimate Fighting Championship, bei denen das Blut nur so spritzte. An seiner Sucht nach Schmerzmitteln wäre Kerr, heute 56 Jahre alt, fast zugrunde gegangen. Wie schmal die Grenze zwischen amerikanischem Traum und Albtraum verläuft und wie gnadenlos die Maschinerie des Massenentertainments Menschen physisch und psychisch verformen kann, hat lange kein Film mehr so eindrucksvoll gezeigt wie „The Smashing Machine“.

Serie

Slow Horses, Staffel 5

Apple TV+

In der fünften Staffel von „Slow Horses“ muss die Crew von Slough House London vor Terror aus Libyen retten. Es geht um Millionen, aber auch um Rache, nachdem britische Firmen sich reichlich an libyschem Erdöl bereichert haben: „Petrol kills. Kill petrol.“ Zudem müssen sich die Jungagenten gegenseitig bespitzeln. Und ihr Boss, Sir Gary Oldman mit langem Mantel, schmierigen Haaren und fiesen Sprüchen, behandelt sie gewohnt schlecht. Basierend auf dem Roman „London Rules“ von Mick Herron ist Slow Horses das Subversivste, was Streaming zu bieten hat.

Film

All of You

Apple TV+

Das britisch-amerikanische Liebesdrama „All of You“ erzählt von heimlichen Leidenschaften und verpassten Chancen, vom Reiz des Verbotenen und von wahrer Liebe – oder dem, was wir darunter verstehen. Laura und Simon kennen sich seit ihrer Uni-Zeit, aber zusammenfinden wollen sie einfach nicht. Es ist fast unerträglich, mit anzuschauen, wie sehr diese beiden Menschen füreinander bestimmt sind und wie konsequent sie diese Erkenntnis unterdrücken. Das liegt vor allem am perfekt gecasteten Hauptdarstellerpaar Imogen Poots und Brett Goldstein. Mit den beiden steht und fällt dieser ruhig erzählte Liebesfilm; man sieht ihnen gerne dabei zu, wie sie lieben und leiden, wie sie keinen Ausweg aus ihrer misslichen Lage finden. Der Film wirkt wie die Fortsetzung der futuristischen Dating-Serie Soulmates und seines Mantras: „Du verdienst es, geliebt zu werden“. 

Film

Amrum

Im Kino

Fatih Akins neuer Film „Amrum“ basiert auf den Erinnerungen von Hark Bohm, geboren 1939, der zusammen mit Akin das Drehbuch geschrieben hat. „Amrum“ erzählt von den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs. Nanning (Jasper Billerbeck)ist des Krieges wegen mit seiner Mutter auf die Nordseeinsel gekommen. Bald irrt er über die Insel, um seiner hochschwangeren Mutter Weißbrot, Butter und Honig zu besorgen. Keine leichte Aufgabe im zerstörten Deutschland von 1945. Im Prinzip ist „Amrum“ ein Coming-of-Age-Film und erzählt nicht klar und distanziert vom Nationalsozialismus, sondern in Zwischentönen und Unsicherheiten.

Zum Lesen

Roman

All The Way to The River

Elizabeth Gilbert

Elizabeth Gilbert, Autorin des Weltbestsellers „Eat, Pray, Love“, erzählt in ihrem neuen Buch „All The Way to The River“ von ihrer Liebe zu ihrer krebskranken Freundin Rayya Elias, gemeinsamem Drogenkonsum und deren Tod. Es ist eine wahre Geschichte, wie man sie in solcher Intensität und Ehrlichkeit selten erzählt bekommt. Aber man weiß nicht genau, wen die Autorin damit erreichen will, auch ihre Haltung wirkt unentschlossen. Legt man all diese Beobachtungen jedoch übereinander, die für sich genommen nicht gerade einen literarischen Hochgenuss darstellen, passiert etwas Erstaunliches: Es entsteht eine Textform, die es so in Buchform vermutlich noch nicht gegeben hat. Ein einseitiges Auto-Psychogramm ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder künstlerische Einheitlichkeit, ein Text wie ein Instagram-Feed, als Mischung aus Selbstgespräch und Therapieseminar.

Roman

Republik der Irren

Dirk Stermann

Dirk Stermann verarbeitet in seinem Roman „Die Republik der Irren“ die Geschichte der Futuristen-Republik Fiume vor 100 Jahren und schafft damit eine kuriose Parabel auf die Gegenwart. Der Dichter Gabriele D'Annunzio führte nach dem Ersten Weltkrieg Freischärler in das heutige Rijeka und machte die Stadt zu einem anarchischen Labor. Das historische Experiment D'Annunzios dauerte nur etwa 500 Tage, bis Italien das Schlachtschiff Andrea Doria schickte und den Spuk beendete – doch zwei Jahre später übernahm ein früherer Verbündeter des selbsternannten Comandante die Macht in Rom: Bennito Mussolini. Und in Italien regierte bald der Faschismus.

Sachbuch

Jetzt schon?

Naomi Watts

Es gibt viele Gründe, skeptisch zu reagieren auf die Tatsache, dass Hollywood-Schauspielerin Naomi Watts jetzt auch noch ein Buch über Menopause geschrieben hat. Und dafür sogar die Heldinnentat des Tabubruchs für sich in Anspruch nimmt. Und doch ist „Jetzt schon?" todesmutig. Maßt sich die Schauspielerin doch wahrhaftig an, Studien zu lesen und mit Ärztinnen und Experten zu sprechen, die sie für vertrauenswürdig hält. An einer Stelle bekennt sie: „Mein Bauch ist so runzlig, dass er an eine zerknüllte, am Straßenrand herumliegende Papiertüte erinnert.“ Das ist beeindruckend. Watts betrachtet ihren eigenen Körper zwischen Erschrecken und Erbarmen, erzählt von dünner werdenden Haaren, fleckiger Haut, Inkontinenz, schwer abzupulenden Hormonpflastern, Problemen beim Sex. Sie legt sich de facto auf den gynäkologischen Stuhl und lässt uns alle dabei zusehen. Ob man „Jetzt schon?“ deshalb wirklich lesen will, ist da fast schon egal. Es ist gut, dass dieses Buch geschrieben wurde, im Jahr 2025, von keiner Geringeren als ihr. Und sei es nur als Signal, dass wir als Gesellschaft in den vergangenen 20 Jahren vorangekommen sind, wenigstens in dieser Hinsicht.

Roman

„Die Wut ist ein heller Stern“

Anja Kampmann

Die Schriftstellerin Anja Kampmann begleitet in ihrem Roman „Die Wut ist ein heller Stern“ die Erzählerin Hedda Möller durch die Jahre 1933 bis 1937, ein Spießrutenlauf, denn Frauen wie sie, „moralisch verkommen“, warten nur darauf, eines Tages abgeholt zu werden. Anja Kampmann wickelt ihre Geschichte in eine ganz eigene Sprache, eine Melodie, bestehend aus Fragmenten, kurzen Szenen, die im Außen und in Heddas Innen spielen und die sich mal schleichend, mal im Galopp zusammenfügen. Erzählen auf kleinem Raum, so nennt es die Autorin selbst.

Zum Hören

Podcast

Azizam – Die Revolution meiner Mama

ARD Audiothek

Journalistin Aida Amini erzählt im Podcast „Azizam“ die Geschichte ihrer Mutter, die 1995 von Iran nach Deutschland ausgewandert ist. Der Podcast thematisiert, wie sich das westliche Iran-Bild von Hoffnung nach den Protesten 2022 wieder zum negativen Feindbild gewandelt hat. Und Gefühle von Schuld und Scham ziehen sich durch alle Folgen. Aminis Vater schäme sich dafür, „wie in seinem Heimatland mit den Menschen umgegangen“ werde, ihre Mutter fühle sich schuldig, „damals nicht mehr gemacht zu haben“. Amini hinterfragt journalistische Neutralität und kommt zum Schluss, dass ihre Existenz als Frau mit Migrationshintergrund bereits politisch ist.

Hörspiel

„Imiona nurtu. Die Namen der Strömung“

Ab 3. Oktober in der ARD Audiothek

Kai Grehn hat das Hörspiel „Imiona nurtu. Die Namen der Strömung“ in der Gedenkstätte des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau aufgenommen. Das Ansinnen: das Vergessen verhindern und dem Schrecklichen dabei so nahe wie möglich kommen. Deshalb die Texte von Tadeusz Borowski, dem Augenzeugen, dem Schicksalsgenossen, niedergeschrieben noch im Zustand des unmittelbar Erlebten. Nicht bereits vielfach reflektierte Erinnerung, sondern noch sprachlos nach einer Sprache suchend. Der Schauspieler Alexander Fehling liest die sensiblen Texte, aus denen in unterschiedlichen Gewichtungen Verzweiflung, Wut, Resignation, Zynismus und, ja, auch Trost sprechen. Fehlings Stimme ist zart, dennoch präsent und klar. Als Gattungsbezeichnung hat Grehn gewählt: ein Hörspiel-Oratorium. Eine sakrale Form in unseren zunehmend agnostischen Zeiten.

Text: Carolin Gasteiger; Illustration: Sead Mujić; Editorial Design: Katharina Wutta

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